Wir brauchen Orte der Begegnung

06. Dezember 2021 | von

Unser Autor leitet die Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg. Er ist davon überzeugt: Kirchliche Bildung kann ein „dritter Ort“ sein und erläutert hier zunächst, was unter diesem Begriff zu verstehen ist.

Genau vor einem Jahr wird ein Film von gerade einmal 90 Sekunden ins Netz gestellt und spricht mit seiner Botschaft wahrscheinlich alle gleichermaßen an: Er handelt von Menschen, die sich treffen, im Gespräch sind, sich begrüßen, feiern oder gemeinsam ausgehen. Wer sich die fröhlichen Menschen an gastronomischen Orten ansieht, wird schmerzlich daran erinnert, wie sehr uns allen – mitten in der nunmehr vierten Welle der Pandemie – diese Begegnungen fehlten.

Ein Zusammenschluss von Gastronomen hat diesen Film als „Manifest des dritten Ortes“ im Namen von Restaurants, Bars, Clubs und Cafés auf YouTube, einer eigenen Homepage und unter dem Hashtag #deindritterort in den sozialen Medien veröffentlicht.

Warum man den Begriff „Manifest“ gewählt hat, bleibt unbeantwortet. Denn es handelt sich eigentlich um ein Gedicht, das im Film von der sonoren deutschen Synchronstimme von Bruce Willis vorgetragen wird und ein hohes Lied auf jene Orte anstimmt, die nicht das eigene Zuhause und nicht die Arbeit meinen. Am Ende spricht uns das Gedicht aus der Seele: „Er fehlt, der besondere dritte Ort. Wir vermissen ihn. Er muss jetzt ruhen, in der Unruhe dieser Zeit. Er wartet ungeduldig.“ Und dann zeigen sich Hoteliers und Gastronomen, die sich auf ein Wiedersehen freuen.

Nun ist der Begriff des „dritten Ortes“ nicht geschützt und den Betreibern von Restaurants, Bars und Cafés sei ein großer Erfolg mit dieser Kampagne vergönnt. Aber der Begriff wird schon etwas vereinnahmt, und es dürfte lohnend sein, dem dahinterliegenden Konzept nachzugehen und ihn hinsichtlich seiner analytischen Beschreibung von besonderen Orten im kirchlichen Raum zu befragen.

Der Begriff des „dritten Ortes“

Das Phänomen öffentlicher und gemeinschaftlicher Orte außerhalb der eigenen Wohnung und der Arbeitsstätte gab es lange vor der Wortschöpfung des Soziologen Ray Oldenburg. Hier sei nur an die griechische Agora und das römische Forum und damit an Orte erinnert, die bereits in der Antike mehr waren als (oftmals falsch übersetzt) Marktplätze. Bereits in den kleinen Stadtstaaten war überdeutlich, wie sehr man einen öffentlichen Raum zum Austausch, zur Begegnung und zur Meinungsbildung benötigt. Erst recht in der zunehmend industrialisierten Welt waren die Räume des nicht nur kulinarischen Austausches wie das englische Pub, das österreichische Kaffeehaus und der deutsche Biergarten besondere Orte neben Wohnung und Arbeitsstätte. Ray Oldenburg bezeichnet diese drei genannten folgerichtig als klassische „dritte Orte“. Vielleicht traf der Soziologe mit seinem Konzept des „dritten Ortes“ einen Nerv der Zeit, als er darin erstmals auf die für ein Gemeinwesen lebensnotwendige Bedeutung dieser Orte verwies.

Bei aller Unterschiedlichkeit sollte nach seiner Meinung ein derartiger Ort verschiedene Charakteristika aufweisen: Zum einen ist er neutraler Boden, der grundsätzlich allen Bevölkerungsschichten offen steht und niederschwellig bzw. leicht erreichbar ist. Zum anderen ist Konversation immer erwünscht, nicht nur unter Stammgästen, sondern unter allen Besuchern.

Neben diesen Charakteristika nennt der Autor verschiedene Merkmale und damit verbunden gesellschaftliche Impulse, die von diesen Orten ausgehen: Sie dienen und fördern die Demokratie, schon allein dadurch, dass sie öffentliche Räume schaffen. Sie können nachbarschaftliche Gemeinschaft und Freundschaft stiften und sind damit „Stärkungsmittel für den Geist“. Sie werden zu Versammlungsorten und gesellschaftlichen Bezugspunkten sowie Ausgangspunkt für bürgerschaftliches Engagement.

Ray Oldenburg hat bei allem Verständnis, dass der gesellige Aspekt seiner „dritten Orte“ auch Essen und Trinken einschließt, die Gefahr der ökonomischen Vereinnahmung gesehen. Zum einen – so betont der Soziologe – können Unternehmen selbst nicht dritte Räume schaffen und es bleibe ein wichtiges Kennzeichen, dass sie eben nicht in den Arbeitszusammenhang eingebettet seien. Zum anderen können auch jene Räume, welche die Menschen in ihrer Rolle als Konsumenten ansprechen, die wesentlichen Charakteristika nicht erfüllen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass man mittlerweile gerade den Einzelhandel retten will, indem man ganze Fußgängerzonen oder Shopping Malls als attraktive dritte Orte in Stellung bringt. „Für den stationären Handel besteht jetzt die dringende Notwendigkeit, ihre Geschäfte, Filialen und Läden zu ‚dritten Orten‘ zu machen“, formulierte bereits 2018 paradigmatisch Gerd Wolfram auf „zukunftdeseinkaufens.de“.

Auf die Frage, was nun im 21. Jahrhundert wichtige dritte Orte seien, antwortet Ray Oldenburg dagegen ganz eindeutig: „Bibliotheken, Gemeinderäume und Kirchen, neu gestaltete Jugendherbergen und Cafés, die sich jeder leisten kann.“

Der dritte Ort als Lernraum

In Bildungseinrichtungen und im Bibliothekswesen hat man wohl am intensivsten über die Anregungen des Soziologen an der University of Florida nachgedacht. Bei der neuen Konzeption von mancher Bibliothek und Volkshochschule standen die Grundgedanken des „dritten Ortes“ Pate: Zur zeitgemäßen Erfüllung ihrer Aufgabe dürfen Bildungseinrichtungen nicht nur Inhalte vermitteln und Bibliotheken nur Bücher verleihen, sondern sie sollten jene Räume schaffen, in denen Menschen sich kreativ austauschen können, neuartige Lernarrangements entstehen und in denen die gesellschaftlichen Diskurse geführt und mindestens indirekt Bürgerbeteiligung ermöglicht werden.

Die hier beschriebenen Diskussionen um eigene Orte des diskursiven Lernens und der Begegnung mit ihren je eigenen Spezifika kennen wir auch in kirchlichen Zusammenhängen. Bereits in den Gründungsdokumenten der katholischen Akademien, Landvolkshochschulen und Jugendbildungsstätten tauchen jene Beschreibungen auf, die als Charakteristika des dritten Ortes gelten. Auch in den aktualisierten Leitbildern der letzten Jahre finden wir sie bei den katholischen Bildungseinrichtungen ebenso wie bei den evangelischen, den kommunalen und verbandsgetragenen Schwesterorganisationen. Eine gesonderte Betrachtung des dezidiert katholischen Beitrages und damit die Zusammenführung mit anderen Diskussionen wie über die Gestaltung von sogenannten pastoralen Räumen stehen allerdings noch aus.

Was ist ein pastoraler Ort?

Das Adjektiv „pastoral“ bezeichnet zunächst nicht viel mehr als sein Synonym „seelsorgerisch“. Es geht beim Grundauftrag der Kirche darum, dass diejenigen Menschen, die sich vom Geist des Evangeliums leiten lassen, nicht nur die Lehre Christi verkünden und Gottesdienste halten, sondern sich dem Menschen zugewandt als Seelsorgende erweisen. Damit kann auch der gesamte Bereich der Caritas zum „pastoralen Raum“ werden. Gleiches gilt für katholische Schulen, Bibliotheken und allgemein auch Bildungseinrichtungen. Sie dienen dem Menschen und erfüllen damit den Auftrag der Seelsorge.

Gleichzeitig wurde der Begriff in den letzten Jahren stark kirchenrechtlich verstanden. Einzelne Gemeinden gingen in größeren Seelsorgeeinheiten auf und wurden als neue pastorale Räume definiert. In manchen Dokumenten blieb man allerdings nicht bei organisatorischen Fragen stehen, sondern verwies bewusst auf die notwendige Einbeziehung von Bildungs- und Begegnungsorten als Teil pastoraler Räume von Kirche heute.

Wer vor einigen Jahrzehnten die Frage gestellt hätte, wo Kirche und Seelsorge „verortet“ ist, hätte wahrscheinlich verständnisloses Kopfschütteln geerntet. Der Ort der Kirche war zuallererst das Gotteshaus, eben die Kirche selbst. Auch wenn zum Kirchturm immer das danebenliegende Gemeindehaus mitsamt Bücherei und ggf. dem Kindergarten gehörte. Dies hat sich längst geändert, über den Bereich der kategorialen Seelsorge hinaus!

Christliche Begegnung nach der Pandemie

Gerade in Zeiten eines aufgezwungenen Verzichts realer Begegnungen wurde deutlich, wie sehr uns die verschiedenen Orte prägen und wie sehr Bildung und Begegnung ein untrennbares Zwillingspaar darstellen: Natürlich kann man sich auch alleine fortbilden und man kann sich auch begegnen, ohne dies zu reflektieren und dabei etwas zu lernen. Aber wie hat Albert Einstein so treffend formuliert „Lernen ist Erfahrung – alles andere ist nur Information“ – oder wie es der Jesuit Norbert Brieskorn einmal auf den Punkt brachte: „Jede Erfahrung ohne Reflexion ist Verschwendung!“

Christliche Bildungshäuser können derartige Räume öffnen, die wir dringend für uns selbst als stets lernende und reflektierende Menschen in einer bewegten Welt und gleichzeitig für unsere demokratische Gesellschaft benötigen. Aber was unterscheidet kirchliche Tagungshäuser von anderen Anbietern und sogenannten dritten Orten?

Spezifika kirchlicher Tagungshäuser

Kirchliche Tagungshäuser können ihr eigenes und unverwechselbares Profil nur entfalten, wenn der Kern ihres Auftrages immer wieder deutlich wird und sich auch in den alltäglichen Dingen beweist. Dieser Kern besteht in dem zugrundeliegenden Menschenbild und dem damit verbundenen Weltbild. Wenn der Mensch in seiner unantastbaren Würde im Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns steht, dann geht eine besondere Kultur der Gastlichkeit weit über das hinaus, was grundsätzlich als Kundenorientierung, nachhaltiges Wirtschaften und professionelles Management nötig ist.

Als Christen begründen wir die Menschenwürde aus der „Gottesebenbildlichkeit“ des Menschen und so gehört die Gastfreundschaft zu einem kirchlichen Grundauftrag. In der Begegnung mit dem Fremden können wir dem Größeren begegnen, das wir Gott nennen. Abraham nimmt sich dreier Fremder bei den Eichen von Mamre an, beherbergt sie und erfährt erst dann, dass er in ihnen Gott selbst begegnet ist (Gen 18,1-10). Und im Hebräerbrief ist es wunderbar formuliert: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht, denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt“ (Hebr 13,2).

Wer christliche Werte wie die Gastfreundschaft, aber auch die in der Katholischen Soziallehre grundgelegte Förderung von Gerechtigkeit, Solidarität, Bewahrung der Schöpfung etc. ernst nimmt, muss sich auch im Handeln daran messen lassen. Das beginnt beim Umgang miteinander und damit bei einer professionellen Personalführung und es schließt auch die Ausrichtung des Wirtschaftens auf Nachhaltigkeit im weitesten Sinne ein. Das Zusammenbringen von Werten und Wirtschaften ist kein Widerspruch, sondern ein zu bewältigendes Spannungsfeld.

Wenn Tagungshäuser zu Recht als christliche erkannt werden sollen, dann bringen sie als Repräsentanten der Kirche durch ihr Handeln die christliche Botschaft in die Gesellschaft ein. Und sie können im besten Falle Verweisungsorte sein auf die spirituellen Angebote und damit Einladungen zur religiösen Dimension der Kirche in der alltäglichen Welt.

Konzepte wie Ray Oldenburgs Definition von sogenannten „dritten Orten“ als wichtige und tragende Säulen einer Gesellschaft werden dazu eine Anregung sein. Jede Leserin und jeder Leser findet sich in den Beschreibungen wieder und erinnert sich an zahlreiche und prägende Begegnungen an den eigenen „dritten Orten“. Gerade in den zurückliegenden Monaten des Lockdowns und damit der Schließung jener Orte wurde deutlich, wie sehr wir sie als Individuum und ebenso als Gesellschaft benötigen und sie uns fehlen!

Auf der Internetseite www.kirchliche-tagungshaeuser-deutschland.de findet sich eine Übersicht von über 60 kirchlichen Tagungs- und Bildungshäusern.

Zuletzt aktualisiert: 06. Dezember 2021
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