Einer, der aus dem Mond gefallen ist
Wenn ihr wüsstet, wie wenig ich nach J.P.F. Richter frage; ein unbedeutender Wicht; aber ich wohne darin, im Wicht – so schätzt er sich selbst ein, dieser Jean Paul Friedrich Richter. Mit Recht? Kokett? Ist er nicht der Autor, der abseits aller Strömungen einen Schreibe entwickelte, deren zentrales Thema, die Unvereinbarkeit von Ideal und Realität ist? Er kennt sie gut aus eigener Erfahrung. Ist er nicht der Meistererzähler vertrackter, skurriler, grotesker Charaktere?
Mit grüblerischen Werken zunächst wenig erfolgreich, verzückte er in anderen Arbeiten mit ausgefeiltem Sprachwitz und rasanter Kombination seines enzyklopädischen Wissens eine große Leserschaft (in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dann kommt er fast über Nacht aus der Mode): Ironisierte Idyllen, verquere Figuren und das Vollglück in der Beschränkung – gegossen in vielfältige literarische Genres.
Durchbruch. Sein erster Erfolg war das Leben des vergnügten Schulmeisterlein Wutz in Auenthal (1793), später folgte Das Leben des Quintus Fixlein (1796). Erwähnenswert aus dem reichen Werk sind auch die Romane Hesperus (1795), Titan (1800-03) und Der Komet (1822). Jean Paul hat monströse Werke verfasst, die überquellen von Abschweifungen, Wortspielen, Assoziationsketten, Vergleichen aus allen verfügbaren Wissensgebieten, und die es dem Leser manchmal schwer machen, dem mehr oder weniger abenteuerlichen Handlungsfaden zu folgen. Aber wer die Geduld, die es anfangs braucht, aufbringt, wird reichlich belohnt.
Abgebrochener Student. Der Lehrersohn wird am 21. März 1763 in Wunsiedel im Fichtelgebirge als Johann Paul Friedrich Richter geboren (in der Wahl des Pseudonyms Jean Paul drückt er seine Bewunderung für den französischen Schriftsteller und Pädagogen Jean-Jacques Rousseau aus). 1784 muss er sein Theologie- und Philosophiestudium in Leipzig abbrechen. Er ist schlicht pleite. Die nächsten Jahre (bis 1789) arbeitet er als Hauslehrer, gründet 1790 eine Elementarschule, leitet sie bis 1794. Dann bringt ihm der Erfolg seiner Bücher Unabhängigkeit und Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen (zum Beispiel die Herders, Goethes und Schillers). Bis 1803 arbeitet er als Legationsrat in Meiningen, danach in Coburg und Bayreuth. Von da ab widmet er sich ganz dem Schreiben, wechselt häufig Wohnorte, bis er sich 1804 endgültig in Bayreuth niederlässt, wo er eine Familie gründet. Als sein Sohn 1821 stirbt, bricht Jean Pauls Schaffenskraft. Ein Jahr vor seinem Tod erblindet er. Vor 175 Jahren, am 14. November 1825, stirbt er – kurz bevor die Gesamtausgabe seiner Werke erscheint.
Voller Tag, volles Rohr. Einen für Jean Paul charakteristischen Arbeitstag beschreibt seine Frau Karoline in einem Brief an Ernestine Voß am 8. September 1818 so:
Um 6.30 oder 7 Uhr steht mein Mann auf. Er wartet mit dem Kaffee noch eine Viertelstunde, bis er Wasser getrunken hat und trinkt ihn beim Lesen vorbereitender Sachen allein auf seinem Zimmer. Wir essen spät, nur ein Gericht. Um 1.30 Uhr wird mein Mann zum Essen gerufen. Beim Essen spricht mein Mann viel mit den Kindern, dann ruht er ein wenig. Ist es schön, so geht er am Morgen mit seinen Papieren in Gärten – oder er geht nach einem Orte, eine halbe Stunde weit, zur Frau Rollwenzel. Gewöhnlich kommt mein Mann nachmittags um 3 bis 4 Uhr wieder von dort nach Hause, abends um 7 Uhr geht er in die Harmonie, um 8 Uhr wieder nach Hause, arbeitet eine Stunde für sich und um 9 Uhr essen wir. Der Abendtisch besteht nur aus einem einzigen, aber warmen Gericht. Hier ist mein Mann am gesprächigsten und oft sitzen wir bis 10 Uhr am Tisch. Alsdann wird sofort zu Bette gegangen. Sein alles überflügelnder Geist lässt es nicht zu, dass ich mich ohne Schüchternheit äußere, und es erscheint mir alles überflüssig und einfältig, was ich sagen könnte.
Erstaunlich schon, aber auch ein wenig beängstigend. Da bewegt sich einer ganz und gar in seiner Schreib- und Denkwelt, in einem Gewusel von Ideen, Notizen, von Exzerpten ... aber immer auch hart an Abgründen. Und das wird auch in anderem Zusammenhang sichtbar.
Koffein und Promille. Wie bei allen Mystikern gibt es auch bei Jean Paul ein physisches, ein moralisches Problem. Physisch heißt: der Aufschwung in die zweite Welt, das Abheben in die höheren Regionen des Ideengewimmels, aber auch des klärenden Überblicks, bedarf manchmal eines physiologischen Katalysators. Jean Paul hat die Wirkung von Kaffee und Alkohol in dieser Hinsicht genau studiert. Wenn er stark getrunken habe, philosophiere er heller und wahrer als er dichte, bemerkte er. Also übte er die Dosierung je nach Schreibebene. Wein hilft beim Ideen-Gewinnen, Kaffee beim Ausarbeiten. Also sagte er: Entwirf bei Wein, exekutier‘ bei Kaffee. Jean Paul hatte ein geradezu professionelles Interesse am Trinken für das Schreiben. Trinken in Gesellschaft dagegen hielt der Dichter eigentlich für nutzlos – das war verschwendete Spiritualität. Die an geselligen Tafeln guten Wein trinken, gehen stumpf nachhause, erwachen stumpf, während der am Schreibtisch getrunkene Wein den erhebt, der ihn trinkt, und die Welt, die ihn liest. sagt Jean Paul. Der ruinierte Körper ist der Preis des provozierten Enthusiasmus. Der moralische Preis, der alles um ihn, in ihm verwandelnden poesiehungrigen Sensibilität liegt in der wohl notwendigen Distanz zur Umgebung. Schiller kam er so fremd vor wie einer, der aus dem Mond gefallen ist, und Goethe hielt ihn für eine Art von theoretischem Menschen. Doch was die Dichterkollegen nur ein wenig befremdete, das schmerzte besonders die Freundinnen. Charlotte von Kalb etwa beklagte sich bei Karoline Herder darüber, dass Jean Paul kaum etwas Leidenschaftliches oder Persönlich-Anteilnehmendes in seinen Verbindungen zeigte; alle seine Freunde seien ihm nur Ideen. Ihm ginge es nur darum, Ideendarstellungen in der Masse der ihm bekannten Welt aufzusuchen, das sei es, was ihn reizte, beschäftigte, belebte. Dabei verkennt Frau von Kalb nicht den Gewinn, den das für den Dichter hat; sie lobt seinen freien Sinn und unbefangenen Blick. Er könne nur deshalb weder lieben noch hassen, weil er die Menschen so leicht durchschaue. – Nein, Vorbild ist er keines, dieser Jean Paul – aber einer, der die Grenzen abschreitet, Grenzerfahrungen sammelt und dabei doch unscheinbar und fast bürgerlich bleibt. Gründe? Abgründe?
Kein Einfall sollte untergehen! Es ist bekannt, dass Jean Paul schon mit sechzehn Jahren wusste, er wolle Schriftsteller werden. Schon damals legt er seine Hefte mit Bücherexzerpten und immer mehr eigenen Einfällen an, zwecks eventueller Verwertung in künftigen Romanen. Nicht so bekannt ist vielleicht, was eigentlich diesem Wunsch zugrunde lag, was der Kern dieser Berufung zu diesem Beruf war, (zu dieser Zeit gesellschaftlich ja unter großen Mühen erst durchgesetzt). Nicht Ruhm (auch nicht Rum, möchte man fast sagen) treibt ihn um, nicht der Wunsch nach Unsterblichkeit und Berühmtheit. Es ist eine ganz andere Sehnsucht, die auf sehr verwinkelten Wegen mit dem Göttlichen, mit Gott zu tun hat – dem ganz Anderen. Jean Pauls Sehnsucht ist eine Sehnsucht nach der Sehnsucht. So viel wie nur möglich aus sich zu machen, das heißt also nicht: die bestmögliche Strategie zu suchen für ein Maximum an Verwertbarkeit der von Natur und Gesellschaft mitgegebenen Anlagen. Es geht nicht um die Ausbeutung des Talents und des Wissens zu einem irgendwie noch bestimmbaren Zweck, etwa dem, Romane zu schreiben und damit Erfolg zu haben – obwohl das, was der Dichter macht, wenn er alles aufschreibt, wie eine Arbeit aussieht, die einem bestimmten Zweck dient.
Jean Paul sammelt seine Einfälle eben nicht für einen bestimmten Zweck, sondern für ein all-umfassendes Projekt: die Darstellung der Unendlichkeit. Ich habe Seeligkeit genug, wenn ich sie nur darstelle., sagt er einmal (und das tut er: davon gibt ein riesiger Nachlass Zeugnis. Leben oder schreiben (J. Semprun) sind ihm keine Alternative, kein Entweder-oder, sondern zwei notwendige Suchbewegungen nach dem Einen, nach dem Alles.
Sehnsucht und Religion. Wenn Jean Paul heute wieder entdeckt werden kann – dann erstmals der ganze Jean Paul, nicht nur seine beliebten skurrilen Erzählungen, dann wohl zuerst von denjenigen im Publikum, die sich so viel Geschmack für das Unendliche (so nannte Schleiermacher den Religionssinn) bewahrt haben, dass sie für das Wilde in seinen vertrackten Sätzen und überquellenden Vergleichen offen sind, für das Nicht-Domestizierte, für das, was nicht Stil und nicht Literatur ist, für das Wildern im Ideen-Gewimmel eines Geistes, in dem sich sämtliche Geister einer Epoche tummeln.
Literatur: Gert Ueding, Jean Paul, München 1993. |
Die Preußische Nationalbibliothek erwarb Jean Pauls Nachlass 1889. Es handelt sich um 37 etwa schuhschachtelgroße Bündel, deren Inhalt etwa das Drei- bis Vierfache des zu Jean Pauls Lebzeiten Gedruckten ausmachen würden: 40.000 (!) Seiten mit Exzerpten, Beobachtungen, Vergleichsreihen, Übungen im Ideenwürfeln, Zusammenstellungen von Redensarten und Redewendungen, Denkwendungen, vor allem aber Jean Pauls Bausteinen und Einfällen, Aphorismen, die erst in jüngerer Zeit zugänglich gemacht worden sind. |
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