Wie funktioniert eigentlich mein Gehirn?
17. Juni 2015
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Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren zahlreiche neue Erkenntnisse gewonnen. Unser Autor nimmt uns mit auf einen kleinen Rundgang durch unser Gehirn.
Achtung! Hier zuerst lesen! Prima. Sie beginnen mit diesem Abschnitt. Aber warum? War diese Aktion ein Ergebnis ausführlichen Nachdenkens, das Resultat fein abgestimmter logischer Vorgänge in Ihrem wunderbaren menschlichen Großhirn?
Nein, es war eine vergleichsweise winzige Region in der Mitte Ihres Schädels, die Ihre Aufmerksamkeit geführt hat. Mediziner nennen sie das limbische System. Ich nenne es der Einfachheit halber Limbi und zeichne es als weißes Wuscheltierchen. Schon jetzt kann ich Ihnen garantieren: Sie werden Limbi lieben, denn er ist ein ganz wichtiges Stück von Ihnen. Ihr Limbi ist so unverwechselbar und einzigartig wie Sie. Er wurde Jahrhunderte lang verkannt, bekämpft und verteufelt. Freuen Sie sich auf seine Befreiung!
Der Paulus-Effekt
Der Apostel Paulus hat es bereits vor 2.000 Jahren beschrieben: Nicht, was ich tun will, tue ich. Sondern was ich nicht will, das tue ich. Warum immer dieser schreckliche Abstand zwischen Wollen und Handeln? Eine Frage, die mich schon lange beschäftigt. Nun denke ich, der Lösung nahe zu sein. Das verdanke ich den immer populärer werdenden Entdeckungen der Neurowissenschaften, also „Gehirnforschern“ wie Antonio Damasio, Daniel Kahneman, Maja Storch und vielen anderen. Der Schlüssel zu einem einfacheren, glücklicheren Leben steckt in unserem Kopf, mitten im Gehirn, in einer ganz besonderen Region davon.
Was unseren Kopf so groß macht, ist die Großhirnrinde, lateinisch Neocortex. Ein Organ, wie es in dieser Größe und Komplexität nur wir Menschen haben. Mit ihm können wir unsere Umwelt sehr differenziert beobachten, komplizierte Entscheidungen fällen und uns vor allem selbst beobachten. Wir sind in der Lage, über das Denken selbst nachzudenken und haben dadurch ein Bewusstsein von uns selbst.
Mindestens einen gravierenden Nachteil aber hat dieses hochdifferenzierte Großhirn: Es ist wegen der unglaublichen Menge von Informationen ziemlich langsam. Hätten wir in einer Notsituation nur den Neocortex, wären schon unsere Vorfahren sehr schnell wilden Tieren zum Opfer gefallen. Mit dem Großhirn allein hätte die Spezies Mensch, trotz der überragenden Fähigkeiten dieser evolutionären Superleistung, nicht überlebt.
Ein Selbstversuch
Dass Sie diesen Artikel lesen können und sich einer lückenlosen Reihe von Vorfahren erfreuen, verdanken Sie der Tatsache, dass Sie noch eine ältere Vorstufe des Gehirns an Bord haben. Sie arbeitet längst nicht so differenziert wie das Großhirn, dafür aber fantastisch flink: das limbische System. Ich stelle es mir als ein kleines Tier namens Limbi vor, denn wir haben diese Struktur gemeinsam mit allen Säugetieren. Hier sitzen die Emotionen und viele bewährte automatische Verhaltensweisen.
Wie schnell Ihr Limbi reagiert, können Sie im Selbstversuch testen. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit einem öffentlichen Verkehrsmittel und hören plötzlich in unmittelbarer Nähe den Ausruf „Fahrscheinkontrolle!“ In der Regel erschrecken Sie. Das ist Ihr Limbi. Seine Reaktionszeit liegt bei 0,2 Sekunden. Nach dem ersten Schock merken Sie, wie Ihr Großhirn langsam hinterher kommt und die intelligente Frage stellt: „Vielleicht haben wir ja einen Fahrschein?“ Die Ängste, die Limbi bei dem Wort „Fahrscheinkontrolle!“ produziert hat, sind meist völlig unbegründet. Sie kommen aus der Tiefe des Unbewussten, sind völlig irrational und oft restlos übertrieben.
Solche Limbi-Momente erleben Sie mehrfach am Tag. Besonders deutlich spüren Sie Ihr inneres Säugetier, wenn Sie sich eine bestimmte Arbeit vorgenommen haben oder eine unangenehme Verpflichtung auf Sie wartet, beispielsweise die Steuererklärung. Limbi findet, dass man die wichtige Aufgabe sehr gut verschieben und sich erst einmal einer angenehmeren Tätigkeit zuwenden kann.
Duell im Oberstübchen
Da haben wir ihn, den Paulus-Effekt: Es sind schlicht und ergreifend zwei Regionen in Ihrem Gehirn, die miteinander kämpfen. Aber wodurch wird der Fight entschieden? Wie kommen Sie zum Ausfüllen der Steuerformulare oder zu einer der vielen anderen Tätigkeiten, denen sich Limbi erst einmal verweigert? Die populäre Lösung: Limbi wird gewürgt. Du musst halt! Zwing dich! Diese Technik ist unter verschiedensten Namen bekannt: Den inneren Schweinehund überwinden. Sich zusammenreißen. Mit Selbstdisziplin arbeiten. Die Komfortzone verlassen.
Die Neurowissenschaften haben diesen Vorgang in unzähligen Studien genau erforscht – und sind zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen: Die Methode Limbiwürgung funktioniert fast nie. In gerade einmal einem von 20 Versuchen gelingt es, Limbi mit Gewalt umzustimmen. Hier ist eine Revolution vonnöten, und sie hat bereits begonnen: Zwingen Sie Limbi nicht, sondern arbeiten Sie mit ihm zusammen! Kooperation statt Kampf! Formulieren Sie Ihre Ziele und Aufgaben so, dass sie Limbi gefallen.
Bitte, verabschieden Sie sich von der Metapher des Inneren Schweinehunds und allen anderen gewalttätigen Vorstellungen. Ihr Limbi ist kein Schweinhund, sondern ein großartiger Freund, der Ihnen mehrmals am Tag das Leben rettet. Wenn Sie vom inneren Schweinehund sprechen, beschimpfen Sie sich selbst, denn dieses Viech ist ja kein Fremdkörper, sondern ein Teil von Ihnen.
Limbi, der Miesepeter
Wie aber lässt sich Limbi steuern, wenn das mit der Würgung nicht funktioniert? Da kann man von der Forschung allerhand Nützliches lernen. Verschaffen wir uns einmal einen Überblick über die Emotionen, die unser Limbi so draufhat. Diese sieben kann er übers Gesicht anderen mitteilen: Zorn, Angst, Ekel, Trauer, Überraschung, Verachtung, Freude. Da wird auf einen Blick klar: So richtig positiv ist eigentlich nur die letzte.
Limbi ist spezialisiert auf Negatives. Sein Hauptjob ist es, Gefahren zu vermeiden. Deswegen nimmt er schlimme Nachrichten und mögliche Katastrophen überproportional wahr. Er ist höchst empfänglich für grobe tendenzielle Einschätzungen à la „Alles wird immer schlimmer“, die von den Medien bereitwillig bedient werden.
Wagen Sie noch einen Selbstversuch. Wie schätzen Sie den Trend der weltweiten Armut in den letzten 20 Jahren ein? Wie hat sich Ihrer Meinung nach die Zahl der Allerärmsten entwickelt, die pro Tag weniger als einen US-Dollar zur Verfügung haben und denen oft sogar die allernötigsten Nahrungsmittel fehlen? Umfragen zeigen, dass die meisten Menschen einen deutlichen Anstieg dieser Gruppe schätzen. Ein paar Optimisten vermuten, dass die Zahl der Ärmsten – bei gleichzeitigem Anstieg der Weltbevölkerung – vielleicht gleich geblieben ist. Die statistische Wahrheit: Die Zahl hat sich halbiert! Diese Menschen sind nicht reich geworden, aber die meisten sind in die Zone derer aufgerückt, die ein paar Dollar pro Tag zur Verfügung haben. Natürlich, es gibt immer noch unendlich viel zu tun, aber die gewaltigen Anstrengungen der letzten Jahre waren nicht vergeblich. Es lohnt sich, weiterzuarbeiten an der weltweiten Entwicklung!
Das Dreamteam in Ihrem Kopf
Gegen Limbis dumpfen Pessimismus helfen der klare Verstand der Großhirnrinde, die kühle Wissenschaft und sachliche Statistik. Das Wunderbare am Geschöpf Mensch ist weder der Neocortex noch das limbische System, sondern die geniale Kombination von beidem!
Um sich selbst oder andere zu motivieren, gilt es, an Limbis Kraftquelle der Freude heranzukommen. Eine außerordentlich starke Kraftquelle, denn Limbi schüttet hochwirksame Chemikalien aus, wenn er etwas Erfreuliches wittert: Dopamin, Endorphin und Oxytocin heißen einige dieser Botenstoffe, mit denen Limbi Ihre Stimmung schlagartig verbessern kann. Er ist dabei ausgesprochen genügsam: Können Sie ihm klarmachen, dass bei einer eigentlich unangenehmen Aufgabe ein kleiner erfreulicher Nebenaspekt herausspringt, nimmt er dafür allerhand Ungemach in Kauf.
Psychologen nennen diese Technik „Neubewertung“. Richten Sie Limbis Blick auf etwas, das ihn freut. Das ist viel cleverer, als ihn mit Gewalt zum gewünschten Ziel zu zerren. Möchten Sie Limbi zum Anpacken des ungeliebten Formulars vom Finanzamt ermuntern, dann lenken Sie seinen Blick weg vom öden Amtsdeutsch des Papiers hin zur herzerfrischenden Rückzahlung, die danach zu erwarten ist. Das klingt auf Anhieb nicht besonders originell. Aber ich staune, wie viele Menschen es genau umgekehrt machen: Sie konzentrieren sich voller Inbrunst auf ihre Unlust. Sie wiederholen den Gedanken „Ich hasse das!“ wie ein Mantra und machen dadurch aus einer kleinen Unbequemlichkeit eine riesige Blockade. Der eigentliche Schuldige ist dabei gar nicht Ihr Limbi und seine kleine Angst vorm Finanzamt, sondern Ihre Großhirnrinde, die es zu einem Riesenproblem aufbläst.
Den Scheinwerferkegel von Limbis Aufmerksamkeit verändern – das ist der Königsweg zu einem gelingenden Alltag. Bei Sicherheitstrainings lernen Autofahrer, wenn sie von der Fahrbahn abkommen, nicht auf mögliche gefährliche Hindernisse wie Bäume oder andere Autos zu schauen – sondern nach der nächstbesten Lücke zu suchen. Ist der Scheinwerferkegel der Aufmerksamkeit erst einmal aufs richtige Ziel gerichtet, macht Limbi den Rest mit seinem Jahrhunderttausende alten Instinkt automatisch.
Bei unangenehmen Arbeiten hilft es Limbi zusätzlich, wenn Sie die Umgebung so spaßig wie möglich gestalten: gute Musik im Hintergrund, Arbeit am aufgeräumten Schreibtisch, ein Glas von Limbis Lieblingsgetränk dazu. Oft sind es lächerliche Details, die den Unterschied machen. Und die solide Grundüberzeugung: Wir schaffen das!
Wenn Limbi nicht mehr kann
Wird Limbi selbst krank, nennt man das Depression. Jetzt verstehen Sie, warum es so schwer ist, einen depressiv erkrankten Menschen aufzuheitern. „Mach doch mal was Schönes, nimm dir etwas vor!“ sind unerfüllbare Bitten, denn das Entscheidungsorgan selbst liegt am Boden. Um ihm zu helfen, ist Geduld nötig. Am besten nimmt man den Menschen heraus aus seiner Alltagsumgebung, gibt ihm Zeit und Zuneigung.
Aber ein kranker Limbi ist heilbar. Seelische Erschöpfungszustände hat es immer gegeben, nicht erst in unserer angeblich so anstrengenden Zeit. Nur hat man sie früher nicht gesehen, weil sie überdeckt waren von einer körperlichen Erkrankung. Hinter vielen Herzinfarkten, Hörstürzen, Schlaganfällen und anderen Krankheiten verbirgt sich ein Limbi, der die Notbremse zieht.
Wie Limbi mit uns spricht
Damit wären wir bei Limbis Kommunikationstechnik. Wie Limbi drauf ist, teilt er Ihnen nicht über die Großhirnrinde mit, sondern über Ihren Körper. Antonio Damasio, einer von Limbis Haupterforschern, nennt das „somatische Marker“, Körpermarkierungen.
Ein eindrucksvolles Beispiel erzählte mir ein Medizinstudent, der während eines Urlaubs kurzärmlig durch den Dschungel ging. Plötzlich spürte er, wie sich die Haare auf seinen Unterarmen aufrichteten. Er blickte nach vorn und sah vor sich im Gebüsch einen Leoparden. Sein Limbi hatte die Bedrohung mit untrüglichem Spürsinn viel schneller gesehen als seine Großhirnrinde – und sofort den somatischen Marker ausgelöst, der in der Frühzeit der Menschheit sinnvoll war. Als wir noch langes Fell hatten, war es clever, bei einer Bedrohung die Haare aufzurichten, damit wir furchterregender wirken. Die Sache ging gut aus, Student und Raubkatze zogen sich vorsichtig zurück.
So geht das häufig: Ihnen wird heiß oder kalt, der Puls erhöht sich schlagartig, ein Kloß im Hals, Druck auf den Schultern... Sympathischerweise funktioniert Limbis Sprache auch umgekehrt. Sie können Ihre seelische Stimmung durch Ihren Körper beeinflussen. Wenn Sie lächeln, drücken Gesichtsmuskeln auf Sensoren, die Limbi melden: Alles ok! Wenn Sie sich bewusst aufrichten und „groß machen“, wirken Sie auf andere überzeugender.
Das Geheimnis einer erfolgreichen, gesunden und glücklichen Zukunft für Sie wird darin liegen, die vernünftigen Lebensziele limbifreundlich zu formulieren. Wenn es gelingt, dass Limbi wenigstens etwas an Ihrem Projekt gut findet, sind Wunder möglich. Dann können Sie sich, zusammen mit Ihrem Limbi, zu ganz neuen Höhen von Lebensglück emporschwingen.
Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016