Ich bin Josef, euer Bruder!
Am 28. Oktober 1958 wurde Angelo Giuseppe Roncalli zum Papst gewählt und bestieg als Johannes XXIII. den Stuhl Petri. Durch Menschlichkeit, Nächstenliebe und Humor gewann der Konzilspapst die Herzen der Menschen – auch das unseres Mitbruders P. Bonaventura M. Henrich, der dem Papst persönlich begegnete.
Die Kirche wird 50 Jahre brauchen, um sich von den Irrwegen Johannes’ XXIII. zu erholen", so urteilte später Kardinal Giuseppe Siri, ehemaliger Erzbischof von Genua, über das Pontifikat eines der bedeutendsten Nachfolger Petri. Ob die Kirche sich erholt hat, wenn sie sich denn hätte erholen müssen, kann man den Kardinal heute nicht mehr fragen, aber fest steht: Die Menschen sprechen noch heute von Johannes XXIII. als dem „Papa buono", dem guten Papst. Seit September 2000 wird der 1881 in Sotto il Monte, Italien, Geborene gar als Seliger verehrt, und das von ihm initiierte Konzil hat für die Kirche entscheidend die Weichen gestellt – bis in die Gegenwart hinein.
Papstbesuch im Lager. Einer unserer Brüder, P. Bonaventura M. Henrich, ist Johannes XXIII. persönlich begegnet. Vom Sommer 1946 bis zum Sommer 1947 war er in Chartres interniert, einem französischen Kriegsgefangenenlager für deutsche Priester und Seminaristen. Mehrmals wurde dieses Lager von Angelo Roncalli, dem späteren Papst, besucht. Ende 1944 war er nämlich von Pius XII. als Apostolischer Nuntius nach Frankreich geschickt worden, und das Lager lag somit in seinem Zuständigkeitsbereich.
Dank seines Diplomatenstatus war es für ihn leichter als für andere Bischöfe, dieses ungewöhnliche Seminar hinter Stacheldraht zu besuchen – und er war dort ein gern gesehener Gast. Der Nuntius, so formuliert es P. Bonaventura, „kam furchtbar gern". Er erinnert sich an den Karsamstag 1947, als dieser zu Besuch war und die Osterliturgie mit den Insassen des Lagers feierte. Dabei weihte er zwei Theologen der Diözese Rottenburg-Stuttgart zu Priestern. Wichtig seien freilich auch Roncallis Besuche an Weihnachten gewesen, während der er Geschenke an „seine Kinder", wie er die Seminaristen nannte, verteilte. Die Zuneigung des späteren Papstes durften die Lagerbewohner auch dann noch erfahren, als sie zurück in die Freiheit geschickt wurden.
P. Bonaventura war dabei, als Anfang Juni 1947 etwa 120 Seminaristen aus dem Lager Chartres und rund 700 Gefangene aus anderen Lagern abtransportiert wurden. Plötzlich stoppte, mitten auf dem Land, der Zug – und nichts ging mehr. Grund war ein Eisenbahnerstreik. Die Situation verlangte eine Planänderung: Die Zuginsassen sollten in ein anderes Lager gebracht werden. Doch ein Anruf bei Nuntius Roncalli brachte Hilfe: Er versprach den Verantwortlichen, dass er für „seine" Seminaristen von Chartres bürgen würde und auch für alle anderen Mitfahrenden. Dank seiner Garantieerklärung konnten die Gefangenen nach Beendigung des Streiks unbehelligt nach Deutschland fahren.
Gütig und verschmitzt. Nach seinem Dienst als Apostolischer Nuntius in Frankreich wurde Angelo Roncalli 1953 zum Kardinal und Patriarchen von Venedig ernannt – und schließlich, am 28. Oktober 1958, zum Papst gewählt. Ein Jahr darauf machten sich die „Chartrenser" auf zu einer Wallfahrt nach Rom, zu „ihrem" Papst. Zunächst nahmen sie an der einstündigen offiziellen Audienz in Castel Gandolfo teil. Der Papst machte ihnen immer wieder ein Zeichen: Er fuhr mit den Händen an seinen Backen entlang. Später erklärte er: „Ich habe abgenommen, das Papstsein ist so schwer…!" P. Bonaventura erinnert sich noch genau an die Worte des Papstes, als er erfuhr, dass die Gruppe schon seit drei Tagen in Rom war: „Liebe Kinder, wenn ich das gewusst hätte, dass ihr schon seit drei Tagen hier seid, hätte ich jemanden geschickt und euch schon früher zu mir geholt." P. Bonaventura erlebte Johannes XXIII. als „außerordentlich gütigen, väterlichen und auch spitzbübischen Menschen".
Und es gibt noch viele andere Menschen, die bis heute ihre persönlichen Begegnungen mit Johannes XXIII. im Gedächtnis halten oder sich an den zahlreichen Anekdoten über ihn erfreuen. Sie geben Zeugnis von einem Menschen, der bei einer Audienz Menschen jüdischen Glaubens ganz authentisch zurufen konnte: „Herzlich willkommen. Ich bin Josef, euer Bruder!" Eine Anspielung auf eine Szene aus Genesis (45,3f), die am Hofe des Pharao spielt. Josef geht versöhnlich auf seine Brüder zu, die ihn Jahre zuvor verkauft hatten.
Zeitgemäß entflammen. Neben diesem gelebten Vorbild als einfacher Mensch hat er der Kirche als Initiator des Zweiten Vatikanischen Konzils ein bleibendes Erbe hinterlassen. Dessen Hauptaufgabe definierte der Papst in seiner Eröffnungsansprache auf dem Konzil so: „das heilige Überlieferungsgut der christlichen Lehre mit wirksameren Methoden zu bewahren und zu erklären". Dazu müsse, „um die Herzen vollkommener zu entflammen und zu durchdringen", diese Lehre „so erforscht und ausgelegt werden, wie es unsere Zeit verlangt". Johannes XXIII. wendete sich dabei gegen Zukunftspessimisten: „Wir aber sind völlig anderer Meinung als diese Unglückspropheten, die immer das Unheil voraussagen, als ob die Welt vor dem Untergange stünde. In der gegenwärtigen Entwicklung der menschlichen Ereignisse, durch welche die Menschheit in eine neue Ordnung einzutreten scheint, muss man viel eher einen verborgenen Plan der göttlichen Vorsehung anerkennen."
Mit dieser Eröffnungsansprache beförderte Johannes XXIII. zweifelsohne den „Geist des Konzils" – das Aggiornamento, den frischen Wind. Allerdings konnte er dieses Konzil nicht mehr zu Ende führen: Am 3. Juni 1963 erlag er einem Krebsleiden. Erst sein Nachfolger, Papst Paul VI., konnte das Konzil am 8. Dezember 1965 feierlich abschließen.
Das Aggiornamento ist ein bleibender Auftrag im Geiste von Johannes XXIII., einer, von dem sich die Kirche nicht zu erholen braucht. Er formulierte es so: „Heute mehr denn je sind wir aufgerufen, den Menschen zu dienen, nicht nur den Katholiken; vor allem und überall die Rechte der Menschen zu verteidigen und nicht nur die der katholischen Kirche. Das Evangelium hat sich nicht etwa gewandelt: es ist nur so, dass wir begonnen haben, es besser zu verstehen."