Wegbereiter der Moderne
Auf Deck, an einen Mast festgebunden, war er gefesselt mit einem Seil und zugleich gefesselt vom Toben eines infernalischen Sturmes. Nicht Ulysses oder eine andere mythologische Erscheinung ist hier der Held, sondern ein Künstler, der durch intensivste Wahrnehmung sich sozusagen dem Innersten eines Unwetters nähern wollte - um es besser malen zu können. Dies mag eine fiktive Anekdote sein, doch sie verrät uns viel über das Wesen des Joseph Mallord William Turner.
Bärbeißiger Sonderling. In der Moiden Lane 21, Covent Garden zu London wird er 1775 geboren. Er gilt als Sonderling, bärbeißig, doch dem weiblichen Geschlecht nicht so ganz abgeneigt. Der wichtigste Mensch in seinem Leben ist - bis ins Alter - sein Vater, von Berufs wegen Friseur und Perückenmacher. Dieser erkennt und fördert bereits frühzeitig das außergewöhnliche Talent seines Sohnes. Bis zu seinem Tode (William Turner war damals 54 Jahre alt) lebten die beiden Männer einträglich zusammen; der Vater managt Haushalt und Finanzen des Sohnes, versorgt ihn mit Arbeitsmaterialien und grundiert gar für ihn die Leinwände.
1798 wird Turner als Student an der Royal Academy zugelassen, einer Institution, der er sein ganzes Leben verbunden bleiben wird. Als topographischer Zeichner (Landschaften, Seestücke) trifft er den Nerv seiner Zeit, erwirbt sich Wertschätzung und ist viel auf Reisen in ganz Europa. Zwei Häuser nennt er sein Eigen und ein Privatatelier auf dem vornehmen Landsitz seines Gönners und Freundes Lord Egremont.
Tradition und Offenbarung. Alles in allem lebt Turner ohne Not und Entbehrungen, ganz im Gegensatz zu so vielen seiner (auch berühmten) Kollegen. Um 1800 widmet er sich zunehmend der Ölmalerei. Die Franzosen Lorrain und Poussin beeindrucken ihn in dieser Zeit am meisten und werden zu seinen künstlerischen Vorbildern. Gesetzte, eher biedere Malerei bestimmt die nächsten Jahre.
Turners Reise in sein vielgeliebtes Italien bringt 1819 die endgültige Wende in sein Werk. Das Licht an der Küste Venedigs wird für ihn zur künstlerischen Offenbarung. Er beginnt mit der Tradition zu brechen, Zeichnung und Inhalt der Farbe unterzuordnen. Gerade das Gegenteil wird für ihn zum Maß: Die Farbe soll nicht mehr an einen Gegenstand gebunden sein, sondern zum Inhalt selber werden. Klassische Kompositionsprinzipien und Farbordnungen werden auf den Kopf gestellt - und Turners Skizzen- und Aquarellbücher quellen über von den neuartigen Werken. In seiner Anwendung von der naturnahen Wiedergabe treten Linie und Form immer mehr zurück.
Die Suche nach der Wirkung des Lichtes, das die Dinge und die Welt um uns herum verändert, wird zum alles bestimmenden Kriterium. Turners malerische Visionen sind spontane Niederschriften eines Augenblickerlebnisses. Er nennt sie bescheiden Farbanfänge, überaus bescheiden für eine aus heutiger Sicht bildnerische Revolution. Kein anderer als Turner wird damit zum deutlichsten Vorläufer des Impressionismus (der aber wohlgemerkt noch einige Jahrzehnte auf sich warten lässt).
Wilder Romantiker. Gerade in England ist man in dieser Epoche, sowohl was Malerei als auch architektonische Leistungen anbelangt, dem europäischen Festland um Dekaden voraus. Die englische Romantik steht in ihrem Zenit. Und ein Romantiker ist dieser querköpfige William Turner trotz, oder vielleicht gerade wegen seiner wilden, bis ins Visionäre gesteigerten Bilder voller Wirkung von Licht und Atmosphäre. Ganz im Gegensatz dazu der Künstler, der unser Bild von Romantik geprägt hat, Caspar David Friedrich. Der Zeitgenosse Turners (Kontakte sind nicht bekannt, auch eher unwahrscheinlich) ist der Inbegriff des kühlen, tiefsinnigen Romantikers mit Bildern voll verinnerlichter Schwermut. Doch das nur am Rande. Schwermütig war Turner vielleicht nicht gerade, aber voller Minderwertigkeitskomplexe seiner kleinwüchsigen Statur wegen, die seine Schwierigkeiten mit vielen Mitmenschen erklären mögen. Seine Exzentrik war sprichwörtlich (obwohl dies ja für viele Engländer zutraf und zutrifft!) und seine Vorlesungen über Komposition und Farbe an der Akademie waren legendär. Sie begeisterten auch eine Klientel, die sonst mit Malerei nicht so viel am Hut hatte.
Faszination Naturdrama. Katastrophenartige Naturereignisse ziehen Turner bezeichnenderweise geradezu magisch an. Bereits in frühen Bildern begeistert er sich für Schneestürme und andere Gewaltausbrüche unserer Materie. Nahe liegend, dass er natürlich den Brand des Houses of Parliament 1834 in mehreren Aquarellen verewigen will und muss. Gerade in solchen Bildern kann er die Wechselwirkung (zum Beispiel Farbkontraste) in die Extreme treiben, üppig sinnliche Diffusion walten lassen, in der Licht und Farben sich gegenseitig verschlingen. Seine kühnsten Farbversuche hält Turner (trotz seiner Berühmtheit) doch lieber versteckt, wohlwissend, dass nur wenige Zeitgenossen diese richtig zu deuten wüssten, und er ansonst nur mit vernichtender Kritik konfrontiert würde.
Genialer Visonär. Turner stirbt 1851. Erst in seinem Erbe kommt sorgsam Verschlossenes zum Vorschein, vieles bekommt groteskerweise nur noch sein Nachlassverwalter zu sehen. Denn dieser, ein gewisser John Ruskin (fast zeitlebens ein glühender Verehrer Turners), verbrennt unzählige Blätter aus Angst um den guten posthumen Ruf des Meisters!
Die Arbeitswut William Turners scheint grenzenlos gewesen zu sein, denn fast 20.000 Zeichnungen und Bilder blieben bis heute erhalten, die meisten davon im British Museum, London. Sie liefern uns ein mehr als lebendiges Zeugnis vom wagemutigsten Aquarellisten des 19. Jahrhunderts, einem Visionär der modernen Kunst - einem der genialsten Landschaftsmaler überhaupt.