Wahre Liebe wartet
Keuschheit ist eine Tugendhaltung, die nicht gerade im Trend liegt. Wer se-xuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe propagiert, wird als vorgestrig und prüde belächelt. Ist die reine Lust ein wesentliches Leitmotiv der modernen Paarbildung? Gerade von jungen Menschen geht eine Gegenbewegung aus: Sie haben erkannt, dass echte Liebe nur durch Zeit, Selbstbeherrschung und Ach-tung des Anderen wachsen kann - Liebe im Sinne des Schöpfers.
Ich spreche mit Lisa darüber, wie Jugendliche heute Keuschheit und voreheliche Enthaltsamkeit werten. Nach einigem Überlegen sagt sie: Die verbreitete Meinung ist: Je früher du einen Freund hast und je mehr du schon hattest, desto mehr bist du “in“. Liebe wird mit Sex gleichgesetzt. Du lernst jemanden kennen, magst ihn ein bisschen und gleich erwartet er von dir, dass du mit ihm schläfst. Solche Beziehungen sind heutzutage häufig. Meist zerbrechen sie wieder.“ – “Und was hältst du davon?“, frage ich. - “Ich finde, dass eine echte Beziehung erst einmal in der Liebe wachsen und reifen sollte“, meint Lisa. “Doch gegen das weil alle es tun, also gegen den Gruppenzwang, kommt man kaum an.“
Wer eine Lebenshaltung verteidigt, in der Keuschheit einen zentralen Wert darstellt, setzt sich schnell einem Verdacht aus: Entweder “lebt er im Mittelalter“, oder er will seine Gesprächspartner auf den Arm neh-men. Reaktionen sind ungläubiges Lächeln, spöttisches Grinsen, peinliche Gesprächspause oder aggressiver Protest. Woher kommt es, dass der Wert eines keuschen Lebens im gesellschaftlichen Bewusstsein heute als Zeichen für ein verklemmtes Außenseiterdasein gilt?
Antiquierte Haltung? Jahrzehnte lang ist in Medien, Werbung, Jugendarbeit und Schule die “befreiende Erkenntnis“ verbreitet worden, dass Sex in allen Formen und in jedem Alter Vorausbedingung für erfüllende Lebenserfahrung ist. Daher sei ausnahmslos für jedermann und jedefrau (und jedes Kind?) ausgiebige sexuelle Betätigung und erotische Verwirklichung so notwendig wie Atmen, Essen, Trinken und Schlafen. Da muss es jedem einleuchten, dass Enthaltsamkeit und Keuschheit antiquiert und sinnwidrig sind. Logische Konsequenz: in weiten Kreisen unserer westlichen Gesellschaften hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Verbraucherhaltung entwickelt, bei der die Spaßmoral einen freizügigen und tabulosen Gebrauch jeglicher Lustbefriedigung rechtfertigt.
Der Begriff “keusch“ (“mäßig; “rein“) bezieht sich nicht ausschließlich auf Sexualität, sondern bezeichnet übergreifend eine charakterliche Haltung: Selbstbeherrschung in Bezug auf Begehrlichkeit, Mäßigung im Lebensvollzug, Achtung vor der Unversehrtheit des Anderen. So verstanden wirkt Keuschheit im Sinne von Selbstbeherrschung und Reinheit auch in vielen anderen Verhaltensbereichen. Sie ist die innere Schönheit des Menschen.
Allerdings sagt der Umgang mit Sexualität etwas ganz Wesentliches hinsichtlich der Charakterhaltung der Keuschheit aus. Daher wurde ein keusches Leben im Sinne eines schöpfungsorientierten Umgangs mit der Geschlechtlichkeit schon immer vorwiegend als Bemühen um die Sinnausrichtung sexueller Enthaltsamkeit innerhalb einer religiös fundierten Ordnung verstanden. In der christlichen Überlieferung ist Keuschheit eine Tugend, die im 6. und 9. Gebot ausdrücklich gefordert wird. Sie soll Menschen in allen Lebensständen aus-zeichnen: Die einen, welche im Stand der Jungfräulichkeit oder in gottgeweihter Ehelosigkeit leben, verwirklichen eine “hervorragende Weise, sich leichter mit ungeteiltem Herzen allein Gott hinzugeben“. Alle anderen, verheiratet oder un-verheiratet, leben in der vom Sittengesetz bestimmten Weise keusch: Verheiratete “sind berufen, in ehelicher Keuschheit zu leben“, Unverheiratete “leben keusch, wenn sie enthaltsam sind“ (Vgl.: KKK 2349).
Wozu heiraten? “Warum sehen viele Sex außerhalb der Ehe oder freies Zu-sammenleben heute als normal an?“, fragte ich junge Menschen. Darauf erhielt ich zum Beispiel folgende Antworten: Wozu heiraten? Wir wissen, dass wir uns lieben, und so lange bleiben wir zusammen. - Wie soll man sich sonst richtig kennen lernen? - Wenn ein Junge und ein Mädchen miteinander gehen, gehört es dazu, dass sie miteinander schlafen. - Sex braucht man, aber keinen Beziehungsstress. Solche und ähnliche Begründungen werden wenig hinter-fragt. Meist wird die Problematik dieses Verhaltens gar nicht erkannt. Oft überdeckt naive Sorglosigkeit die Auseinandersetzung mit möglichen negativen Fol-gen. Dessen ungeachtet wächst heute die Zahl derer, die ehrlich im Sinn haben, sich treu zu bleiben und einmal zu heiraten. Doch gelingt das auch?
Zunehmend begegne ich in letzter Zeit auch Ju-gendlichen, welche die negativen Folgen in der Werteverschiebung von Sexualität und Keuschheit verurteilen. Kaum einer macht sich über wahre Liebe noch richtig Gedanken“, sagt Martin. “Man kennt sich kurze Zeit, aber nicht genug, weil Sex im Vordergrund steht; und kaum Gelegenheit bleibt, Gefühle und Charakter des Anderen tiefer kennen zu lernen. - “Viele suchen heute nur den eigenen Spaß im Sex“, ergänzt Gabi. “Wirkliche Liebe aber erfordert Hingabe, Be-herrschung. Das kostet Kraft und Mühe und ist viel zeit- und gefühlsaufwendiger. Doch jeder denkt eben nur an sich. – Ariane fügt hinzu: Jeder will heute den Superpartner wie aus dem Fernsehen. So bleibt man ständig auf der Suche nach der Traumfrau oder dem Traummann - und wechselt von einem zum andern die sexuellen Beziehungen.
Spaß mit Liebe verwechselt. Wie gründlich Menschen heute hinsichtlich des wahren Sinnes ihrer Sexualität getäuscht werden, macht besorgt: Im sexuellen Umgang miteinander sind Tabus abgeschafft. Körperliche Sexualität (Sex) wird abgespalten von der Integration in das Geistige, Psychische und in die religiöse Sinnorientierung. Daher verkümmert das Erleben echter Liebe, welche alle Persönlich-keitsschichten durchdringen muss. In Medien und Umwelt vorgegebenes Verhalten verführt zur Nachahmung. Schamlosigkeit, Verrohung und Perversion haben Modellwirkung und gelten schon als normal. Die Begründung “das macht man heute eben so“ ist nichts anderes als die Legitimation für ungeordnetes Ver-langen und unbeherrschtes Genießen geschlechtlicher Lust, die “um ihrer selbst willen angestrebt und dabei von ihrer inneren Hinordnung auf Weitergabe des Lebens und auf liebende Vereinigung losgelöst wird“ (KKK 2351).
Absurdes Hindernis? Da erscheint Keuschheit als absurdes Hindernis. Wie wirkt sich dies auf Kinder aus? Sie werden durch solche, die Sexualität abwertende und verzerrende, Beeinflussung überfordert und verängstigt. Ihre Phantasie wird durch Entschämung vergiftet. Psychisch belastende Verführung nimmt zu. Als Ergebnis negativer Vorprägung in Jahren der Kindheit und Jugend häufen sich im Erwachsenenalter dann Erlebensdefizite und mangelt es an den Fähigkeiten, die zu partnerschaftlicher Liebe nötig sind.
Unsere Zeit erlebt eine in dieser Breitenwirkung noch nie da gewesene Dominanz des sexuellen Denkens und Verhaltens, welche beinahe Züge einer beginnenden sexuellen Geisteskrankheit annimmt: Plumpe Anmache am Arbeitsplatz, Unzucht, Ehebruch, Pornographie in Fernsehkanälen, nackte Körperpartien im Blickfang der Werbung und live auf der Straße, Potenz-Stimulanzien, Sextourismus, ...Wer nimmt noch den von Gott vorgegebenen Schöpfungssinn der Sexualität ernst? Eine meiner Studentinnen beklagte sich kürzlich: “Unsere Elterngeneration zeigt in Werbung, Mode, Fernsehen und Karriereverhalten, dass sie Sex für einen Leitwert hält. Alle leben nur für das Eine. Sie machen uns Sex als Menschenrecht mit unverzichtbarem Lustgenuss vor, losgelöst von jedwedem anderen anthropologischen Sinn, etwa dem Entste-hen eines Kindes. Das würde hierbei stören, sagen sie. Daher zerbrechen sie sich auch den Kopf über die Wahl des besten Verhütungsmittels. Befruchtung und Schwangerschaft werden verhütet, abgespalten und - falls doch ‘etwas passiert‘ – bereinigt.“
Geschöpf Gottes. Zwei verschiedene Auffassungen vom Ursprung des Men-schen beeinflussen die Sinnwertung der Sexualität: Ergebnis eines Zufallspro-zesses materialistisch begründeter Evolution oder Geschöpf Gottes, äußerst sinnvoll geplant und liebevoll ausgestattet. Beide Auffassungen widersprechen einander im Grundsätzlichen. Nun, der Sinn des Daseins ist zunächst Hinordnung auf ein ewiges Endziel und die Vollendung bei Gott. Ohne den festen Glauben an den Schöpfer allen Seins ist die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der dem Menschen überantworteten Sexualität, damit auch der Keuschheit und ihrer Wertung, von der Beliebigkeit des Zeitgeistes und sich ständig än-dernder soziologischer Befunde abhängig.
Der umfassende Sinn. Viele Menschen fallen infolge Missbrauchs (oft gepaart mit Unkenntnis) oder Fehleinschätzung ihrer Sexualität in schwere psycho-physische Krankheiten. Bei zu starker Verletzung ihrer personalen Würde zer-brechen sie daran. Es ist ebenso irreführend wie primitiv, Sexualität allein auf körperliche Reize zu reduzieren. Dennoch erleben wir tagtäglich nichts anderes. In Wirklichkeit ist dies eine platte Verkümmerung und Pervertierung des schöpfungsgewollten Sinnwertes menschlicher Sexualität. Diese umfasst und prägt (unsichtbar) tiefste Schichten und Bereiche der Persönlichkeit: körperlich, psychisch, geistig und transzendent. Soll Sexualität umfassend verwirklicht und erlebt werden, müssen alle diese Bereiche harmonisch ineinander greifen, wobei die geschlechtsspezifische Prägung sowie individuelle Einmaligkeit jedes Menschen eine Rolle spielen. Eine Lebenshaltung der Keuschheit soll hierfür Schutz und Erfüllung bereithalten.
Reißfestes Band. Sex außerhalb der Ehe missachtet drei ihrer unerlässlichen Pfeiler, die durch Keuschheit stabilisiert werden sollen: Bedingungslose Bindung aneinander, gegenseitiges Schenken der Fruchtbarkeit und Einklang von Ehe und Familie mit Gottes Schöpfungssinn und Liebe. Die Katholische Kirche hält sich konsequent an Gottes Wort, wenn sie sagt: “Außereheliches Zusammenleben ist nicht in Einklang zu bringen mit dem Plan Gottes, Sinn und Kraft der Sexualität im Liebesbund der Ehe zu verwirklichen. Außereheliche körperliche Vereinigung verstößt gegen das moralische Gesetz“ (KKK 2390).
Weitgehend unbekannt ist, dass hormonelle Vorgänge und stark emotionales Betroffensein eine persönliche Bindungs-Prägung an den ersten Partner formen. Auch bei späteren sexuellen Kontakten schwingt diese Erle-bensqualität in Schichten des Unterbewusstseins immer wieder mit. Vollzieht sich das erste Mal außerehelich, fehlt die Einbettung in einen ethischen und religiös-geistig abgesicherten Schutzraum, der dauerhafte Geborgenheit vermittelt.
Bei häufigerem außerehelichem Partnerwechsel entstehen jedes Mal wie-derum andere partnerspezifische Bindungen. Vorhergehendes Bindungserleben wird überlagert. Die ursprüngliche Prägung des ersten Males ist meist nicht mehr völlig ungeschehen zu machen. “Ist das so wichtig?“, werde ich oft ge-fragt. Nun, welchen Sinn hat diese Prägung? Sie soll Ehepaare eng aneinander binden, gewissermaßen zusammenschweißen. Eben diese Bindung meint Genesis 2, 24: Mann und Frau sollen “ein Fleisch werden“. Ein solches Band soll auf lange Sicht gesehen sogar noch in Krisensituationen reißfest sein. Bei voreheli-cher Fremdprägung ist dieses Band aufgefasert, reißgefährdeter und die Wahrscheinlichkeit einer Trennung höher. Trennungen aber hinterlassen schmerzende Wunden, bei den Partnern selbst, vor allem bei vorhandenen Kindern. Schuldge-fühle und tiefenpsychische Verletzungen stellen sich ein.
Drum prüfe... Selbstverständlich möchte sich jeder möglichst sicher sein, dass der zukünftiger Ehepartner auch die beste Wahl für ihn ist. Sich gegenseitig kennen lernen und prüfen ist daher wichtig, bevor das Ja-Wort fürs Leben gege-ben wird. Doch es ist kein stichhaltiges Argument für die Ablehnung vorehelicher Keuschheit, wenn man gleich (in der falschen Reihenfolge) mit körperlichem Sex beginnt. “Was die Mehrheit macht“ ist kein Beweis für die Richtigkeit für solches Tun. Infolge der sehr rasch und intensiv entstehenden biologisch-körperlichen Bindungskräfte, ist das Paar nicht mehr frei zum echten Kennenlernen der noch wichtigeren anderen (seelisch-geistig-religiösen) Charakter- und Persönlichkeitsmerkmale. Die dann dominierenden intensiven sexuellen Erlebnisse vernebeln den Blick für eine objektive Prüfung. Vorehelicher Sex macht alles andere als cool. Er macht blind.
In fast allen Kulturen gibt es seit Menschengedenken eine Verlobungszeit bei keuscher Abstinenz. Das war auch bei uns noch bis vor einiger Zeit gute Sitte. Hat während des vorläufigen Eheversprechens die Partnerschaft sich als nicht tragfähig erwiesen, fand zumindest keine elementare körperliche Prägung statt. Diese blieb aus gutem Grund dem richtigen Ehepartner vorbehalten.
Wahre Liebe ist mehr als verliebt sein. Um eine klare Sicht für die Zukunft zu erhalten, muss gegenseitige Liebe erst reifen können. Dies wird durch vorehelichen Sex kurzgeschlossen. Daher ist auch unverheiratetes eheähnliches Zusammenleben keine Hilfe, die wirkliche Liebe des Partners zu erfahren, hingegen nicht selten ein Irrweg. Statistiken besagen: Jene Personen, die vorehelich zusammenleben, tendieren mehrheitlich dazu, Abwechslung, Experimentieren und offene Lebensformen einer Ehe vorzuziehen.
Was hat das Wohl eines Kindes mit Keuschheit zu tun? Als Psychologe weiß ich aus langjähriger Erfahrung: Viele Nöte von Kindern haben ihre Wurzeln in zer-brochenen Ehen ihrer Eltern. Kinder benötigen für ihre gesunde Entwicklung eine Nestwärme des Urvertrauens, die ihnen Liebe, Geborgenheit, Wertschätzung und Zuwendung zukommen lässt und existenzielle Sicherheit schenkt. Nach Gottes Schöpfungsplan gründet diese Aufgabe in der Familie. Sie ist das Zuhause des Herzens.
Hochzeitsgeschenk. Die durch Keuschheit gestärkte Kraft der Bindungsfähigkeit möchte ich als unschätzbar wertvolles persönliches Hochzeitsgeschenk bezeichnen. Die Überwindung von Krisen, Problemen und Notsituationen in der Ehe erfordert ein starkes Band des Zusammenhaltens. Dieses Band ist stärker, je unverbrauchter die Bindungskraft von beiden Partnern als Hochzeitsgeschenk in die Ehe gebracht und gemeinsam in Gott verankert wurde. Ist das Band bereits aufgefasert, besteht die Gefahr eines leichteren Zerreißens ehelicher Bindung. Beim Scheitern der Ehe verlieren vorhandene Kinder ihren wichtigen Schutzraum der Geborgenheit. Von dieser Erkenntnis her ist die Haltung der Keuschheit keineswegs mittelalterliche Prüderie, sondern die nicht zu unterschätzende und wesentliche Vorsorge-Entscheidung für ein bestmögliches Gelingen von Ehe und Familie.