Wie Fremdes und Eigenes miteinander leben können
„Der Fremde in meinem Land“ oder „Ich im Land des Fremden“ – Basis für reichlich Konfliktstoff und wenig Spielraum für ein friedliches Miteinander. Hier setzt das Modell der interkulturellen Kompetenz an. Die Theorie: Keiner darf seine Eigenkultur aufgeben, aber jeder soll sie durch das Neue erweitern lassen.
China strebt die volle Souveränität über das Südchinesische Meer an. Vietnam sträubt sich dagegen, woraufhin die Chinesen in Vietnam einmarschieren. Die Vietnamesen rufen die USA um Hilfe. Diese fordern Wirtschaftssanktionen gegen China und entsenden erste Truppenabordnungen. Die Chinesen antworten mit Luftangriffen. In der allgemeinen Verwirrung marschiert Indien in Pakistan ein, um die dortigen Waffenpotentiale zu vernichten. Das ruft den pakistanischen Bündnispartner Iran auf den Plan. Japan gibt angesichts der sich zuspitzenden Weltlage seine Neutralität zugunsten Chinas auf. Davon wird Russland aufgeschreckt und bewegt sich in eine antichinesische Richtung. China marschiert in Sibirien ein…
Kampf der Kulturen. Dieses Szenario, in das Jahr 2010 verlegt, schildert der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington in seinem 600-seitigen Bestseller „Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert", dem besonders seit den Anschlägen vom 11. September 2001 große Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Huntington selbst hofft, dass dieses Szenario absurd und unplausibel sei, stützt jedoch mit diesem Schreckgespenst seine These, wonach durch das Eingreifen eines Kernstaates eines Kulturkreises (in diesem Fall USA) in einen Konflikt zwischen zwei Staaten eines anderen Kulturkreises (in diesem Fall China und Vietnam) ein rasch eskalierender und weit um sich greifender Krieg entstehen kann.
Huntington identifiziert auf der Welt sieben Kulturkreise. Für die Weltpolitik entscheidend sind dabei vor allem drei Elemente: Der langsame Niedergang des Westens (USA, Europa), das Wiedererstarken des islamischen Kulturkreises und der Aufstieg Chinas. Einen dramatischen Konflikt sieht Huntington aufgrund dieses Befunds unausweichlich auf die Welt zukommen. Nicht zuletzt wegen des nach seinem Modell kaum vorhandenen Handlungsspielraums – das Buch liest sich wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – ist Huntington auch auf Kritik gestoßen.
Gemeinsamkeiten finden. Die Frage muss also gestellt werden: Wie lässt sich der Kampf der Kulturen, der immer anschaulicher erlebbar wird (Terroranschläge, kriegerische Auseinandersetzungen…), so entschärfen, dass er nicht zu einer fortwährenden Spirale der Gewalt wird?
Ein Hinweis auf eine Antwort findet sich bei Huntington selbst: „Anstatt die vermeintlich universalen Aspekte einer Kultur zu propagieren, gilt es, im Interesse der kulturellen Koexistenz nach dem zu suchen, was den meisten Hochkulturen gemeinsam ist. Der konstruktive Weg in einer multikulturellen Welt besteht darin, auf Universalismus zu verzichten, Verschiedenheit zu akzeptieren und nach Gemeinsamkeiten zu suchen." Damit sind wir bei dem angelangt, was Thema dieses Artikels sein soll: Die interkulturelle Kompetenz.
Um dem Begriff etwas an Sperrigkeit zu nehmen: Zunächst ist mit interkultureller Kompetenz die Fähigkeit gemeint, mit Menschen aus anderen Kulturen auf eine beide Seiten zufrieden stellende Art und Weise in Kontakt zu treten und einen respektvollen Umgang zu pflegen. Dass dieses Ziel nicht ganz so einfach zu erreichen ist, wo ja schon der Umgang mit Menschen aus dem gleichen Kulturkreis oft mühsam und Konflikt beladen ist, sollen einige Beispiele zeigen.
Andre Länder, andre Sitten. Eine erste Barriere stellt die Sprache dar: Wo wir nur ein Wort „Schnee" kennen, verwenden die Inuits (Eskimos) 16 verschiedene Bezeichnungen. Unser „Grün" ist bei den Zulus in 39 verschiedenen Wortvarianten bekannt. Solche Sprachunterschiede können schnell zu Missverständnissen führen: 1974 übersetzte der „Honolulu Advertiser" einen italienischen Text, der davon sprach, dass sich Kapuzinerbrüder einen „intimo rapporto", ein Gespräch unter vier Augen, mit Frauen wünschen, völlig falsch mit „sie wünschten sexuelle Beziehungen".
Auch dort, wo es um nonverbale Kommunikation geht, ist man vor Missverständnissen nicht gefeit: Das Kopfschütteln bedeutet in Indien „ja"; in der europäischen Kultur nickt man mit dem Kopf, um „ja" auszudrücken; im Vorderen Orient wird unterschieden zwischen einem Kopfnicken nach unten („ja") und einem Kopfnicken nach oben („nein").
Nicht weniger einfach wird es bei Sitten und Normen in verschiedenen Kulturen: Während es für uns selbstverständlich ist, dass ein Freund oder Nachbar, dem Geld geliehen wurde, dies auf den Cent genau zurück bezahlt, werden in Irland Schulden selten vollständig zurückbezahlt, da dies als Wunsch nach Abbruch der Beziehung gedeutet würde. – In vielen Ländern Asiens verabschiedet man sich sofort nach dem Ende der Mahlzeit, andernfalls würde man signalisieren, man sei nicht satt geworden; wer in unserem Kulturkreis sofort nach dem Essen aufsteht, setzt sich dem Verdacht aus, es sei ihm nur ums Essen und nicht um die Gesellschaft gegangen. Diese Reihe ließe sich beliebig lange fortführen und ausdehnen auf weitere Bereiche wie Denken, Zeit-Empfinden und Wahrnehmung.
Was müsste also, angesichts dieser offensichtlich zahlreichen Hindernisse, im Sinne der interkulturellen Kompetenz getan werden, um zu einem gelungenen Umgang mit dem Fremden zu kommen?
Gegenseitiges Verständnis. Zuallererst geht es darum, zu versuchen, den Anderen so zu sehen, wie er ist. Das heißt in den allermeisten Fällen, dass zahlreiche Vorurteile und Missverständnisse abgebaut werden müssen. Dafür gelten folgende Bedingungen: Beide Seiten sollten einen gleichberechtigten Status haben, und negative Fremdbilder sollten widerlegt werden. Die Möglichkeit des gegenseitigen Kennenlernens sollte reichlich gegeben sein, zum Beispiel durch ein gemeinsames Projekt oder sonstige intensive Kontakte. Dabei ist es von Bedeutung, dass das gemeinsame Ziel wichtiger erscheint als die je individuellen Ziele. Im Kontakt miteinander sollte ein positives soziales Klima herrschen, so dass eine erfreuliche und angenehme Begegnung möglich wird.
Wenn dieser Weg beschritten wird, führt er zu einem besseren Verständnis des Fremden und zugleich zu einem tieferen Verständnis des Eigenen, da auch eigene Wertvorstellungen und Denkmuster hinterfragt und kommuniziert werden müssen. Dadurch wird dann nicht alles relativ oder beliebig, wohl aber in Beziehung gesetzt zum Andern. Ein Absolutheitsanspruch des Eigenen lässt sich so nicht mehr rechtfertigen. Der Prozess, der dabei gestartet wird, wird „interkulturelles Lernen" genannt: Ich lerne etwas vom Anderen, vom Fremden, und dabei gleichzeitig etwas über mich und komme so auf dem Weg meiner eigenen Persönlichkeitsentwicklung voran. Wie lässt sich nun dieser zwischenmenschliche Vorgang übertragen auf eine heute sehr häufig gewordene Situation „der Fremde in meinem Land" beziehungsweise „ich im Land des Fremden"?
Gastgeber und Gast. Häufig lässt sich in so einer Situation ein Kulturschock beobachten, erkennbar an Symptomen wie: allzu große Vorsicht beim Essen und Trinken im fremden Land, Abneigung gegenüber dem Erlernen der Gastsprache und Rückzug auf Kontakte nur mit eigenen Landsleuten (Parallelgesellschaften entstehen). Hinzu kommt die Angst, von den Einheimischen nicht akzeptiert zu werden.
Der Kulturschock, die Kulturkontrasterfahrung („der andere ist anders als ich"), lässt sich im wesentlichen in vier Phasen einteilen: Die erste Phase ist die der Euphorie, der Begeisterung für das Neue, das es zu entdecken gilt. Darauf folgt eine Phase, in der die Vorzüge der eigenen Kultur betont werden und die fremde Kultur abgelehnt wird. Erst die weitere Entwicklung, sofern sie denn zugelassen wird, bringt eine realistischere Einschätzung und ein besseres Verständnis der fremden wie der eigenen Kultur mit sich. Die vierte Phase lässt dann schließlich eine kulturelle Neuorientierung zu Tage treten: Gemeinsamkeiten werden entdeckt, Elemente des bis dahin Fremden werden übernommen, das Eigene wird weiterentwickelt und aus dem Miteinander der beiden Kulturhorizonte (Gastgeber und Gast) entsteht eine „Interkultur", also eine neue Ebene der Begegnung, auf der sich beide Seiten vertreten fühlen können und sich niemand verbiegen muss. Auf dieser Ebene der Interkultur ist dann endlich eine Kommunikation über die eigenen Kulturschranken hinaus ermöglicht. Keiner der Beteiligten muss die Eigentümlichkeiten seines Kulturkreises aufgeben, erweitert aber seine kulturelle Kompetenz, die eine barrierefreie Kommunikation wesentlich erleichtert.
Wünschenswertes Verhalten. Der Prozess des Schaffens dieser Interkultur baut gleichermaßen auf die Kooperation von Gastgeber und Gast. Parolen wie „der Gast hat sich anzupassen", „wer hinzukommt, soll sich einfügen und gegebenenfalls unterordnen" sind spätestens jetzt eigentlich unnötig geworden: Keiner braucht mehr Angst zu haben, dass er das Proprium seiner Kultur gänzlich aufgeben muss, er muss es – das allerdings schon! – lediglich erweitern lassen um etwas Neues.
Für diesen durchaus nicht ganz einfachen Prozess gibt es bestimmte Hilfestellungen und wünschenswerte Verhaltensweisen: Keiner der Beteiligten sollte Scheu haben, über sich selbst zu reden. Dadurch wird das Bewusstsein gestärkt, Individuum und Persönlichkeit zu sein – und das hilft, mit den Schwierigkeiten in der fremden Kultur zurechtzukommen. Außerdem sollten zwischen Gast und Gastgeber kollegiale Beziehungen angestrebt werden, die auf der Basis von gegenseitiger Achtung und Gleichberechtigung erwachsen können. Dabei sollte man nicht den jeweils andern auf den ersten Schritt verpflichten, sondern selbst eventuell die Initiative ergreifen. Immer wieder sollte das Interesse für die Kultur des andern bekundet werden und mit Wertschätzung darauf reagiert werden. Jenseits dieser Begegnungsebene der beiden Kulturen sollten die jeweiligen Vertreter auch ihren eigenen, persönlichen Entfaltungsraum behalten dürfen. Eigenen Interessen und Vorlieben nachzugehen ist also durchaus möglich und erwünscht, schon allein deshalb, um die eigene Herkunft nicht zu vergessen.
Kleine Schritte, langer Weg. Wenn dieser Weg gegangen wird – mit viel Geduld und der Bereitschaft, nach Rückschlägen immer wieder anzufangen –, dann scheint eine Begegnung der Kulturen auf friedlicher Ebene möglich zu sein, ohne dass die eigene bisherige kulturelle Orientierung aufgegeben werden muss. Durch deren Ergänzung und Erweiterung aber entsteht eine Begegnungsebene mit Vertretern anderer Kulturen.
So scheint ein Weg der Verständigung geschaffen, den jeder einzelne Mensch auch unabhängig von der großen Weltpolitik beschreiten kann. Vielleicht können mit diesem Modell der „interkulturellen Kompetenz", wie es die Forschung nennt, nicht alle von Huntington beschriebenen Kulturkreise (siehe oben) global und auf einen Schlag miteinander ausgesöhnt werden, aber auf der Begegnungsebene des Alltags lässt sich mit dieser Herangehensweise sicher viel bewegen. Vom Kleinen ausgehend kann dann im Großen hoffentlich viel bewegt werden.
Projekt Weltethos. Modelle, wie auf dieser größeren Ebene das Zusammenleben der Kulturen friedvoll gelingen könnte, gibt es. In der Praxis sorgen sich internationale und interkulturelle Organisationen, allen voran die Vereinten Nationen, um die Herstellung und Bewahrung des Friedens zwischen den Völkern.
Ein weiteres Modell bietet das von Hans Küng initiierte „Projekt Welt-ethos". Dieses konzentriert sich zwar nicht primär auf die verschiedenen Kulturen, wohl aber auf Teilbereiche, nämlich die Religionen. Ziel ist es, aus den großen Weltreligionen den gemeinsamen Nenner an ethischen Grundforderungen herauszufiltern und als allen gemeinsame Grundforderung zu etablieren (zum Beispiel: Die goldene Regel). Aus dem Dialog und dem Frieden zwischen den Religionen, so die Vertreter dieses Projekts, würden dann Dialog und Friede zwischen den Nationen und Kulturen folgen. Freilich, auch das „Projekt Weltethos" ist nicht ohne Kritik geblieben, und die Vereinten Nationen sind von ihrem Ziel oft weit entfernt; doch beide, herausgegriffen aus der Vielzahl von Initiativen, sind gewiss ernsthafte Modelle, um zum Dialog und zum Frieden weltweit beizutragen. Die Herausforderung bleibt, für die Welt als ganze und für jeden einzelnen. Bedingt durch die Globalisierung und die damit verbundene Mobilität ist eine Begegnung mit dem Fremden, dem Anderen an der Tagesordnung. Diese Herausforderung gilt es mutig anzunehmen. Das Modell der „interkulturellen Kompetenz" scheint ein Weg zu sein, wenn auch ein anstrengender, wie diese Herausforderung zur Zufriedenheit aller beteiligten Parteien angenommen werden kann.