Wege zu Hildegard von Bingen

20. Oktober 2014 | von

Seit ihrer offiziellen Aufnahme in den Heiligenkalender der katholischen Kirche und ihrer Erhebung zur Kirchenlehrerin durch Papst Benedikt XVI. ist Hildegard von Bingen wieder in aller Munde.



Das Interesse am Leben der Benediktinerin aus dem 12. Jahrhundert war bereits in den 1970er Jahren wieder erwacht, in denen man ihren 800. Todestag gefeiert hatte. Und mit den Feiern zur 900. Wiederkehr ihres Geburtstages 1998 war eine Hildegard-Renaissance verbunden, die sich wirklich mit allen Aspekten ihres facettenreichen Werkes befasste.

Die Kompositionen, von denen es in den 1980er Jahren nur einige wenige Einspielungen gab, wurden dutzendfach und in gregorianisierenden, reichhaltig instrumentalbegleiteten, in Rock- und in Popversionen auf CD gebrannt. Nicht nur ihre heilkundlichen Vorstellungen oder ihre angeblichen Kochrezepte, auch die Tiefenschichten ihrer theologischen Werke wurden rezipiert und neu diskutiert.



EINE VORLÄUFERIN DER REFORMATION?

Was auffällt, wenn man sich die Rezeptionsgeschichte in Bezug auf Hildegard einmal näher ansieht, ist, dass der Facettenreichtum ihres Werkes offenbar dazu verleitet, dass diejenigen, die sich mit ihr befassen, sich in Hildegard wiedererkennen und, ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen in sie hineinprojizierend, mitunter der Versuchung erliegen, sich aus den ihnen passend erscheinenden Versatzstücken ihres Werkes ihre eigene Hildegard zusammenzusetzen. Dazu ein Beispiel. Glaubt man Andreas Osiander, war Hildegard von Bingen eine Vorläuferin der Reformation. Die Belege, die der Theologe, der seit 1522 als Pfarrer an der Nürnberger St. Lorenzkirche wirkte und dort gemeinsam mit Lazarus Spengler, dem Meistersinger Hans Sachs und dem humanistischen Ratsherren Willibald Pirckheimer die Reformation durchsetzte, dafür anführte, sind durchaus überzeugend. „Ihr seid Nacht, die Finsternis aushaucht, und wie ein Volk, das nicht arbeitet und aus Trägheit nicht im Licht wandelt. … Ihr … lasst euch von jedem daherfliegenden weltlichen Namen lahmlegen. Mit eurem leeren Getue verscheucht ihr aber bestenfalls im Sommer einige Fliegen. … Ihr liegt am Boden und seid kein Halt für die Kirche. Und wegen so vieler Nichtigkeiten und Eitelkeiten unterweist ihr die Leute nicht und gestattet nicht, dass sie bei euch Belehrung empfangen, indem ihr sprecht: Wir können unmöglich alles schaffen.“ Das waren keineswegs Andreas Osianders feurige Worte, mit denen er den Nürnbergern die Reformation nahebringen und seine katholischen Kollegen kritisieren wollte, sondern die Predigt, die Hildegard von Bingen dem Klerus von Köln hielt.

Kein Wunder, dass Osiander, als er diesen und andere Texte in einer Nürnberger Bibliothek entdeckte, begeistert war und sie sofort drucken ließ. Hildegard gehörte in Nürnberg offenbar zur Standardlektüre, denn nicht nur in der Bibliothek des Kartäuserklosters, in der Osiander fündig geworden war, auch in anderen Büchersammlungen der Stadt war die Äbtissin aus dem 12. Jahrhundert vertreten. Ihre Kleruskritik gefiel den Reformatoren ganz außerordentlich gut und so machten sie die Benediktinerin, die in der Reformationszeit nicht zuletzt durch die Aufnahme in Hartman Schedels Weltchronik populär geworden war, zu einer Vorläuferin ihrer eigenen Bewegung, frei nach dem Motto: „Hildegard von Bingen hat es ja auch schon gesagt, die Kirche muss reformiert werden“.



AUF DEN RECHTEN WEG ZURÜCK

Aber wird diese Interpretation Hildegard gerecht? Schaut man sich ihren Lebensweg an, findet man selbstverständlich immer wieder Momente, in denen Hildegard als Mahnerin auftritt und Menschen, die von dem mitunter engen Pfad abgekommen sind, auf dem sie zum ewigen Heil unterwegs waren, geholfen hat, wieder auf den rechten Weg zurückzukommen. Aber ecclesia semper reformanda, die Kirche ist eine sich selbst immer wieder erneuernde Gemeinschaft.

Das bedeutet aber keineswegs, dass Hildegard mit den theologischen Vorstellungen Martin Luthers konform gegangen wäre, und noch viel weniger, dass sie eine Spaltung der Kirche, die sie in ihrer Lebenszeit in Gestalt des langjährigen Papstschismas ja selbst erlebt hat, nicht für einen dringend zu überwindenden Zustand gehalten hätte.



EINE VORLÄUFERIN DER UMWELTBEWEGUNG?

„Und ich hörte, wie sich mit einem wilden Schrei die Elemente der Welt an jenen Mann wandten. Und sie riefen: Wir können nicht mehr laufen und unsere Bahn nach unseres Meisters Bestimmung vollenden. Denn die Menschen kehren uns mit ihren schlechten Taten wie in einer Mühle von unterst zu oberst. Wir stinken schon wie die Pest und vergehen vor Hunger nach der vollen Gerechtigkeit.“

„Ihnen antwortete der Mann: Mit meinem Besen will ich euch reinigen und die Menschen so lange heimsuchen, bis sie sich wieder zu Mir wenden. In der Zwischenzeit aber werde ich viele Herzen vorbereiten und hinziehen zu meinem Herzen. Mit den Qualen derer, die euch verunreinigt haben, will ich euch reinigen, sooft ihr besudelt werdet.“



Wer diesen Text aus dem Liber Scivias liest, wird sich nicht wundern, dass Hildegard auch als Vorläuferin der Umweltbewegung gilt. Tatsächlich hat sie so präzise wie nur wenige Autoren des Mittelalters darauf hingewiesen, wie eng der Zusammenhang von Makro- und Mikrokosmos ist. Allerdings hat sie dabei auch Aspekte zur Sprache gebracht, von denen in den Konzepten der Umweltbewegung heute noch nicht einmal Spurenelemente enthalten sind. Zu einem heilen Zustand der Umwelt beizutragen, bedeutet in Hildegards theologischem Konzept auch, sich dessen bewusst zu sein, dass man ein sündiger Mensch ist, und vor Augen zu haben, dass wir, wenn wir uns durch unser verkehrtes Handeln von Gott, der Quelle des Lebens, absondern, unheilvolle Spuren im Kosmos hinterlassen, die den Wohlstand der Schöpfung, also unsere Umwelt, ganz erheblich beeinträchtigen.

In das Weltenrad eingeflochten zu sein, bedeutet für Hildegard zweierlei. Zum einen hat jeder Mensch bestimmte Anlagen, ist Umwelteinflüssen ausgesetzt, und seine Handlungsfreiheit wird durch die Freiheit der Menschen, die mit ihm leben, begrenzt. Zum anderen aber hat er die Möglichkeit, sich verantwortlich handelnd an der Gestaltung der Welt zu beteiligen. Wer diese Möglichkeit nicht wahrnimmt, der verfehlt in Hildegards Augen seine Berufung, er kann sich nicht im Vollsinne selbst verwirklichen. Vor dem Wahrnehmen dieser Verantwortung kann sich niemand drücken. Wir finden diese Sicht heute am ehesten in den Werken der Teilchenphysiker wieder, die der untrennbaren Verwobenheit von sichtbarer und unsichtbarer Welt zurzeit auf der Spur sind.



HILDEGARD ÜBER HILDEGARD

Wer Hildegard wirklich kennenlernen und verstehen will, darf nicht an der facettenreichen Außenseite ihres reichhaltigen Werkes stehen bleiben. Diese Sicht auf die Außenseite lädt, das zeigt die Rezeptionsgeschichte ganz eindeutig, dazu ein, die je eigenen Wünsche und Vorstellungen auf Hildegard zu projizieren. Deshalb möchte ich zum Abschluss dieses Beitrags Hildegard selbst zu Wort kommen lassen. Da, wo sie in ihren theologischen Schriften, in ihrer Autobiografie oder in ihrem Briefwechsel von sich selbst spricht, kommt sie uns ganz persönlich nahe. Wir erleben sie gewissenmaßen aus der Innenschau und können spüren, wie es ihr damit ging, dass sie als kleines Kind plötzlich Visionen hatte, wie sich ihre Selbstwahrnehmung als Erwachsene veränderte, und wie sie zu einer reifen Form der Christusbegegnung fand.



In ihrer Autobiografie und im Scivias beschreibt Hildegard die Ängste und Zweifel, die sie als Kind erlebte: „In meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so großes Licht, dass meine Seele erbebte, doch wegen meiner Kindheit konnte ich mich nicht darüber äußern.“ Weiter heißt es: „Die Kraft und das Mysterium verborgener, wunderbarer Gesichte erfuhr ich geheimnisvoll in meinem Innern seit meinem Kindesalter, das heißt seit meinem fünften Lebensjahre, so wie auch heute noch.“ „Manches erzählte ich einfach, sodass die, die es hörten, sich sehr wunderten, woher es käme und von wem es sei. Da wunderte ich mich auch selbst, dass ich, während ich tief in meiner Seele schaute, doch auch das äußere Sehvermögen behielt, und dass ich dies von keinem anderen Menschen hörte. Darum verbarg ich die Schau, die ich in meiner Seele sah, so gut ich konnte. Viele äußere Dinge erfuhr ich nicht wegen der häufigen Erkrankungen, an denen ich von der Muttermilch bis jetzt gelitten habe, die meinen Leib schwächten, sodass meine Kräfte nachließen. Als ich davon erschöpft war, versuchte ich, von meiner Amme zu erfahren, ob sie, abgesehen von den äußeren Dingen, irgendetwas sähe. Und sie erwiderte: ‚Nichts‘, weil sie nichts dergleichen sah. Da wurde ich von großer Furcht ergriffen und wagte nicht, dies irgend-jemandem zu offenbaren.“



In der Vita findet sich aber auch eine Beschreibung visionären Erlebens, die in ihrer Intimität den Erfahrungen der Mystikerinnen des 13. Jahrhunderts, wie Mechthild von Magdeburg oder Gertrud von Helfta, ähnelt: „Einige Zeit später sah ich eine geheimnisvolle, wunderbare Schau, sodass ich zuinnerst erschüttert wurde und die Empfindungen meines Körpers erloschen. Denn mein Bewusstsein wurde derart gewandelt, als ob ich mich selbst nicht mehr kennte. Und wie sanfte Regentropfen träufelte es aus dem Hauche Gottes in das Erkennen meiner Seele, so wie der Heilige Geist den Evangelisten Johannes erfüllt hat, als er an Jesu Brust die tiefgründige Offenbarung empfing.“



An diese Schilderung anschließend, entwickelt Hildegard eine in der Schau empfangene Exegese des Johannesprologes. Es ist bezeichnend für ihre christozentrische Theologie, dass sie gerade in Bezug auf diese zentrale Stelle des Neuen Testamentes eine Erfahrung macht, die sie mit der des Jesus eng verbundenen Jüngers Johannes vergleicht, während sie an anderen Stellen ihres Werkes, wie z. B. dem Liber divinorum operum, eher eine Identifikation mit Paulus erkennen lässt, der, wie sie, Jesus nicht als Mensch begegnet ist, sondern von ihm in einer Lichtvision in den Dienst genommen wurde.

Eine nur sie selbst und nicht ihren Auftrag meinende Vision hat Hildegard nach der Heilung der psychisch kranken Frau Sigewiza, in deren Folge sie 40 Tage lang schwer erkrankt war. Sie schreibt: „Der Schönste und Innigstgeliebte erschien mir in einer wahren Schau. Er erfüllte mich mit solch starkem Trost, dass mein Innerstes bei seinem Anblick wie von Balsamduft durchströmt wurde. Da jubelte ich vor großer, unermesslicher Freude und wünschte sehnlichst, ihn immer anzuschauen. Er gebot meinen Quälgeistern, von mir zu weichen, und sprach: ‚Fort mit euch, ich will nicht, dass ihr sie länger so peinigt!‘“ 



Die ausführlichste und offenste Darstellung der Gabe der Schau durch Hildegard enthält der Briefwechsel mit Wibert von Gembloux. „Ich aber“, so schreibt Hildegard, „bin ständig von zitternder Furcht erfüllt. Denn keine Sicherheit irgendeines Könnens entdecke ich in mir. Doch strecke ich meine Hände zu Gott empor, damit ich von ihm gehalten werde, wie eine Feder, die ohne jedes Gewicht von Kräften sich vom Wind dahinwehen lässt. Das, was ich schaue, kann ich nicht vollkommen wissen, solange ich in der Dienstbarkeit des Leibes und der unsichtbaren Seele bin; denn an beidem besteht beim Menschen ein Mangel. ... Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist viel, viel lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. Weder Höhe, noch Länge, noch Breite vermag ich an ihm zu erkennen. Es wird mir als der „Schatten des lebendigen Lichtes“ bezeichnet. Und wie Sonne, Mond und Sterne in Wassern sich spiegeln, so leuchten mir Schriften, Reden, Kräfte und gewisse Werke der Menschen in ihm auf. ... In diesem Licht sehe ich zuweilen aber nicht oft ein anderes Licht, das mir das „lebendige Licht“ genannt wird. Wann und wie ich es schaue, kann ich nicht sagen. Aber solange ich es schaue, wird alle Traurigkeit und alle Angst von mir genommen, sodass ich mich wie ein einfaches junges Mädchen fühle und nicht wie eine alte Frau.“





Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016