Wahrheit - Waffe des lächelnden Volkes
Poetisch klingen die Namen, mit denen Tibet immer wieder bezeichnet wird: Dach der Welt, Schneeland. Wenig romantisch dagegen die Buchtitel, die sich mit der Lage in diesem Land beschäftigen: Tränen über Tibet, Tibet in Flammen, Tibet klagt an, Tibet - ein vergewaltigtes Land. Dach der Welt. Die tibetische Hochebene erstreckt sich über eine Fläche von über zwei Millionen km2 auf einer durchschnittlichen Höhe von weit über 4.000 m. In dieser Gegend nördlich des Himalaya lebten und leben Menschen unter besonders schwierigen Bedingungen, isoliert und arm, aber lebensfroh und vor allem tieffromm. Die Tibeter sind zum aller größten Teil Buddhisten. Eine wichtige Rolle im tibetischen Buddhismus spielen einerseits Meditation und Rituale, Orakel und ähnliches, andererseits die Lamas, das heißt religiöse Lehrer und Führer, die sich besonders tiefe Einsichten erworben haben. Religiöses und geistliches Oberhaupt ist der Dalai Lama (übersetzt: Der Lehrer, dessen Wissen/Mitgefühl so groß ist, wie der Ozean), der als Wiedergeburt des Buddhas des Mitgefühls gilt. Der heutige Dalai Lama (geb. 1935) wird schon seit seiner Kindheit als die 14. Inkarnation betrachtet. Glaube, Humor und Individualität - mit diesen drei Begriffen bezeichnet der Dalai Lama in einem Buch die wesentlichen Eigenschaften seines Volkes. Reisende fügen noch die große Freundlichkeit hinzu. Bis in unser Jahrhundert hinein lebte etwa ein Viertel der männlichen Bevölkerung zölibatär als Mönche. Klöster waren die kulturellen Zentren des Landes. Die übrige Bevölkerung lebte vor allem von Landwirtschaft, Handwerk und als Nomaden. Kontakt zu anderen Völkern gab es kaum in dieser Berglandschaft. In den letzten 2000 Jahren war Tibet nur zweimal unter Fremdherrschaft gefallen, nämlich im 13. Jahrhundert (Mongolen) und im 17. Jahrhundert (Mandschu-Dynastie). In beiden Fällen war aber die einzigartige Kultur des Landes nicht berührt worden. Dies sollte sich in unserem Jahrhundert ändern. Chinesische Besatzung. Ein Jahr nach der kommunistischen Revolution in China unter Mao Zedong marschierten chinesische Truppen 1950 in Tibet ein. Offiziell hieß es, China wolle die Tibeter befreien, vom Feudalsystem, von der Rückständigkeit und der herrschenden Klasse. Die tibetische Regierung hoffte zunächst auf ein friedliches Ende des Zustandes und trat in Verhandlungen. Doch die Situation im Land wurde immer schwieriger: Die Chinesen vernichteten heilige Orte und Gegenstände und ermordeten viele Kritiker. Der Unmut der Bevölkerung wuchs. Kleine Aufstände gegen die Chinesen begannen. Viele Mönche lösten sich von ihrem Gelübde der Gewaltlosigkeit. Die Bewegung erreichte ihren Höhepunkt im März 1959 und wurde dann niedergeschlagen, denn die technische Ausrüstung der chinesischen Besatzer war der Zahl der tibetischen Guerilla-Kämpfer weit überlegen. Schweren Herzens beschloß der gerade einmal 24jährige Dalai Lama, nach Indien zu fliehen und seinem Volk von dort aus zu dienen. Blutige Folgen hatte der Aufstand. Die Chinesen griffen hart durch: Die meisten der mehreren tausend Klöster wurden zerstört, zehntausende Menschen wurden inhaftiert, gefoltert und getötet. Zwangsarbeit wurde eingeführt, die Umwelt ausgebeutet. Die Landwirtschaft wurde umgestellt und mußte für China produzieren. In den folgenden Jahren sind 1,2 Millionen der 5 bis 6 Millionen Tibeter durch Gewalt oder Hunger umgekommen. Viele andere folgten dem Dalai Lama ins indische Exil, wo sie sich bemühten, ihre Kultur aufrechtzuerhalten. Dies alles geschah weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit, die sich für das entlegene Land nicht interessierte und keine Unstimmigkeit mit China riskieren wollte. Dies änderte sich erst Ende der 80er Jahre, als Bilder von einem neuen Aufstand der Tibeter und dessen brutaler Niederschlagung durch die Chinesen in die westlichen Medien gelangten. Plötzlich fand der Freiheitskampf dieses unterdrückten Volkes Beachtung bis hin zur Verleihung des Friedensnobelpreises 1989 an den Dalai Lama, der selbst für gewaltlose Lösungen eintritt und entsprechende Pläne erarbeitet hat. Als Waffen des tibetischen Volkes nennt er immer wieder Wahrheit, Mut und Entschlossenheit. Minderheit im eigenen Land. Die heutige Lage muß folgendermaßen beschrieben werden: Der Dalai Lama lebt mit ca. zwei Millionen Tibetern im Exil. Die Forderung nach der Unabhängigkeit seines Landes hat er inzwischen relativiert und tritt seit einigen Jahren für die Autonomie und Demokratisierung der Region, die von China in mehrere Provinzen aufgeteilt worden ist, ein. In Tibet selber leben noch einmal 2,2 Millionen Tibeter. Dazu dient seit Jahren die Ansiedelung von Hunderttausenden von Chinesen.Diese werden beispielsweise dadurch geködert, daß sie hier mehr als ein Kind haben dürfen. Tibeterinnen sollen dagegen oft zu Abtreibungen gedrängt werden. So werden die Tibeter zur Minderheit im eigenen Land. In der Hauptstadt Lhasa ist dies bereits eingetroffen. Dort verliert auch die tibetische Sprache an Bedeutung. Viele junge Tibeter finden Gefallen an dem gewissen Wohlstand und dem technischen Fortschritt, der sich in den letzten Jahren eingestellt hat und kennen kaum noch die Wurzeln ihres Volkes. Wider das Vergessen. Vielleicht bringt die Erinnerung an die beiden Ereignisse vor 40 und zehn Jahren dieses unterdrückte Volk und seine besondere Kultur wieder mehr ins öffentliche Bewußtsein. In seiner Nobelpreisrede plädierte der Dalai Lama für Unterstützung und bot gleichzeitig die Hilfe Tibets in der Zukunft an: Ich weiß, daß ich im Namen der gesamten tibetischen Bevölkerung spreche, wenn ich Ihnen danke und Sie bitte, Tibet in diesem Zeitpunkt der Geschichte unseres Landes nicht zu vergessen. Ein künftig freies Tibet wird bemüht sein, den Bedürftigen in aller Welt zu helfen, die Natur zu schützen und den Frieden zu fördern. |