Zwei Heilige für eine Stadt

11. Februar 2019 | von

Rieti, im Herzen Italiens. In diesem Ort verknüpfen sich ganz eng zwei große Heilige: Franziskus und Antonius. Und natürlich die entsprechende Verehrung, die ihren Höhepunkt im Juni mit der Kerzenprozession für den heiligen Antonius erreicht.

Über Antonius sollte ich mit der 20-jährigen Ilaria sprechen, denn „sie weiß alles über die franziskanischen Pilgerwege durch die Valle Santa, das heilige Tal“, so wurde mir geraten. Das stimmt, die junge Frau gibt mir wertvolle Karten, um die franziskanischen Heiligtümer zu erreichen, aber letztendlich sprechen wir nur über den heiligen Antonius. Die beiden Heiligen haben ein seltsames Schicksal, hier in Rieti. Viele sagen mir: „Von wegen Assisi, man hätte ihn Franziskus von Rieti nennen müssen!“ Und dann sprechen doch wieder alle nur vom heiligen Antonius. Wie Ilaria: „Ich gehe eher selten in die Kirche. An Weihnachten, vielleicht auch noch an Ostern. Aber zur Antonius-Prozession bin ich immer gegangen. Ich bin dort mit meiner Kerze in der Hand. Und ich werde immer mitmachen. Schon meine Uroma ging zur Prozession, meine Oma geht noch, und meine Mutter hat noch nicht einmal auf die Antonius-Prozession verzichtet, als sie mit mir im achten Monat schwanger war.“ Ich verabschiede mich von ihr. Aber sie fügt noch hinzu: „Und ich bitte um nichts. Nur einmal habe ich mich bei ihm bedankt, weil ich zur Abiturprüfung zugelassen worden bin. Ich hatte nicht mehr darauf gehofft, ich glaube, er hat mir geholfen.“

Leidenschaftlicher Glaube
Rieti ist eine kleine Stadt, 46.000 Einwohner. Sie ist schön, sehr schön sogar. „Zentrum Italiens“, Umbilicus Italiae, wenn man den alten Etruskern Recht geben will. Vom Ufer des Flusses Velino aus beobachte ich den alten Marco, der jeden Abend die Enten und Gänse, die um die Ruinen der alten römischen Brücke schwimmen, mit trockenem Brot füttert. Dann gehe ich die Via Roma hinauf bis zur zentralen Piazza und zur Kathedrale, die wegen des Erdbebens geschlossen ist, und bis zum Triumphbogen von Bonifatius VIII. Rieti ist die Stadt der Päpste. Auf dem Pflaster von Via Cintia hat ein „Madonnaro“, ein Straßenkünstler, ein großes Bild von Antonius gemalt. 
Ich gehe wieder hinunter in Richtung Fluss bis zur Kirche des heiligen Franziskus, die zweite Basilika, die im Namen des Heiligen errichtet wurde, nach der in Assisi. Valentino, der Sekretär der „Frommen Vereinigung des heiligen Antonius“, öffnet mir die Tür. Die Kirche, die ohne Pfarrer ist, wird von dieser Vereinigung betreut. Ich weiß, dass sich die Statue des heiligen Antonius in der ersten Kapelle befindet. Und da ist sie, über dem Altar. An einem dunklen Möbelstück sind noch die Fotos von Menschen, die im Krieg verschollen sind. Die Frauen und die Mütter baten den Heiligen um die Gnade einer unwahrscheinlichen Rückkehr ihrer Lieben. Aber als 1945 die Staue gerade für die Prozession aus der Kirche getragen wurde, tauchte tatsächlich einer von ihnen wieder auf. Er erschien in der Via Mattonato, um seine Frau zu umarmen. Hier in Rieti glaubt man an Wunder. Und man glaubt leidenschaftlich an den heiligen Antonius.

Teil der Identität
Der Bürgermeister erzählt mir: „Der heilige Antonius gehört zur Identität in unserer Stadt. Er hat die Menschen in Rieti vereint. Er hat uns ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft gegeben, unabhängig von unseren Ideen und Anschauungen. Hier atmet man im Juni eine ganz andere Luft.“ Und er ist es auch, der mich an die Wunder des Heiligen erinnert und die Dankbarkeit von Rieti. Die Deutschen sind 1944 abgezogen. Und zwar am 13. Juni, dem Festtag des Heiligen, ein Tag der Freiheit und der Befreiung also. Drei Tage später kamen die Alliierten und trafen den heiligen Antonius, der sie erwartete. „Die Prozession wurde nie unterbrochen, sie hat jedes Jahr stattgefunden, auch während der Kriegsjahre,“ erzählt mir Fabrizio Tomassoni, 58 Jahre alt, der Historiker der lokalen Antonius-Vereinigung. 

Heiliger für reale Bedürfnisse
Ich steige die Treppen des Päpstlichen Palastes hoch. Hier empfing Papst Gregor IX., der aus Rom geflohen war, 1231 eine Delegation aus Padua, die die Heiligsprechung von Antonius, der weniger als einen Monat zuvor gestorben war, erflehten. Ich gehe zum Bischof, zu Domenico Pompili. Im Warteraum treffe ich ein Paar aus Nigeria, ihr kleiner Sohn krabbelt auf dem glänzenden Boden, einen Kapuzinerpater mit vollem Bart, der trotz der Winterkälte barfüßig ist, eine Gruppe von Frauen aus Amatrice, Jugendliche aus einem Behindertenheim mit einer kleinen Weihnachtskrippe, die sie dem Bischof schenken wollen. Schwester Angela bietet uns allen Kaffee an. Und der Bischof findet Zeit für alle. Er hat zum Schutz vor der Kälte eine schwarze Windjacke über die Schultern gelegt. Wir duzen uns. Und er spricht mit mir über den heiligen Franziskus. „Rieti und sein Tal hatten schon immer mit Heiligen zu tun. Hier wurde Dominikus heiliggesprochen. Hier hat Franziskus Aufnahme gefunden und die Möglichkeit der Versöhnung verstanden, hier hat er seine Ordensregel geschrieben und seine Krippe ‚erfunden‘. Er hat damit erklärt, dass Bethlehem überall sein kann.“ Und Antonius? „Die Menschen vom Land haben ihn sofort geliebt. Das hier war und ist noch immer eine Gegend der Bauern. Der Heilige kümmert sich um dringende Notwendigkeiten, um reale Bedürfnisse. Franziskus war radikal, spirituell, Antonius dagegen war eher geerdet, eher menschlich.“ Ja, um Rieti herum gibt es viele Weizenfelder. Ein weiteres Wunder des heiligen Antonius: Im Juni 1926, als wochenlanger, ununterbrochener Regen die Ernte gefährdet hatte, haben die Bauern den heiligen Antonius um Hilfe gebeten, seine Statue wurde ausgestellt und der Regen hörte am Vorabend des 13. Juni auf. Es folgte ein Monat voller Sonne und so wurde sogar eine doppelte Ernte möglich. „Antonius ist der Heilige der Armen, der Bauern. Er gehört nicht zu den Herren,“ so klärt mich laut tönend Umberto auf, einer der Hauptmitwirkenden bei der Prozession. Das Jesuskind auf dem Arm des Heiligen hält hier drei Weizenähren in der Hand, die von einem grün-weiß-roten Band zusammengehalten werden. 

Verschobene Heiligsprechung
Ich wundere mich so sehr über diese kollektive Verehrung, dass ich noch gar nicht die ganze Geschichte erzählt habe. Die Heiligsprechung von Antonius wurde im Februar 1232 entschieden. Die Zeremonie sollte in Rieti stattfinden. Aber Gregor IX., der von neuen Konflikten zwischen Papsttreuen und Papstgegnern überrascht wurde, musste erneut gehen. In Spoleto fand er Schutz. Und Ende Mai wurde Antonius in dieser umbrischen Stadt zum Heiligen erklärt. Die Menschen aus Rieti waren darüber nicht erfreut, der Heilige gehörte ihnen. Es gab einen Fackelzug aus Protest und Enttäuschung. Aber die Verehrung erlosch dennoch nicht. Im Gegenteil, sie wurde noch stärker. Antonius wurde, fast aus Trotz, zum Heiligen von Rieti. Und seither ist der gesamte Monat Juni dem Antoniusfest gewidmet, den Gebeten, Segnungen und dem Glauben. Und natürlich der Prozession, der Kerzenprozession.

Glocken und Feuerwerk
Die Staue wird am 12. Juni ausgestellt und am letzten Sonntag im Monat durch die Straßen getragen. Die Antonius-Vereinigung, die 1812 nach ihrer Abschaffung im Jahr 1739 durch Papst Clemens XII. neu gegründet wurde, kümmert sich mit ihren 1.000 Mitgliedern um die Organisation im Juni. Aus Tradition und Glauben heraus melden die Menschen aus Rieti ihre Kinder schon kurz nach der Geburt an. Ich muss das Vokabular der Frommen Vereinigung lernen: Die „Sucher“ gehen von Haus zu Haus, um um Spenden zu bitten, die „Feierer“ sind die, die sich um das Fest kümmern, die „Registrierer“ sind Jugendliche, die Spenden und neue Mitglieder aufschreiben. Am späten Nachmittag am letzten Sonntag im Juni wird die Antoniusstatue, behängt mit goldenen Ex-Voti, auf einem imposanten Podest durch die Stadt getragen. Das Ganze wiegt 14 Zentner. 16 Männer laden sich die Statue auf ihrem Podest auf die Schultern. Die Träger werden ausgelost. Es gibt vier nach Größe geordnete Teams: Alle hundert Meter wechseln sie sich ab, auf einem Weg von insgesamt fünf Kilometern. Zehntausende Menschen nehmen an der Prozession teil. Blumenteppiche schmücken die Straßen. Dutzende schwarz gekleidete Frauen gehen vor dem heiligen Antonius, mit riesigen Kerzen in der Hand. Diese Kerzen wiegen bis zu 20 Kilo. „Jedes Jahr bringe ich eine schwerere Kerze mit,“ sagt mir eine Frau. Viele sind barfuß. Glocken läuten, es gibt ein Feuerwerk, man hört Trommeln. Lichter und Gebete, Applaus und Verehrung, Musikgruppen und Heiligkeit. Erst um Mitternacht kommt die Statue zurück in die Kirche. 
Antonius, behängt mit Gold – besteht da nicht das Risiko, dass das alles zu folkloristisch wird? Der Bischof wischt meine Bedenken beiseite: „Das ist die Religiosität des Volkes. Dort, wo es sie nicht oder nicht mehr gibt, bleibt oft nur Wüste übrig. Natürlich müssen wir das Risiko des Aberglaubens verhindern, aber das, was in dieser Stadt zu Ehren des Heiligen geschieht, hat etwas Sakrales, eine große Möglichkeit der Begegnung.“
Ich habe noch die Karten von Ilaria in der Hand. Ich suche die Wege nach Poggio Bustone, nach Fonte Colombo, zur Krippe von Greccio. Die Orte des Franziskus.

Zuletzt aktualisiert: 11. Februar 2019
Kommentar