Wir haben gelernt, damit umzugehen

01. Januar 1900 | von

Es erscheint keinesfalls als selbstverständlich, daß heute Juden in dem Land, von dem die systematische Vernichtung von sechs Millionen Juden ausging, leben. 1933 gab es in Deutschland cirka 500.000 Juden. Daß die meisten sich als deutsch verstanden und assimiliert waren, schützte sie nicht vor Verfolgung. Nach 1945 kehrten nur wenige zurück. Hinzu kamen osteuropäische KZ-Überlebende, für die Deutschland Station auf dem Weg nach Israel oder Amerika sein sollte. Doch dann blieben manche, andere kamen noch hinzu, und so ergab sich eine Zahl von rund 30.000 Juden in Deutschland bis in die 80er Jahre hinein (zum Vergleich 1980: Schweiz 20.000, Österreich 8.000, USA fast 6 Millionen, Israel über 3 Millionen der weltweit cirka 15 Millionen Juden).
Die Situation ändert sich seit den 80er Jahren durch die Einwanderung von Juden aus der ehemaligen UdSSR. Heute wird die Zahl der Juden in Deutschland auf über 70.000 geschätzt, und der Zustrom ist noch nicht beendet. Neue Gemeinden entstehen, für die bestehenden bedeutet es eine große Umstellung (vgl. zu diesem Thema Sendbote Oktober 1998).

Gemeinden etabliert. Aufgrund der kleinen Zahl nach dem Krieg entschied man sich damals für die Einrichtung von Einheitsgemeinden, in denen sich verschiedene religiöse Richtungen (z.B. orthodox, konservativ, reformiert) zusammenschlossen. Die größten Gemeinden entwickelten sich in Berlin, München und Frankfurt. Heute gibt es aber auch eine internationale Dachorganisation für liberale Gemeinden mit einigen deutschen Gruppen, in denen beispielsweise auch auf deutsch gebetet wird und Frauen gleiche Rechte und Pflichten haben.

Glaubensgemeinschaft gelockert. Viele Gemeinden unterhalten Kindergärten und Altenheime. Eigene Schulen sind noch selten, doch gibt es jetzt Richtlinien für jüdischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Bislang fand dieser Unterricht nur in der Gemeinde statt. Letztlich ist aber bei jüdischen Jugendlichen das Interesse an Glaubensfragen nicht unbedingt größer ist als bei ihren nicht-jüdischen Altersgenossen. Nur wenige besuchen die Gottesdienste. Etwa zwei Drittel der jungen Juden heiraten Nichtjuden, wodurch die Glaubensweitergabe an die Kinder schwierig werden kann. Nur manchmal tritt ein Partner zum Judentum über. Übertritte gibt es auch von anderen Deutschen, doch ist dieser Schritt nicht sehr einfach. Da es in Deutschland derzeit kein eigenes Rabbinat – ein Gremium von drei orthodoxen Rabbinern, das vom Oberrabbinat in Jerusalem anerkannt werden müßte - gibt, kann er nur in anderen Ländern (v.a. Israel) erfolgen und bedarf einer langen Vorbereitung. Die momentan in Deutschland arbeitenden Rabbiner kommen übrigens aus dem Ausland. Es fehlen interessierte Männer aus dem eigenen Land, aber auch entsprechende Ausbildungsstätten.

Mahnende Stimme. Verglichen mit ihrer geringen Zahl spielen die Juden in Deutschland eine große Rolle. Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist immer wieder eine mahnende Stimme, wenn es um Toleranz und ein friedliches Miteinander geht. Es ist auch seine Aufgabe, an die Opfer der Nazis zu erinnern. Dies erscheint umso wichtiger, wenn man an die Übergriffe auf Ausländer und jüdische Einrichtungen der letzten Jahre denkt. Polizeiwagen und Sicherheitsdienste vor den Synagogen erzeugen in mir ein beklemmendes Gefühl bei Besuchen dort, scheinen aber leider immer noch nicht überflüssig zu sein.

Diskussion vorprogrammiert. Um nicht nur aus der vierzehntäglich erscheinenden Jüdischen Allgemeinen, den Gemeindezeitungen, dem Internet und Büchern etwas über das jüdische Leben in Deutschland zu erfahren, traf ich mich mit jungen Juden aus Köln. Shoshanna, David, Isi, Offir und Nomi (Namen z.T. aus Sicherheitsgründen geändert) sind zwischen Ende 20 und Mitte 30, vier haben gerade ihr Studium beendet oder stehen kurz vor dem Examen (Architektur, Betriebswirtschaft, Judaistik), einer arbeitet im Handwerk. Unser Gespräch verlief teilweise äußerst lebhaft, da die fünf oft unterschiedliche Ansichten hatten und dann miteinander zu diskutieren begannen. Shoshanna fühlte sich an das Sprichwort erinnert: Wo zwei Juden miteinander reden, gibt es drei Meinungen!

Judentum heute. Das begann schon bei meiner ersten Frage nach der Bedeutung des Judentums für jeden einzelnen:
David: Das ist ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das man schlecht beschreiben kann.
Offir: Also erstmal bedeutet es, eine jüdische Mutter zu haben und dem jüdischen Volk anzugehören. (So lautet die offizielle Definition im jüdischen Gesetz.)
Isi: Aber es ist doch in erster Linie eine Glaubensgemeinschaft!
Nomi: Ja, das alles auch, aber für mich ist auch der Jahreslauf wichtig, der Festkalender: daß ich Pessach feiere, Chanukkah und so weiter. Durch diese Fixpunkte macht meine Religion das Jahr aus.
Isi: Mich interessiert dabei gar nicht so sehr die Gemeinde, mich interessiert die Familie. Früher war bei uns am Freitagabend die ganze Familie zum Kabbalat Schabbat zu Hause. Das war für mich mehr Judentum, als in die Gemeinde zu gehen.
David: Judentum bedeutet für mich aber noch eine Vergangenheit. Die Familie mußte versuchen zu überleben. Das bringt einen Zusammenhalt, auch heute noch.
Shoshanna: Das stimmt, das ist ein Teil des Judentums: Das Überleben.
Offir: Also ich finde, das hat für uns heute relativ wenig Bedeutung! Ich lebe hier - ich über-lebe hier nicht. Deshalb ist Judentum für mich nicht so sehr die Vergangenheit, sondern für mich ist der Gedanke des Volkes wichtig. Daß das jüdische Volk auch die jüdische Religion hat, ist etwas Nebensächliches, es gibt ja auch christliche Juden wie Edith Stein.
Shoshanna: Ich finde aber wichtig, was David meint. Wir tragen ein Vermächtnis als Juden durch die Jahrtausende alte Geschichte. Das macht auch meine Form des Judentums aus.

Glaubenszugang - individuell. Entsprechend unterschiedlich fiel auch die persönliche Zuordnung zu einer religiösen Richtung innerhalb des Judentums aus. Während Shoshanna eine liberale Einstellung hat und zum Beispiel für die Gleichstellung von Mann und Frau auch in der Synagoge eintritt, fühlen sich Isi und Nomi im traditionellen oder konservativen Judentum heimisch. Offir bezeichnet sich als Agnostiker: Ich glaube nicht, daß es Gott gibt, aber ich schließe die Möglichkeit seiner Existenz nicht aus. David gehört gar keiner Gemeinde mehr an. Seine Lebensphilosophie: Man kann nur Göttliches erreichen, wenn man selbst Mensch ist. Man muß sich als Mensch verhalten und die anderen tolerieren.

Da also keiner in der Runde streng religiös ist, fühlen sie sich gar nicht oder nur teilweise an die jüdischen Speisegesetze gebunden. Wer diese in Köln einhalten will, ist übrigens vor allem auf das belgische Antwerpen angewiesen, um entsprechende Lebensmittel zu bekommen. Dort gibt es eine größere Gemeinde und viele chassidische Juden. Auch hält sich keiner an die strenge Auslegung der Gebote zum Schabbat.

Jüdischer Alltag. Trotzdem spielt das Jüdisch-Sein im Alltag eine Rolle. Shoshanna betont dabei:
Shoshanna: Wenn ein Kind da ist, verändert sich alles. Jetzt achtet man plötzlich auf verschiedene Dinge: kein Schweinefleisch, nicht Milchig und Fleischig zusammen und so weiter. Wir beten das Morgen- und Abendgebet, feiern Schabbat. Das Kind soll ja nicht nur im Kindergarten lernen, was es heißt, jüdisch zu sein.
Nomi: Aber als Single ist das schwierig...
Offir: Ich mache auch nur wenig. Am Schabbat geht es zu meinen Eltern und so. Aber ich faste noch nicht mal an Jom Kippur.
Shoshanna: Ehrlich? Naja. Bei uns hängt auch das Birkat Habajit, das `Hausgebet´. Das sind alles so Kleinigkeiten...

Rolle der Gemeinde. Meine nächste Frage bezog sich auf die Rolle der Gemeinde. Anders als bei Christen spielt die Gemeinde auch für nicht-religiöse Juden eine Rolle. So haben sich meine Interviewpartner beispielsweise in der Jugendarbeit der Gemeinde oder einer jüdischen Organisation engagiert.
Offir: Man trifft sich. Mir ist es egal, ob jemand zum Beten hingeht oder nur, um mit anderen Juden zusammen zu sein. Das einzige, was mich stört, ist, wenn jemand die Gemeinde als Kultusgemeinde mißbraucht, insofern es ihm nur um
Theatersachen oder so etwas geht, was nichts mehr mit dem Judentum zu tun hat. Mir ist auch wichtig, daß eine Gemeinde das Judentum nach außen hin vermittelt.
Isi: Die Gemeinde bei uns ist eigentlich keine Bet-Gemeinde. Allerdings braucht man für gewisse Feiertage ein Minjan (d.h. mindestens zehn Männer), und das bietet mir nur die Gemeinde. Ansonsten trifft man sich zum Sportfest, zum Chanukkah-Ball...
Nomi: Man trifft sich zum Beispiel auch in kleiner Runde zuhause mit dem Rabbiner und spricht über ein aktuelles oder religiöses Thema. Wenn ich allerdings ein Problem habe, würde ich nie auf den Gedanken kommen, zum Rabbiner zu gehen.

Neuer Antisemitismus. Noch in anderer Hinsicht wird meinen Gesprächspartnern immer wieder bewußt, daß sie Juden sind, nämlich von außen durch Antisemitismus. Dabei haben alle festgestellt, daß die anonymen Anrufe und Hakenkreuz-Schmierereien zuletzt abgenommen haben. Dafür gebe es zunehmend judenfeindliche Äußerungen von anderer Seite:
Offir: Es laufen auch unter den Professoren Vorurteile wie `Juden haben alle lange Kotelletten, sind alle intelligent und geschäftstüchtig´.
Nomi: Das findet man auch bei Wirtschaftsleuten...
Shoshanna: ...Da kommen ganz krasse Benachteiligungen.
David:Mich hat ein Professor nach meinem Namen gefragt, und der war wohl nicht so deutsch, wie er sich das vorstellt. Da hat er mich nach meinem Arier-Nachweis gefragt! Das ist der neue Antisemitismus.
Shoshanna: Es gibt viele versteckte Dinge...
Nomi: Letztens habe ich im Internet etwas gesucht. Dabei landete ich auch bei einem ganz rechten Journal. Da standen schon einige ganz extreme Sachen...
Offir: Neben dem wirklichen Antisemitismus gibt es auch so ein Belächeln von Juden. Viele Leute haben im Hinterkopf die Juden mit langen Paies (Schläfenlocken), die alle weltfremd sind. Das ist nicht so sehr ein Haß gegen Juden, aber Klischees, die ein Nährboden für Antisemitismus sein können. Die Leute sind eben zum Teil unaufgeklärt, auch Schüler.

Vorurteile überwinden. Wir sprachen auch über Möglichkeiten, Vorurteile und Judenfeindschaft zu überwinden. Hierbei waren sich alle einig, daß es einen Antisemitismus gibt, den du niemals aus einigen Köpfen herauskriegen wirst und gegen den du nichts machen kannst, und einen, der aus Unwissenheit und Vorurteil entsteht. Das ist der einzige, gegen den du was machen kannst, indem du als Gemeinde Präsenz zeigst. (Offir).

Isi: Die meisten Deutschen können mit Juden nicht umgehen, weil es viel zu wenige sind. Aber wir können nicht mit der Vergangenheit und der Zukunft umgehen, weil wir zu wenige sind. Wenn schon die Schulkinder normalen Umgang hätten, wäre das anders.
Shoshanna: ...wenn die Leute einsehen, daß wir ganz normale Menschen sind, die sich in nichts weder äußerlich noch innerlich von einem Deutschen unterscheiden.
Offir: Ein Problem ist dabei: Es gibt so viele christliche Gemeinden, die mit Juden zusammenarbeiten wollen, damit man sich kennenlernt, auch um Vorurteile abzubauen, aber es gibt eben nicht so viele Synagogengemeinden.

Isi: Es gibt auch die Gefahr, daß zu viel gemacht wird: Dann werden wieder Filme wie `Schindler´s Liste´ gezeigt. Es muß aber viel dezenter geschehen. Vieles ist so zwanghaft...

Vermächtnis Holocaust. Unweigerlich kamen wir so auch auf den Einfluß der Schoah (neuhebräische Bezeichnung für den Holocaust) für ihr Leben zu sprechen. Sie gehören ja der zweiten und dritten Generation an, sind die Kinder und Enkel der Opfer. In Veröffentlichungen über jüdische Jugendliche und jungen Erwachsene in Deutschland liest man oft über deren schwierige Situation. Meine Gesprächspartner sahen dies differenzierter:
Offir: Wir sind so weit im Schatten des Holocaust, weil die Gesellschaft ihn so sehr im Nacken hat. Die Leute sollen den Holocaust nicht vergessen, aber mich auch nicht ständig nur aus dieser Perspektive angucken.
Shoshanna: Das war doch schon in der Schule: Ihr macht das Thema Holocaust, und alle gucken auf dich, der Lehrer wird ganz verlegen.
Offir: Ich habe damit keine Probleme. Ich versuche, den Leuten normalen Umgang zu ermöglichen. Deshalb arbeite ich auch in der Öffentlichkeitsarbeit, um zu zeigen: Judentum hat nichts mit Komplexen zu tun.
Shoshanna: Keiner aus unserer Generation hat Probleme mit dem, was passiert ist. Wir haben gelernt, damit umzugehen. Nun ist das für uns als Opfer vielleicht auch leichter. Wobei ich schon sagen muß, daß wir als die Nachkommen der Opfer doch beschützter aufgewachsen sind.
Nomi: Meine Großeltern waren immer sehr besorgt, daß wir Anlaß für Gerede geben könnten. Es sollte nichts über uns Juden gesagt werden. Deshalb mußten wir uns immer gut benehmen.
Shoshanna: Auch meine Oma hat sich immer als Deutsche verstanden. Was hier passiert ist, hat nichts mit ihrem Deutschtum zu tun.
Isi: Andererseits haben wir schon manchmal ein Problem mit der Vergangenheit, genau wie die Deutschen: Wie konnten unserer Großeltern oder Eltern uns in dieses Land bringen mit dieser Vergangenheit? Das fragt man sich schon manchmal.

Shoshanna lenkte in diesem Zusammenhang das Gespräch auf die Frage nach nicht-jüdischen Freunden. Hier fanden sich wieder deutliche Unterschiede: Einige haben viele nicht-jüdische Freunde, andere Befragte dagegen gar keine. Während z.B. Isi betont, daß er im Zusammensein mit Juden und Israelis den Eindruck habe, mit denen auf einer Wellenlänge zu sein, empfindet Nomi solche Treffen eher als oberflächlich und schwierig, weil immer nur über andere Juden geredet würde.

Assimilation und eigene Identität. Nomi war es dann, die am Ende unseres Gesprächs ihre Gedanken über das jüdische Leben in Deutschland und dessen Zukunft noch einmal auf den Punkt brachte: Wir sehen unsere Zukunft und die unserer Kinder in Deutschland. Unsere Generation ist auf´s Bleiben eingestellt. Es gibt wieder ein deutsches Judentum, das an die Vorkriegszeit anknüpft. Es gibt eine eigene Kultur, aber wir sind gleichzeitig an die deutsche Gesellschaft assimiliert.

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016