Wie Phönix aus der Asche
Auf ihren Darstellungen der heilsgeschichtlichen Ereignisse bedienten sich die frühchristlichen und mittelalterlichen Künstler einer Bilder- und Symbolsprache, die heute nicht mehr leicht zu entschlüsseln ist. So zeigt das Apsismosaik der römischen Kirche Santa Prassede neben Christus und drei Heiligen einen wundersamen Vogel, dessen Anwesenheit Fragen aufwirft.
Das Bildprogramm aus dem 9. Jahrhundert im Apsisgewölbe der Kirche Santa Prassede gehört ohne Zweifel zu den beeindruckendsten Mosaikarbeiten von Rom. Die Christusgestalt in der Mitte hält eine Schriftrolle mit der Geheimen Offenbarung des Johannes in der Hand. Zu ihren Seiten sind je drei Heilige dar-gestellt, die ihrerseits von einer Palme flankiert werden. Auf der (von den Be-trachtenden aus gesehen) linken Palme hat sich ein Vogel niedergelassen; es handelt sich um einen Phönix.
Uraltes Motiv. Was veranlasste den unbekannten mittelalterlichen Künstler, ausgerechnet diesen Vogel ins Bild zu setzen? Es handelt sich ja keineswegs um ein gängiges biblisches Motiv. Im Gegensatz zum Adler etwa, der in der Heili-gen Schrift immerhin fünfundzwanzig Mal vorkommt, wird der Phönix dort nur ein einziges Mal erwähnt, und zwar an jener Stelle, wo der schwer geprüfte Ijob seufzt: “So dachte ich: In meinem Nest werde ich verscheiden und gleich dem Phönix meine Tage mehren“ (Kapitel 29, Vers 18).
Sterben – und doch “die Tage mehren“? Damit greift der Gottesrebell Ijob, der sich erst ganz am Schluss zum frommen Dulder wandelt, ein uraltes Motiv auf, das später vom Christentum übernommen und gleichzeitig umgedeutet wird.
Fabelwesen mit Symbolgehalt. Die Sage von dem legendären Phönix, den man sich dem Goldfasan ähnlich vorstellte, stammt aus Ägypten. Es handelt sich da-bei um einen im Wortsinn einzigartigen Vogel; es gibt nämlich nur diesen einen. Beheimatet ist er in Indien. Alle fünfhundert Jahre treibt es ihn zu den Zedern des Libanon, wo er seine Flügel mit Wohlgerüchen anfüllt. Dann fliegt er nach der ägyptischen Sonnenstadt Heliopolis und lässt sich auf einem Opferaltar nie-der, wo er vom Feuer erfasst wird und verbrennt. Am folgenden Tag findet der Priester in der Asche einen Wurm. Am zweiten Tag wachsen diesem Flügel. Nach drei Tagen schon hat der Vogel seine frühere Gestalt wiedergewonnen und kehrt in seine Heimat zurück.
Die Phönix-Sage war auch im alten Rom und im antiken Griechenland verbrei-tet. So verwundert es denn nicht, dass sich der heidnische Phönix in kirchlichen Kreisen schnell zu einem christlichen Symbol mausert; fortan ist er nicht mehr bloß Ausdruck der uralten menschlichen Sehnsucht nach Unsterblichkeit, son-dern erinnert darüber hinaus auch an die Auferweckung Jesu. Und bald schon schwebt der wundersame Vogel von den Kanzeln der Kirchenväter herunter und nistet sich ein in ihren Schriften. So kennt der Afrikaner Tertullian, einer der bedeutendsten Kirchenschriftsteller um die Zeit vom 2. zum 3. Jahrhundert, kei-nerlei Hemmungen, mittels einer (nicht ganz unproblematischen) Auslegung der erwähnten Ijob-Stelle die Auferweckung der Toten am Ende der Zeiten mit der Wiedergeburt des Phönix zu vergleichen: “Gott selber hat in der Heiligen Schrift von diesem Vogel gesprochen, damit du dich ein für alle Mal daran erinnerst, dass der Leib aus der Asche neu ersteht.“
Was die Kirchenväter verkünden, setzen die Künstler ins Bild. Vor allem in Rom fühlt sich der mythische Vogel zunehmend heimisch. Ab dem vierten Jahr-hundert wird er zu einem beliebten Motiv an Begräbnisstätten und in christlichen Kirchen.
Kunst als Katechese. Ein schönes, aber leider kaum beachtetes Beispiel dafür findet sich im Apsismosaik der Basilika San Giovanni in Laterano. Viele Rom-pilgerinnen und -touristen, welche dieses Kunstwerk aus dem späten 13. Jahr-hundert bewundern, wissen zwar, dass es sich dabei um die Nachbildung eines frühchristlichen Originals handelt. Vermutlich aber beachten die wenigsten von ihnen den Phönix unter dem Kreuz, das sich in der Mitte der Bildfläche erhebt. Offensichtlich ersetzt er den Totenschädel am Fuß des Kreuzes, der sich auf vie-len künstlerischen Darstellungen des Todes Jesu findet. Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht geht dieser Schädelknochen nicht auf die hebräische Orts-bezeichnung Golgota (wörtlich: Ort des Schädels), sondern auf eine alte Legen-de aus dem 3. Jahrhundert zurück, derzufolge Jesus über der Begräbnisstätte Adams gekreuzigt wurde. Damit drückt die Legende auf bildhafte Weise aus, was Paulus im Ersten Korintherbrief so formuliert: “Wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden“ (Kapitel 15, Vers 22). Während der ‚erste Adam’ der Menschheit den Tod brachte, setzt der ‚zweite Adam’, nämlich Christus, durch die Erlösung der Menschheit einen Neuanfang. Begreiflich daher, dass der Schandpfahl des Kreuzes schon in den Schriften der ersten Kirchenväter zum “Baum des Lebens“ wurde. Dass der Tod nicht das letzte Wort behält, wird im Apsismosaik der Lateranbasilika dadurch unterstri-chen, dass sich das Kreuz nicht über einem Totenschädel, sondern über einem Phönix erhebt. Die Botschaft ist leicht zu entschlüsseln: So wie dieser sich nach drei Tagen aus der Asche erhebt, wird auch Jesus am dritten Tag nach seinem Tod aus seinem Grab heraustreten ins Leben.
Feuer der Unsterblichkeit. Wenn der Phönix alle fünfhundert Jahre nach Heli-opolis fliegt, lässt er sich auf dem Altar nieder, auf dem das Feuer brennt. Wer auch nur ein einziges Mal den Hauch der Unsterblichkeit auf seiner Haut ver-spürte, wird es mit den Priestern der altägyptischen Sonnenstadt halten. Ihre Aufgabe bestand nämlich nicht darin, die Asche zu bewahren, sondern das Feuer zu hüten.