Vor mir ein langer Weg
In Ungarn, in der Nähe von Stuhlweißenburg, liegt ein kleines Dorf: Gant. Das war für mich der schönste Ort der Welt. Denn es war meine Heimat. Hier bin ich 1929 geboren und zusammen mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Meine Eltern hatten ein wenig Landwirtschaft und einen Weinberg und viele Obstbäume. Meine Brüder arbeiteten im Bergwerk. Unser Vater ging im Winter in den Wald zum Holzmachen und die Mutter hat zu Hause genäht und Wolle und Hanf gesponnen. Ich verbrachte eine glückliche, recht unbeschwerte Kindheit. Doch dann kam der Krieg immer näher.
Ungarn, Tschechien, Deutschland
Meine Brüder Heinrich und Matthias mussten einrücken. Matthias war schon seit 1942 bei Stalingrad verschollen. Später musste auch der Anton fort, und schließlich auch unser Vater. Doch er kam nach vier Monaten wieder zurück: Er war zu alt. Im Lauf des Sommers 1944 kamen immer mehr Flüchtlinge aus der Batschka („Donauschwaben“), die nach Deutschland wollten. Im November hörte man öfter, dass bald die Russen kommen würden. Und ein deutscher Offizier bestätigte es uns. Wir sollten fortgehen, meinte er. Unser Vater war nach 1914 fünf Jahre lang in russischer Kriegsgefangenschaft. Er wollte nicht länger bleiben, denn er hatte Angst vor den Russen.
Am 6. Dezember machte der Gemeindediener bekannt: „Jeder, der weg will, der kann am 8. Dezember gehen.“ Am nächsten Tag haben wir das Nötigste zusammengepackt: unsere Kleider, etwas Geschirr, etwas Mehl, Kartoffeln und Fleisch und die Hühner. Tags darauf ging es früh um fünf zum Bahnhof. Alles wurde in einen Waggon verladen und wir fuhren nach Bodajk, ein Wallfahrtsort, und von dort aus in die von den Deutschen besetzte Tschechei. Das Schlimmste war der Fliegeralarm: Immer wieder hielt der Zug plötzlich an und wir mussten alle schleunigst raus, uns im Wald verstecken oder auf dem Boden in der Nähe des Zuges. Nach mehrmaligem Umladen kamen wir nach zwei Wochen in Zergewits an, wo wir aber auch Ende Januar wieder fort mussten.
Unterkunft auf Zeit
Ich kam schließlich nach Ellwangen, allerdings ohne meine Eltern. Mit zwölf anderen Mädchen aus Gant wurde uns ein Haus und eine Führerin zugeteilt, die uns auch Unterricht in Deutsch und Geschichte gab. Wir hatten drei Zimmer zum Schlafen, eine Küche, einen Unterrichtsraum, ein Büro und einen Waschraum, sogar ein Schuhputzzimmer. Eigentlich war es dort ganz schön. Anfang April verkündete uns unsere Führerin Margarethe, ein richtiger Nazi-Feldwebel: „Ihr dürft jetzt heim!“ Aber wohin denn? Wir hatten keine Ahnung, wo unsere Eltern waren. Post hatten wir schon lange keine mehr bekommen. Unsere Führerin machte sich einfach aus dem Staub. Wahrscheinlich war es ihr egal, was mit uns passierte. Einen, vielleicht zwei Tage, ich weiß nicht mehr wie lange, liefen wir ziellos in Ellwangen herum ohne zu wissen, was wir nun anfangen sollten.
Höhen und Tiefen
Über Zwischenstationen in Memmingen und München landeten wir in Schaftlach (Oberbayern). Je nach Platz und Bedarf wurden wir bei den Bauern verteilt. Zwar wollte nicht jeder Flüchtinge in seinem Haus haben, aber wer sich weigerte, obwohl sein Haus groß genug war, wurde einfach gezwungen, welche aufzunehmen. Denn schließlich mussten sie – wir – ja irgendwo untergebracht werden. Schaftlach war für mich wieder nur eine Zwischenstation, bald kam ich nach Piesenkam. Eines Abends im Sommer 1946 brannte plötzlich ein Haus in der Nachbarschaft. Die Leute sagten: „Das war bestimmt ein Hausierer!“ – Oder: „Es könnte auch ein Flüchtling gewesen sein.“ Acht Tage später brannte es schon wieder. Vier oder fünf Mal ging das so. Die Leute waren schon ganz ängstlich. Es war ja auch merkwürdig: Immer war es derselbe Mann, der das Feuer als erster bemerkte, jedes Mal sein Leben riskierte und in den Häusern arbeitete wie verrückt, um noch dies oder jenes zu retten. Am Ende stellte sich heraus, dass es nicht die Hausierer und auch nicht die ungarischen Flüchtlinge gewesen waren, die die Häuser anzündeten, sondern genau dieser junge Mann aus Piesenkam.
Manchmal sind wir zum Tanzen gegangen – das waren schöne Zeiten. Und die meisten Leute im Dorf waren auch höflich und gut zu uns. Es gab aber auch welche, die die Flüchtlinge überhaupt nicht wollten. Manche haben sogar ihre Gänse in die Stube getan, damit dort keine Flüchtlinge einquartiert wurden... Und so verging der Sommer und ich wusste immer noch nichts von meinen Eltern und hatte immer mehr Heimweh nach Gant.
Wiedersehen mit den Eltern
Endlich hörte ich, dass meine Eltern in einem Ort namens Oberscheinfeld seien. Nach einer Zugfahrt, bei der ich vor lauter Aufregung das Aussteigen und auch den Ort der Bahnstation (Markt Bibart) vergessen hatte und schließlich in Hessen gelandet war, kam ich endlich an. Ich konnte meine Mutter umarmen – und war glücklich. Wir lebten im Saal eines Gasthauses, in dem fünf Familien untergebracht waren.
Wenig später hatte ich Glück und bekam Arbeit bei einem Bauern. Ich willigte ein unter der Bedingung, dass auch meine Eltern bei ihm wohnen könnten. Die hausten zusammen in einem Zimmer in einem kleinen Häuschen. Zum Glück gab es auch Leute, die zu den Flüchtlingen gut und hilfsbereit waren und die für sie auch einmal Kleider Geschirr oder einen Laib Brot übrig hatten. Ich hatte auch gute Freundinnen, die es bis heute geblieben sind.
Verbotene Liebe
1951 lernte ich meinen Mann kennen. Doch die Sache hatte einen Haken, denn ein Flüchtling und ein Einheimischer, das war immer eine schwierige Sache. Bei den meisten haben es die Eltern nicht geduldet, denn die Flüchtlinge hatten ja nichts. Aber es machte uns nichts aus, denn wir liebten uns, und es war eine schöne Zeit. Wir machten gemeinsame Ausflüge mit der katholischen Jugend und gingen auch viel zum Tanzen. Meine Mutter warnte mich öfter und sagte: „Das tut kein Gut, die wollen dich ja doch nicht.“ – Doch auf einmal wurde ich schwanger. Da wollten wir heiraten, aber seine Eltern waren dagegen. Und so verging die Zeit, bis ich 1954 entband. Und es waren zwei Buben, obwohl doch für die Eltern meines Mannes schon ein Kind zu viel war! Aber ich war ganz glücklich und stolz auf meine Buben. Ganz so einfach war es für mich freilich nicht, denn ich musste ja trotzdem arbeiten. Und was man sich im Dorf alles so anhören musste, das war auch nicht immer leicht. Es gab sogar Leute, die wollten unsere Kinder adoptieren.
Hochzeit im Schnellverfahren
1955 haben wir dann geheiratet. Das war so eine Sache: Mein Schwiegervater kam mit dem Taxi angefahren, das Taxi hat gehupt und wir – mein Vater, mein Mann und ich (meine Mutter musste ja bei den Kindern bleiben) – kamen heraus und stiegen ein. Dann ging es zum Kloster Schwarzenberg. Dort wurden wir getraut und dann ging es wieder heim. Wir drei stiegen wieder aus, und das Taxi fuhr mit meinem Schwiegervater weiter. Ich habe uns etwas Gutes gekocht und dann haben wir mit unseren zwei Kindern und meinen Eltern bei Kalbsbraten und Gebäck gefeiert. Das war unsere Hochzeit! Und nach ein paar Tagen erzählte mir die Nachbarin, sie habe geweint, als sie gesehen habe, wie ich mit dem Taxi abgeholt wurde: „Das gibt es doch gar nicht! Das kann man ja gar nicht glauben!“ Aber es ist wahr.
Und so vergingen die Jahre und wir bekamen sechs Kinder, vier Buben und zwei Mädchen. 1966 übernahm mein Mann das elterliche Anwesen, die Dorfschmiede und eine kleine Landwirtschaft. Im Sommer 1976 machte ich mit meinem Mann und meinem Sohn Heinrich Urlaub: Nach 32 Jahren fuhr ich für ein paar Tage in meine Heimat nach Gant. Als wir auf das Dorf zufuhren, kamen mir vor Freude die Tränen. Heimat!