Wenn Stimmung hörbar wird

09. April 2017 | von

Von einem Klangexperiment aus Massachusetts berichtet unsere Autorin in diesem Beitrag. Es geht dabei um den Versuch, innere Stimmungen hörbar zu machen.

„Mein Gott, hast Du heute eine Laune! Das kann einem ja direkt die Stimmung verhageln.“ Stimmt genau. So funktioniert das. Wirklich? Ja. Und das kann man heutzutage sogar wissenschaftlich beweisen. Was der spätantike christliche Philosoph und Theologe Boethius schon in seiner Theorie von der musica mundana, der musica humana und der musica instrumentalis, also dem von nur wenigen Menschen wahrgenommenen Tönen des Kosmos, der Harmonie innerhalb des Menschen und der von Stimmen und Instrumenten hervorgebrachten Musik und ihren Wirkungen entfaltete, kann heute tatsächlich für alle hörbar gemacht werden. 

Einflussreiche Musik
Wie das funktioniert, erklärt Grace Leslie vom Massachusetts Institute of Technology auf dem World-Changing Ideas Summit von BBC Future in Syndey, einem Treffen kluger Köpfe, die ihre innovativen Ideen miteinander teilen. Leslie war von der Tatsache ausgegangen, die jeder von uns kennt, dass nämlich Musik einen starken Einfluss auf unsere Stimmung und unseren Körper hat. Wer ein wenig durchhängt, nimmt beim Erklingen des Radetzkymarsches bewusst oder unbewusst Haltung an, die Körperspannung erhöht sich und der Gute-Laune-Pegel steigt. Jeder und jede hat seine oder ihre Lieblingsmelodie, die bestimmte Erinnerungen wieder lebendig werden lässt. Und natürlich entfaltet Musik in hohem Maße heilende Kräfte. Sie kann dazu beitragen, Schmerzen zu lindern; bei Operationen eingesetzt, senkt sie signifikant die notwendige Dosis von Narkotika. Demenzpatienten bleiben länger geistig fit, wenn sie musiktherapeutisch behandelt werden, Parkinsonpatienten haben eine viel höhere Bewegungsfreiheit und Schlaganfallpatienten kommen schneller wieder auf die Beine. All dies hängt damit zusammen, dass der Mensch ein Schwingungswesen ist. Von der Werbung wird dieses Wissen längst genutzt. Kaum ein Kaufhaus kommt heute ohne umsatzsteigernde Berieselung aus, und wer genau hinhört, merkt schnell, wie geschickt die Klänge ausgewählt sind, die zugleich entspannend wirken, aber auch die jedem Menschen innewohnende unstillbare Sehnsucht ansprechen. Die Folgen eines solchen Eingriffs in das innere Klanggefüge des Menschen sind klar. Wer nicht aufpasst, hat schnell viel mehr im Einkaufswagen, als er eigentlich braucht.

Hörbar gemachte Stimmung
Leslies Idee war nun, nicht nur gleichsam von außen her mit Musik auf den Menschen einzuwirken, sondern seinen Zustand, seine Stimmung, das, was Boehtius musica humana nennt, hörbar zu machen. Dabei machte sie sich selbst, Verwandte und Freunde zu Versuchspersonen und nutzte eine technische Ausrüstung, um die elektrischen Aktivitäten des Gehirns, die Wechsel im Tempo des Herzschlags und die subtilen Varianten in der Spannung der Hautoberfläche in Klang umzusetzen. Ein Synthesizer gibt dabei wieder, was gerade in Leslies oder den Körpern der anderen Probanden vorgeht. Wenn Leslie ihre Körperklänge mit Instrumentalsounds vermischt, ertönt in der Wiedergabe etwas, das an die Symphonien skandinavischer Komponisten der Romantik erinnert. Nachhören kann man Leslies ganz eigene Klangwelt im Internet unter https://sound-cloud.com/gracesounds. 

Gefühlswelt zum Nachspüren
Natürlich sind die Ergebnisse von Leslies Forschungen nicht nur spannend anzuhören und konfrontieren jeden, der in ihre Klangwelt eintaucht, mit der Frage „Wie klinge ich wohl selbst?“ Sie haben aber auch eine ganz konkrete Nutzanwendung. Grace Leslie geht davon aus, dass die von ihr entwickelte ausdrucksvolle Musiktherapie auch medizinisch hilfreich sein kann, beispielsweise, wenn es darum geht, Patienten mit Autismus dabei zu helfen, ihre Stimmung besser einzuschätzen. Denn wer sich mit den äußeren Ohren anhören kann, was ansonsten nur für die Ohren des inneren Menschen wahrnehmbar ist, erlebt einen doppelten Effekt. Seine Stimmung ist nicht nur etwas Inneres, ihre immer vorhandene ausstrahlende Wirkung wird konkret erlebbar und entfaltet auf diese Weise gewissermaßen eine verstärkte Wirkung. Wer, wie Autisten, schwer Zugang zur eigenen Gefühlswelt findet, kann sich durch die akustische Wahrnehmbarkeit des eigenen Gestimmtseins seiner selbst besser vergewissern. 

Christliche Klangtraditionen
In der christlichen Spiritualität spielt das Eintauchen in den Klang der Welt schon lange eine bedeutende Rolle. Hildegard von Bingen sagte vom Patron ihres Klosters, dem heiligen Rupertus, in te symphonizat spiritus – in dir singt und spielt der Heilige Geist, und fordert ihre Schwestern auf, Teil der Klangwelt der Chöre der Engel zu werden. Die Regel Benedikts sagt: ut mens concordet vocis, wenn sie nahelegt, dass beim Gebet Herz und Stimme in Einklang sein mögen. Die beste Möglichkeit, eine perfekte Konkordanz von Form und Inhalt zu erleben, bietet der Gregorianische Choral. In seine Klangwelt einzutauchen, bietet jedem die Chance, die eigene Gestimmtheit harmonisch zu optimieren.

Zuletzt aktualisiert: 09. April 2017
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