Was sich lohnt an der Achtsamkeit

Achtsamkeit ist mehr als Aufmerksamkeit und Konzentration. Sie umfasst den ganzen Menschen mit all seinen Sinnen, mit seiner ganzen Bewusstheit und Existenz. Sie ist ausgerichtet auf den gegenwärtigen, erlebbaren Augenblick, auf das Hier und Jetzt. Sie ve
26. Januar 2016 | von

Nachdem in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts in Amerika durch spezielle Achtsamkeitstechniken auf buddhistischer Basis erfreuliche Erfolge in der Therapie von psychisch Erkrankten verzeichnet werden konnten (Jon Kabat-Zinn), stieß die Achtsamkeitsschulung in den Medien weltweit auf Interesse und fand so auch starke Beachtung und Eingang in die wissenschaftliche Forschung. In Europa dürfte es heute keine Human-Wissenschaft mehr geben, in der nicht auf diesem Gebiet gearbeitet wird. In der Theologie haben Richard Rohr, David Steindl-Rast, Wunibald Müller und Anselm Grün wichtige Beiträge zu dieser Thematik geliefert.

 

 

 

 

Grundlage und Prinzipien

 

Grundlage der buddhistischen Achtsamkeitslehre sind zwei Lehrreden des Buddha über die Achtsamkeit beim Atmen (Anapanasati Sutta) und die vier Grundlagen der Achtsamkeit (Satipatthana Sutta): Achtsamkeit gerichtet auf den Körper, auf die Gefühle/Empfindungen, auf den Geistzustand und die Geistobjekte.

 

Die in Amerika und Europa darauf ausgerichteten Meditationsrichtungen sind zum einen die Vipassana- und die Zen-Meditation (nach streng religiöser, buddhistischer Lehre und Tradition), zum andern die von Jon Kabat Zinn kreierte MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) für therapiebedürftige Kranke und für gestresste Gesunde und ihre in den Wissenschaften entwickelten Modelle.

 

Die wesentlichen Prinzipien der Achtsamkeitsschulung sind: 

 

  • die Atemschulung. Sie erfolgt durch die Beobachtung eines regelmäßigen Atemflusses. Die richtige Körperhaltung kann dabei im Sitzen, Stehen, Liegen und Gehen eingenommen werden, wobei der zentralen vertikalen Ausrichtung der Wirbelsäule vorrangige Beachtung geschenkt wird.
  • Aufkommende Gefühle und Empfindungen werden urteilsfrei über die Sinne (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen)  wahrgenommen und verarbeitet.
  • Die Gedanken, die aufsteigen, werden als nicht ich-bezogen bewertet. Sie kommen wie eine große Welle am Strand an und verlaufen im weiten Sand, ohne sich im Denken festzusetzen.
  • Die ganze Bewusstheit ist auf den gegenwärtigen Augenblick im Hier und Jetzt ausgerichtet. Weder Erinnerungen an die Vergangenheit noch Pläne und Vorstellungen für die Zukunft besetzen das Denken und lassen den Geist von der Gegenwart abschweifen.
  • Der Übungsraum kann überall sein. MBSR folgt dem Zen und postuliert den Alltag mit seinen Pflichten und Aufgaben als das effektivste Betätigungsfeld.

 

Der Weg der Achtsamkeitsschulung

 

 

Nicht analytisches berechnendes Wahrnehmen erschließt uns die Welt, sondern das vom Herzen ausgehende, liebevolle Öffnen aller Sinne lässt uns zum Urgrund der Dinge vordringen: „Als ich mein Herz und meine Sinne öffnete / Habe ich die kleinen Wunder am Weg entdeckt, / ich habe nicht mehr auf die großen gewartet. / Nun weiß ich, das nennt man Glück.“

 

Die einzelnen Schritte sind dabei das Innehalten, das Loslassen, das Wachwerden und schließlich das urteilsfreie, liebevolle Begegnen und Handeln. 

 

Das Innehalten verlangt eine bewusste Hinwendung auf die (Alltags)-Situation oder eine Unterbrechung meiner Tätigkeit, in der ich mich nach Innen auf meine Atmung konzentriere. Dabei werde ich mir meiner Gefühle und Gedanken bewusst, die in meinem Geist aufsteigen. Ich löse mich von Zeit und Raum, bin ganz im Hier und Jetzt und erlebe den Augenblick.

 

Indem ich die Gedanken frei gebe und wie Wolken oder Wellen ziehen lasse (loslasse), öffne ich die tieferen Schichten meines Herzens für meinen augenblicklichen Lebensfluss. Das „falsche Selbst“ (Ego) mit seinen Verlockungen wird mir bewusst. Mein Geist signalisiert mir dabei eine intime Verbindung zu meinem „wahren Selbst“, zu Gott und zur Welt, von der ich ja ein Teil bin. 

 

Die regelmäßigen Achtsamkeitsübungen führen zu grundlegenden Veränderungen im personalen Bewusstsein und in der Wahrnehmung der Welt. Ich transformiere (= verändere, R. Rohr) mein Sehen, Hören, Empfinden, Denken, Urteilen und Handeln. Ich werde wach, wie es die Bibel nennt („Du musst dich selbst verlieren, um dich zu finden.“; vgl. Mt 16,25). 

 

Richard Rohr spricht von der „religiösen Bekehrung“, die sich durch die Nachahmung des liebenden Gottes niederschlägt in all unseren Begegnungen und in all unseren Handlungen durch das Wirken des Heiligen Geistes.

 

Positive Wirkungen

 

 

Dadurch, dass ich die Achtsamkeit in meinen Alltag integriere, hellt sich bald schon meine Gemütslage auf. Die dunklen Schatten ziehen sich zurück und Freude macht sich breit. Die Welt erscheint in neuer Perspektive und neuen Farben strahlender und heller als die Sonne, die nach dunkler Nacht die Erde neu belebt. Negative Empfindungen und Urteile weichen einer gewissen Gelassenheit und Ruhe den Mitmenschen und der Welt gegenüber. Man wird vom steten Kritiker zum gelassenen Zuschauer. Offenheit und Neugierde lassen uns so die kleinen Wunder am Wege unserer Lebensreise entdecken, regen uns zu Kreativität und Aktivität an und fördern unser Glück. Das Leid und die Not der Welt wecken in den tieferen Schichten der Seele Verständnis, Nachsicht und Mitempfinden mit allen Lebewesen. Die im Herzen aufsteigende, spürbare Liebe erschließt einen vertieften Zugang zu Gott, dem Schöpfer unserer Welt.

 

Zuletzt aktualisiert: 17. Oktober 2016
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