Zeuge der kommenden Zeit
Franziskus hatte sich vorgenommen, das heilige Evangelium in allem und durch alles zu beobachten. Sein Biograph Thomas von Celano schrieb: “Mit aller Wachsamkeit, allem Eifer, der ganzen Sehnsucht seines Geistes und der ganzen Glut seines Herzens suchte er vollkommen der Lehre unseres Herrn Jesus Christus zu folgen und seinen Fußspuren nachzuwandeln“ (1Cel 84). Jesus Christus also war für ihn Orientierung, an ihm nahm er Maß für seine ganze Lebensführung.
Schon Jesu Taufe am Jordan durch Johannes war eine prophetische Tat. Er wollte Zeugnis geben für Gott. Die Urkirche sah von Anfang an in Jesus den neuen und zugleich letzten, unwiederholbaren Propheten, der in seiner Person, in seinen Worten und Werken offenbarte, wer und wie Gott ist.
Was ist ein Prophet? Schon nach dem Verständnis des Alten Testamentes ist der Prophet ein “Rufer“, der für Gott und an Gottes Stelle den Menschen etwas mitteilt beziehungsweise bezeugt. Diese Botschaft kann durch Worte, aber auch durch Taten übermittelt werden. Die alttestamentlichen Propheten verbanden ihre Verkündigung mit auffallenden, zeichenhaften Handlungen. So trug zum Beispiel der Prophet Jeremia ein Ochsenjoch auf seinen Schultern, um zum Gehorsam gegenüber Gott zu ermahnen. Paulus forderte im ersten Brief an die Korinther: “Strebt aber auch nach den Geistesgaben, vor allem nach der prophetischen Rede“ (1Kor14,1). “Wer aber prophetisch redet, redet zum Menschen: Er baut auf, ermutigt, spendet Trost“ (1Kor14,3). Der Prophet ist also keiner, der sich etwas anmaßt, keiner, der mit einem persönlichen Anspruch vor die Menschen hintritt; bei ihm und durch ihn ist Gott am Werk. Wer auf diese Weise Sprachrohr Gottes sein soll, muss sich IHM vorher ausgeliefert haben, denn der Prophet ist nicht einfach ein lebloses Medium oder eine Sprechmaschine, sondern Gott bedient sich seiner Gefühle, seines Willens, seines Verstandes und seines Mundes, um zu wirken.
Frei für den Geist des Herrn. Franziskus war schon einen langen Umkehrweg gegangen, als es zum Prozess mit seinem Vater kam. In diesem Prozess gab er vor dem Bischof und dem versammelten Volk seine Privatexistenz auf. Zeichenhaft gab er seine Kleider an den Vater zurück und sagte: “Bis jetzt habe ich dich, Pietro Bernadone, auf Erden meinen Vater genannt, jetzt aber kann ich voll Vertrauen sprechen: Unser Vater, der du bist im Himmel, bei dem ich alle meine Schätze hinterlegt und auf den ich meine ganze Hoffnung gesetzt habe“.
An diesem Punkt gab Franziskus endgültig seine Privatexistenz auf, damit er zum Propheten werden konnte.
Paulus schrieb an die Korinther: Wer prophetisch redet, baut auf. Franziskus wuchs immer mehr in diesen Dienst hinein. Der heilige Bonaventura berichtet, dass Franziskus einmal vor dem Papst und den Kardinälen predigen sollte und deswegen mit viel Mühe eine Predigt vorbereitete und auswendig lernte. Als er jedoch vor den hohen Herren stand, hatte er alles vergessen und konnte kein Wort herausbringen. Franziskus war so frei, dies vor den hohen Herren auszusprechen. Dann rief er den Heiligen Geist um Hilfe an: “Plötzlich strömten aus seinem Munde so machtvolle Worte, dass er die Gemüter der erlauchten Herren zur Einkehr bewegen konnte und allen Hörern klar war, hier redete nicht er, sondern der Geist des Herrn“ (Bonaventura, Großes Franziskusleben XII,7). Franziskus hatte seine Grenzen erfahren und sie akzeptiert; er stand mit leeren Händen vor Gott. An diesem Punkt konnte sich Gott seiner bedienen – und Franziskus den Prophetendienst leisten.
Treffsicherer Mahner. Nach Paulus gehört zum Dienst des Propheten auch die Ermahnung. Auch dafür gab sich Franziskus her. Ein besonders krasses Beispiel lieferte er an einem Osterfest in der Einsiedelei Greccio. Die Brüder hatten den Tisch mit weißem Tuch und Glasgeschirr gedeckt. Franziskus kam aus seiner Zelle und sah den Tischdekor. Er ging wieder zurück, kleidete sich wie ein Bettler und wartete, bis die Brüder mit dem Essen begannen. Dann klopfte er an die Tür und rief: “Um der Liebe Gottes des Herrn willen gebt einem armen und schwachen Pilger ein Almosen“.
“Tritt ein, Mann“, antworteten die Brüder, “um der Liebe dessen willen, den du angerufen hast“. Er trat ein und versetzte seine Brüder in Staunen und Erschrecken. Sie reichten ihm ein Schüsselchen, er setzte sich auf den Boden und sagte: “Jetzt sitze ich zu Tisch, wie ein Minderbruder“. Und er fuhr fort: “Uns müssen die Beispiele der Armut des Gottessohnes mehr als die anderen Ordensleute verpflichten“. Gibt es eine intensivere Ermahnung? Der Prophet Franziskus hat ein Gespür für treffsichere Gesten.
Vorhut der kommenden Welt. Der Prophet Franziskus spendete auch Trost. Nach einem langen Aufenthalt in Poggio Bustone, der von Gebet und Meditation geprägt war, kam er zurück zu den Brüdern und machte ihnen Mut. Lasst euch nicht traurig machen, weil wir nur wenige sind, sagte er. Auch meine und eure Einfalt soll euch nicht schrecken. Zu einer sehr großen Schar wird Gott uns anwachsen lassen und bis an die Grenzen der Erde uns mehren und ausbreiten. Als die Brüder das hörten, waren sie getröstet und wurden froh.
Gewöhnlich versteht man unter einem Propheten einen Menschen, der Künftiges voraussagt. Ja, er selbst ist vorweggenommene Zukunft. Franziskus sagte öfter Künftiges voraus, zum Beispiel prophezeite er dem christlichen Kreuzzugsheer in Ägypten, es werde eine bittere Niederlage erleiden, wenn es das muslimische Heer angreife. So geschah es auch. Wichtiger aber ist, dass er selber ein Mann der Zukunft war.
Die katholische Schriftstellerin Ida Friederike Görres schrieb: “Gott beruft Menschen, das Kommende darzustellen, damit auch diese Zukunft schon unter uns begonnen hätte, wenn auch noch in Knechtsgestalt. Nicht um die Übrigen zu beschämen und zu entwerten, sondern um ihnen zu zeigen, wohin sie unterwegs sind – als eine eschatologische Vorhut“. Franziskus war durch sein Zeugnis ein solcher Prophet der kommenden Weltzeit. In ihm wurde die Zukunft schon im “Hier und Jetzt“ sichtbar. Celano schrieb: “Es hoffen die Männer, es hoffen die Frauen, es eilt der Klerus, es strömen die Ordensleute herzu, um den Heiligen Gottes zu vernehmen und zu hören, der allen ein Mann aus einer anderen Welt zu sein schien“. An anderer Stelle nennt er ihn “Mensch des anderen Zeitalters“, denn Franziskus lebte hingegeben an Gott in Gebet und Freude.
Unbehaust wie ein Narr. Franziskus, der Prophet der kommenden Welt, fand es notwendig, in dieser Welt wie ein Pilger und Fremdling zu leben. Er wollte dem Herrn in Armut und Demut dienen, wie dies Pilger und Fremdlinge tun (vgl. Bullierte Regel, Kap. 6). Das hatte sehr konkrete Konsequenzen. Nirgends in der Welt wollte er ein Zuhause haben. Er hatte kein Haus, wohin der sich hätte zurückziehen können, keine Frau, keine Familie, keinen heimatlichen Herd, keinen Besitz in der Hinterhand. Er führte ein Leben ohne Schutz vor den harten Seiten des menschlichen Daseins. Er wählte dieses Leben freiwillig, weil ihm aufgegangen war, dass man in dieser Welt nicht ganz zu Hause sein kann. Er suchte seine Heimat beim Herrn.
Auf diesem Weg wurde Franziskus für viele Menschen seiner Zeit zum Narren. Er selbst sagt: “Der Herr sprach zu mir, dass ich nach seinem Willen ein novellus pazzus in mundo (ein neuer Narr in der Welt) sein soll“. Es darf nicht verwundern, dass ein prophetischer Mensch in dieser Welt fremd erschien und ihre Ablehnung und ihren Spott auf sich zog. Aber Franziskus konnte nicht anders.
Berufen und beschenkt. Damit sind einige wesentliche Züge des Propheten genannt: Er baut auf, er ermahnt, er tröstet, er nimmt die Zukunft vorweg. Unsere Zeit, die unter Gleichmacherei, Entpersönlichung und Vermassung leidet, aber auch unter Angst und Resignation, hält Ausschau nach Menschen, die sich dafür hergeben, dass Gott sich ihrer als Propheten bedienen kann. Das Geheimnis des Franziskus zeigt: Niemand kann sich zum Propheten machen. Gott allein erwählt und sendet. Der Mensch aber kann sich von ihm rufen, beschenken und senden lassen.