Zumindest im Tod ein Ort des Friedens
In den letzten vier Jahren sind laut UNHCR mindestens 14.785 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, oft ohne einen Namen oder ein Grab, auf dem jemand eine Blume ablegen oder ein Gebet sprechen könnte. Aber eine würdige Bestattung ist das Recht eines jeden Menschen – unabhängig von Hautfarbe, Nationalität oder religiöser Überzeugung. In Kalabrien versucht man, dem gerecht zu werden.
Es ist noch keine sieben Uhr morgens. Bevor sie den Friedhof betritt, kauft die Frau Blumen. Das macht sie jeden Tag. Der kleine Blumenladen befindet sich vor dem Friedhof von Armo, einem Stadtteil von Reggio Calabria, einer 180.000-Einwohner-Stadt. Die alte Frau geht zu einem Grab. Sie berührt den Grabstein, bekreuzigt sich und legt eine Blume nieder. Bevor sie geht, bleibt sie an einem anderen Grab stehen. Auch hier verbeugt sie sich, berührt das Kreuz und verweilt im Gebet. Dann legt sie eine gelbe Gerbera auf das Grab. Auf dem Grabhügel ein Kreuz und ein Schild: „Hier ruht eine Unbekannte, gestorben in internationalen Gewässern während des Schiffbruchs am 28. Mai 2016.“ Auf dem Friedhof von Armo liegen die Leichen von 45 Flüchtlingen, die bei einem Schiffbruch im Kanal von Sizilien ums Leben gekommen sind. Die Stadt hat einen Teil des Friedhofs für würdige Bestattungen zur Verfügung gestellt. Don Alain Mutela Kongo, der Pfarrer der Gemeinde Santissima Maria Assunta von Armo, kümmert sich hier um vieles. Einige Jugendliche und Frauen und Männer aus dem Ort helfen ihm. „Warum machen Sie das?“, fragen wir. Er antwortet: „Da ist nichts Ungewöhnliches dabei. Auch sie sind unsere Schwestern und Brüder und haben das Recht auf eine Träne, eine Erinnerung, ein Gebet.“
Die Mehrzahl der Leichen der Ertrunken freilich konnte nie geborgen und nicht identifiziert werden. Selbst in den Fällen, in denen die Leichen geborgen wurden, konnten sie meistens nicht identifiziert werden. Auch deshalb wurden sie in anonymen Gräbern bestattet. Dieses Phänomen wird seit Jahren vom Internationalen Roten Kreuz und der Internationalen Organisation für Flüchtlinge, UNHCR, angeprangert. Es gibt auch Projekte wie „Missing Migrants“, die versuchen, die Körper zu bergen, zu identifizieren und zu bestatten. Es sind wirklich viele Körper ohne Namen, die auf dem Meeresgrund ruhen, und ebenso viele Familien, die nie die Nachricht von ihrem Tod erhalten werden und die möglicherweise weiterhin nach ihren Lieben suchen.
Wie kann man da nicht die Wichtigkeit verstehen, diese Menschen zu identifizieren und ihnen ein würdiges Begräbnis zu geben? Deshalb sind wir dort gewesen auf der Suche nach Geschichten und den guten Taten, die uns helfen, das alles besser zu verstehen.
Würde für die Verstorbenen
Auf dem kleinen Friedhof von Armo liegen heute neben den Ortsansässigen 45 Afrikaner (vor allem aus Äthiopien und Nigeria). Bei der Beerdigung hat auch ein ägyptischer Jugendlicher ein moslemisches Gebet gesprochen. Die Zeremonie, die von einer Prozession von der Kirche bis zum Friedhof begleitet wurde, endete mit Gebeten und Gesängen von Flüchtlingen in afrikanischer Sprache. „Heute sind diese Toten neben unseren Gemeindemitgliedern bestattet. Unser einziges Ziel ist es,“ so erklärt Pfarrer Alain Mutega Kongo, „den Menschen Würde zu geben. Wenn sie schon als Lebende keine hatten, wollen wir sie ihnen zumindest als Verstorbenen geben. Diese kleinen Erdhügel stehen für eine je individuelle Geschichte. Mit ein paar Gemeindemitgliedern, über die Hälfte davon ältere Frauen, haben wir das Gelände vorbereitet. Außer zu einem Ort des Gebetes ist der Friedhof auch zu einer Bildungsstätte geworden. Zum Abschluss der Arbeiten haben sich uns auch einige Jugendliche angeschlossen. Junge Menschen und alte Menschen haben häufig weniger Probleme damit, den anderen als Bruder anzuerkennen. Unsere alten Damen sind es, die an den Gräbern ein Gebet sprechen und Blumen bringen. Niemand hat sie darum gebeten, sie tun es, weil ihr Herz es verlangt.“
Besondere Art der Gastfreundschaft
Um an die Menschen zu erinnern, die im Meer ihr Leben lassen, hat auch die Gemeinde von Tarsia, ein kleiner Ort in der Nähe von Cosenza, beschlossen, einen Friedhof zu errichten, wo man vielen Menschen eine würdige Bestattung geben kann. Die Idee dafür geht von einer Bewegung für Menschenrechte aus, der Franco Corbelli vorsteht. Der Bürgermeister Roberto Ameruso erklärt: „Endlich wird es ein Ende haben mit der unmenschlichen Behandlung dieser Menschen, die mit einer Nummer versehen auf verschiedenen Friedhöfen in Sizilien und Kalabrien bestattet wurden und deren Identität und Erinnerung dadurch vollständig ausradiert wurde, ohne jeglichen Anhaltspunkt für die Familien. Tarsia möchte die Tradition seiner Gastfreundschaft fortführen. Mit diesem Projekt möchten wir der Welt ein Zeichen von Hoffnung und Frieden geben.“ Diese Tradition und die Identität des Ortes erklärt uns Franco Corbelli, während er eine Gruppe Studenten aus Frankreich, die im Zuge des Austausch-Programms Erasmus hier sind, zu der Baustelle begleitet. „Unsere Region ist eine der ersten, wo die Menschen auf der Flucht ankommen. Tarsia ist ein Symbol für Aufnahme und Gastfreundschaft. Während der Zeit des Faschismus und des Nationalsozialismus gab es hier das Konzentrationslager Ferramonti für ausländische Juden in Italien. Hier kamen Tausende Verfolgter vorbei. Und dennoch gab es hier, im Gegensatz zu anderen Lagern, viele Geschichten der Menschlichkeit. Außerhalb des Lagers bemühten sich die Menschen um Solidarität, Trost und Aufnahme. Es ist kein Zufall, dass wir den Friedhof neben Ferramonti angelegt haben.“ Bis Ende des Jahres soll der größte internationale Friedhof für Flüchtlinge fertig sein. Gewidmet werden soll er Aylan, dem kleinen türkischen Jungen, der tot an der türkischen Küste gefunden wurde und dessen Foto um die Welt ging.