Wie ein Gebet aus Granit zwischen Himmel und Meer
Über die „bewundernswürdigste gotische Wohnstatt, die je für Gott auf Erden errichtet worden ist“, schrieb der französische Schriftsteller Guy de Maupassant. Gemeint war Mont-Saint-Michel, die felsige Klosterinsel im Ärmelkanal, etwa einen Kilometer von der normannischen Küste entfernt und bis heute ein magischer Ort.
Warum wurde gerade hier ein Kloster erbaut? Am Anfang dieses gewaltigen Unternehmens stand ein Traum – und manches Wunder. Die Legende berichtet, dass im Jahr 708 der heilige Michael im Traum dem Bischof von Avranches erschien und ihn beauftragte, auf der Felseninsel ein Kloster zu errichten. Weil Bischof Aubert auch einer weiteren Aufforderung nicht Folge leistete, erschien ihm der Erzengel ein drittes Mal, diesmal in einem Strahlenkranz, und berührte mit einem Finger aus Licht des Bischofs Kopf. Ein Loch in seinem Schädel überzeugte Aubert: Der Bau einer Kirche wurde in Angriff genommen.
Ein schwerer Stein, senkrecht aufgerichtet wie ein heidnisches Symbol, beherrschte den Hügel. Auf den Rat des Erzengels ließ der Bischof einen Säugling holen. Als der mit seinem Füßchen den Stein berührte, rollte er von allein den Hügel hinunter. Von einem weiteren Wunder erzählt die Legende: Weil es auf der kahlen Felseninsel kein Wasser gab, schlug der Bischof auf Michaels Befehl seinen Stab gegen den Felsen und sogleich sprudelte eine Quelle, die später wegen ihrer heilsamen Wirkung gerühmt wurde.
Wunder und Schrecken. Ein Sanktuarium wurde zu Ehren des heiligen Michael errichtet, dem später eine frühromanische Kirche folgte, und 965 gründen Benediktinermönche ein Kloster. Von Herzögen und Königen unterstützt – hatte die zunehmend befestigte Klosterinsel zwischen Frankreich und England doch auch militärische Bedeutung – wurde die Anlage weiter ausgebaut. Im 13. Jahr-hundert entstand ein prachtvolles Gebäudeensemble im gotischen Stil, dessen Beiname „La Merveille" (das Wunder) den kunsthistorischen Rang andeutet. 1369 wurde die Abtei Sitz des neugegründeten Ritterordens „Ordre de Saint-Michel", und 1520 wurde der herrliche Chor im spätgotischen Flamboyant-Stil fertig gestellt. So wuchs diese wundervolle Abtei, die den Pilgern als Abbild des himmlischen Jerusalem auf Erden erschien.
Zu Füßen des Klosters entwickelte sich eine Ortschaft, um die von dem wunderbaren und wundertätigen Ort angezogenen Pilger zu beherbergen und zu versorgen. Lange Zeit konnten die Menschen hier gut von den Wallfahrern leben. Doch das Weltgeschehen ging auch an der Klosterinsel nicht spurlos vorüber. Mit der kirchenfeindlichen französischen Revolution 1789 kam das Ende: Die Benediktiner mussten das Kloster verlassen – erst 1969 sollten wieder Mönche auf die Insel zurückkehren. Die Abtei wurde von den Revolutionären zunächst zur Unterbringung von Regimegegnern aus den Reihen des Klerus genutzt, dann in eine Zitadelle für Gefangene verwandelt, die den zynischen Namen „Mont-Libre" erhielt. Zwischen 15.000 und 18.000 Menschen waren hier unter miserablen Zuständen eingesperrt. Aus dem spirituellen Ort war ein Ort des Schreckens geworden. Viele Gebäude wurden dem Verfall preisgegeben, die Ortschaft war weitgehend verlassen, die noch Verbliebenen völlig verarmt.
Riskante Wallfahrt. Seit Mitte des 9. Jahrhunderts waren die Pilger, allen Gefahren zum Trotz, zum Mont-Saint-Michel geströmt, der zum Hauptziel der Michaels-Verehrer in Europa wurde. Eine Blütezeit war das 13. Jahrhundert, die Zeit der christlichen Erneuerungsbewegungen. Bis ins 15. Jahrhundert hinein gab es immer wieder Kinderwallfahrten. 1333 ist eine Wallfahrt der Hirtenkinder belegt, in diesem Jahr wurde auch über zahlreiche Wunder berichtet. In den 50-er Jahren des 15. Jahrhunderts kamen zahlreiche Kinder aus Polen, Böhmen, der Schweiz, Belgien und Deutschland. Sie hatten in Scharen Familie und Heimat verlassen, marschierten in einem langen Zug, sangen „in Gottes Namen fahren wir, zu St. Michael wollen wir!" Da viele Kinder bei der langen Reise umkamen, sprachen sich besonders in Deutschland Kleriker gegen diese fanatisch anmutende Form der Religiosität aus.
Im 17. und 18. Jahrhundert organisierten regionale Michaelsbruderschaften die Wallfahrten, die zunehmend nicht nur religiöses Anliegen, sondern auch einen willkommenen Ausbruch aus dem Alltag bedeuteten. Mit der kirchenfeindlichen Revolu-
tion ging nach 1789 die Zahl der Pilger drastisch zurück, erst nach Schließung des Gefängnisses im Jahr 1863 begann eine neue Ära. Im Zuge der Romantik, die das Mittelalter verklärte, wurde die eindrucksvolle Kloster-insel zu einem nationalen Heiligtum. Damit nahm die Zahl der Besucher zu, die nicht aus religiösen Gründen anreisten, sondern um den romantischen Ort im Meer zu sehen.
Massentourismus. 1874 wurde der Mont-Saint-Michel zum „Monument Historique" erklärt und mit Restaurierungsarbeiten begonnen. Im 20. Jahrhundert kam dann mit dem Dammbau, der die Insel mit dem Festland verbindet, der Massentourismus. Von 1901 bis 1939 fuhr auf dem Damm neben der Straße eine Schmalspureisenbahn, deren Gleise 1944 wieder abgebaut wurden. Später wurden große Parkplätze angelegt, um die mobilisierten Touristen möglichst nah an die Sehenswürdigkeit heranzubringen, die 1979 zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Heute zählt Mont-Saint-Michel jährlich rund drei Millionen Besucher, die sich durch die nach Crêpes und Lammwürstchen duftende Unterstadt zum Kloster drängen.
Mittlerweile leben keine Benediktiner mehr im Kloster, sondern Brüder und Schwestern der „Fraternités Monastiques de Jérusalem" kümmern sich um die internationale Pilgerschar. Sie bieten auch Einkehrtage an (Informationen unter www.
abbaye-montsaintmichel.com). Man schätzt, dass jährlich 30.000 Menschen an den Messen teilnehmen. Die genaue Zahl der Besucher, die vor allem aus religiösen Gründen zum Mont-Saint-Michel kommen, ist unbekannt. Touristen können mit Audioguides die Abtei ganzjährig von 9.30 bis 16.30 Uhr individuell besichtigen. Zu sehen sind die Abtsgebäude, die Kapelle Saint Aubert, die Abteikirche, die Kirche Nôtre Dame sur Terre und „La Merveille" mit Gäste- und Rittersaal, Refektorium und Kreuzgang (touristische Informationen in Deutsch unter www.lemontsaintmichel.info).
Früher, als der Mont-Saint-Michel von der Küste nur bei Niedrigwasser zu erreichen war, zu Fuß oder mit Pferdekarren durchs Watt, stellte dies bei häufigem Nebel und dem extremen Tidenhub von zwölf bis vierzehn Metern in der Bucht ein gefährliches Unterfangen dar. Das auflaufende Wasser hatte – wie Victor Hugo es bildstark formulierte – die „Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes"; tatsächlich war es rund ein Meter pro Sekunde. Erst mit dem Dammbau und der darauf folgenden Verlandung wurde das Abenteuer zum Spaziergang.
Ebbe und Flut. Nun läuft seit zwei Jahren ein Projekt zur Renaturierung. Der Mont-Saint-Michel soll wieder vom Wasser umspült werden. Der Damm wird durch eine Stelzenbrücke ersetzt und an der Mündung des Flusses Couesnon ein Gezeitendamm errichtet. Dieser soll das bei Flut einlaufende Meerwasser bei Ebbe mit hohem Druck wieder ablassen und dabei Sand und Sedimente aus der Bucht heraustragen. 164 Millionen Euro wird das Großprojekt kosten. Während der Bauphase bleibt der Mont-Saint-Michel uneingeschränkt zugänglich. 2012, wenn der Wasserstand in der Bucht um rund 70 Zentimeter erhöht sein wird, können die Besucher aus aller Welt die Klosterinsel wieder zwischen Meer und Himmel aufragen sehen.