Zion, stimm ein Loblied an
In dieser neuen Artikelfolge werden Texte und Lieder vorgestellt, die als Hymnen ein wesentlicher Bestandteil des offiziellen Betens und Singens unserer Kirche sind. Der Hymnus ist in erster Linie Lobpreis Gottes, und seine Schöpfer nutzen seit den Anfängen in der Bibel die ganze Vielfalt der Dichtkunst aus. Der erste Beitrag der Serie bringt einen Überblick über die Hymnologie und ihre Entfaltung.
Hymnen sind Bestandteil des „offiziellen" Gebetes in der Liturgie. Sie sind gedichtete und zu singende Texte, die zur Eucharistiefeier und zum Stundengebet der Kirche (z.B. Laudes und Vesper) gehören. Sicher hat schon jeder von uns Hymnen in einem Vesper-Gottesdienst gehört, mitgebetet und -gesungen. Ja, auch der vielstrophige Hymnus, der in volkstümlicher Form zu Fronleichnam gesungen wird, ist bekannt: „Deinem Heiland, deinem Lehrer, deinem Hirten und Ernährer, Zion, stimm ein Loblied an!"
Der Hymnus ist etwas anderes als ein Lied. Das Lied ist in seinen Melodien und Texten emotionaler und gemütsvoller. Das Lied ist mehr den Menschen zugewandt, der Hymnus theozentrisch. Der Hymnus ist in erster Linie Lobpreis Gottes.
Das griechische und lateinische Wort „Hymnus" kommt von hyphein (= weben). Das sagt uns: Der Hymnus ist ein Gewebe von Gedanken, ein Gewebe von Melodien – ein Kleid von Texten und Lied. Hymnen finden wir in den Psalmen. Sie sind erzählender Lobpreis, der das Walten des Bundesgottes in der Schöpfung und in der Heilsgeschichte rühmt. Im Ersten Testament gelten etwa 33 Lobpsalmen und ähnliche Preisungen, zum Beispiel im Jesajabuch, als Hymnen.
Charakteristisch ist die Grundstruktur. Einem Aufruf zum Gotteslob folgen im Hauptteil die preiswürdigen Eigenschaften der Großtaten JHWHs in Natur und Geschichte. Den Abschluss findet der Hymnus manchmal in einer Wiederholung des Anfangs, jedenfalls in einem Lobpreis (Doxologie).
Aus Psalm 147:
Jerusalem, preise den Herrn,
lobsinge, Zion, deinem Gott! (V.12)
Der Herr baut Jerusalem wieder auf,
er sammelt die Versprengten Israels. (V. 2)
Er heilt die gebrochenen Herzen ... (V. 3)
Er bestimmt die Zahl der Sterne
Und ruft sie alle mit Namen. (V. 4)
Im Neuen Testament zählen zu den Hymnen psalmartige Texte wie das Magnifikat Mariens (Lk 1,46-55) und das Benediktus des Zacharias (Lk 1,68-79). Eine eigenständige Einheit ist der Prolog zum Johannesevangelium (Joh 1,1ff).
Lobpreis der ersten Christen
Schon die ersten Christengemeinden drückten ihren Lobpreis in Hymnen aus. Oft unterbricht Paulus Rede und Gedankenfluss, um einen Hymnus einzufügen. Vielleicht kannte er manche dieser Hymnen aus dem altchristlichen Gottesdienst.
Der Hymnus auf die Menschwerdung Gottes, auf Christi Herabsteigen zu uns, um uns in die Herrlichkeit Gottes hinaufzuführen, stammt aus einem vorgegebenen altchristlichen Gottesdienst:
Christus Jesus war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich ..., damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu (Phil 2,6f-10).
Aufschwung und Argwohn
Von der altchristlichen Hymnendichtung, in der Tagzeitenliturgie entstanden und überliefert, ist uns nur der Text des „Gloria in excelsis Deo" (Ehre sei Gott in der Höhe) und das „Te deum laudamus" (Großer Gott, wir loben dich) erhalten geblieben.
Die größte Persönlichkeit unter den Sängern und Dichtern griechischer Sprache ist Johannes von Damaskus. Er war christlicher Araber, Finanzminister des Kalifen und Mönch in Palästina, der größte Theologe des Nahen Ostens.
Wer sich eine Vorstellung von diesen Gesängen machen will, braucht sich nur eine Einspielung des berühmten marianischen Hymnus „Akathistos" zu beschaffen.
Im 3. und 4. Jahrhundert sprachen Kirchensynoden und Konzilien ein Verbot der Hymnen im christlichen Gottesdienst aus. Der Hintergrund: Gedanken aus heidnischen Mysterienkulten waren im Deckmantel dichterischer Freiheit in manche Hymnen eingeflossen. Die Gefahr der Entartung biblisch-christlichen Glaubens durch heidnisches Gedankengut war gegeben. Das hatte zur Folge, dass die Psalmen, die bisher als Lesungstexte vorgetragen wurden, nun die Stelle der Hymnen einnahmen.
Doch die verbannten Hymnen kehrten wieder heim. Der 6. April in der Karwoche des Jahres 385 wurde zum denkwürdigen Tag der Wiedereinführung des Hymnengesanges. Bischof Ambrosius sollte eine Kirche den Arianern, die in Christus nur das höchste Geschöpf sahen, übergeben. Doch das Aufgebot des Militärs, das dem Bischof der arianischen Kaiserin Justina unterstand, zog sich zurück, nachdem Ambrosius eine Nacht lang die Kirche nicht verließ und mit dem Volk seine von ihm gedichteten Hymnen sang.
Seit dem Ende des 6. Jahrhunderts nahmen die Hymnen ihren Platz zur Eröffnung der Tagzeiten-Liturgie ein. Die Hymnen eroberten nun das Abendland.
Aus dem ältesten Marienhymnus „Akathistos" (Ave, maris stella) zur Vesper der Marienfeste:
Ave, Stern des Meeres,
Holde Gottesmutter,
Dennoch allzeit Jungfrau,
Selig Tor zum Himmel.
Zeig, dass du bist Mutter:
Dir erhör die Bitte,
Der, für uns geboren,
Dein zu sein nicht scheute.
Tradition der Klöster
In der Klosterliturgie gehörten die Hymnen im ersten Jahrtausend zum festen Element des Chorgebetes, obwohl Ambrosius seine Hymnen für die Gemeinde schuf, als Gesang aller, als Element der „Kathedralliturgie" – wir würden sagen der liturgischen Feiern einer Pfarre.
Hymnen wurden in den späteren Jahrhunderten „ambrosianisch" genannt (so auch in der Regel Benedikts!), möglicherweise um sie im Namen des allgemein anerkannten Hymnendichters zu autorisieren. Die Hymnen blieben fester Bestandteil des Stundengebetes. Sie wanderten durch das Abendland bis nach Island. Aus den fränkischen, gallischen Gebieten kamen sie bis Rom.
Die bis zum Ende des Mittelalters hauptsächlich für die neuen Heiligenfeste entstandenen Hymnen sind der Zahl nach einige Tausende. Die altkirchlichen Hymnen kamen immer weniger zu Wort, und ihre nach Form und Sprache normierende Kraft wurde unwirksam. Das brachte eine Inflation der liturgischen Hymnendichtung mit sich.
In der monastischen Tradition des Mittelalters diente der Hymnus oft als literarische Form theologischer Aussagen. Das Gotteslob der Hymnen wurde zum Ausdruck theologischer Erkenntnisse. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Hymnus für das Fronleichnamsfest, in dem Thomas von Aquin die gesamte Eucharistielehre vorstellt.
Die Klöster übten eine wertvolle Sammeltätigkeit, um die Hymnen der Nachwelt zu bewahren. Die lateinischen Dichtungen wurden in die germanischen Sprachen übersetzt. Ein besonderes Beispiel dafür sind die „Murbacher Hymnen", eine Übertragung in das Althochdeutsche, verfasst auf der Reichenau im 9. Jahrhundert. England besitzt eine reiche Übersetzungstradition. Die Übersetzungen der Hymnen der Tagzeitenliturgie dienten nicht nur dem besseren Verständnis, sie sind zum historischen Ursprung des in der frühen Neuzeit so wichtigen Kirchenliedes geworden.
Der Hymnus nimmt immer die erste Stelle einer Gebetshore ein, gleich nach der Herabrufung göttlicher Hilfe: „O Gott, komm mir zur Hilfe – Herr, eile mir zu helfen." Man singt sich „zusammen", ehe man psalmodiert, hört und meditiert.
Der Hymnus ist „Introitus" der Hore, er steht an der Schwelle, wie Kyrie und Gloria in der Eröffnung der Messe.
Geistgewirkter Introitus
Dass in der Liturgie der Geist des Herrn wirkt, erweist sich im „neuen Lied", zu dem die Gemeinde des Herrn aufgefordert ist (Jes 42,10; Ps 96,1). Das „neue Lied" übernimmt die Funktion der freien, geistgewirkten Rede im Gottesdienst der frühen Kirche.
Die Offenheit der Hymnen für neue Inspirationen ist aber gebunden an ein Strukturgesetz des Gebetes, das die Kirche vom erstberufenen Gottesvolk übernahm und beim Hymnus bis heute durchhält: Jedes Gebet schließt mit einem Lobpreis (Doxologie), der die Wahrheit der vorangehenden Worte verbürgt.
Lob, Preis sei, Vater, deiner Kraft
und deinem Sohn, der all’ Ding schafft,
dem heil’gen Tröster auch zugleich
so hier wie dort im Himmelreich. Amen.
(Doxologie aus einem Hymnus der Adventszeit)