Zeit für einen Nachruf?
1973, 1979, 1989 – drei Daten. Aber kann sich noch jemand erinnern? 1973 erschien die Originalausgabe eines Buches des peruanischen Theologen Gustavo Gutièrrez. Der Titel wirkt wie ein Fanal: Theologie der Befreiung. 1979: lateinamerikanische Bischöfe treffen in Puebla ein, um angeregt von Theologen, von Impulsen des II. Vatikanischen Konzils, aber auch aufgeregt von den politischen und sozialen Zuständen in ihren Ländern, Wege zu diskutieren, die die Ortskirchen einschlagen sollen, um den Menschen vor Ort zu einem lebenswürdigen Leben zu verhelfen. Schließlich 1989: Am 16. November werden sechs Jesuiten in El Salvador getötet, unter ihnen einer der bekanntesten Köpfe der Befreiungstheologie, Ignacio Ellacuriá. Mit ihnen sterben zwei Frauen, die ebenfalls an der Universität arbeiteten. Unschuldige Opfer die einen, die anderen durch ihre theologische, kirchliche, pastorale wie politische Arbeit lange schon auf den Abschußlisten der Machthaber. Was und wer ist geblieben? Die Frage stellt sich, denn in den letzten Jahren ist es still geworden um das Phänomen Befreiungstheologie, die in den siebziger und achtziger Jahren so viel Aufsehen und Kritik hervorgerufen hat. Die führenden Köpfe, ihre Bücher waren stets gegenwärtig: Erzbischof Oscar Romero, der Märtyrer, dessen Seligsprechung immer noch auf sich warten läßt, der Franziskanertheologe Leonardo Boff, der schon genannte Gustavo Gutièrrez – und so viele andere mehr oder weniger bekannte Männer und Frauen. Vielleicht sind die drei genannten Namen auch symptomatisch für die Entwicklung. Der eine hat – wie nicht wenige – seine persönliche und geistliche Option für die Armen mit dem Leben bezahlt, der andere hat frustriert den Habit hingeworfen, der dritte, Gustavo Gutièrrez, macht schlicht und ergreifend weiter, älter zwar und gesundheitlich angeschlagen, aber immer voller Glauben und Mut. Und er ist nach wie vor nicht allein. Zeit für einen Nachruf? Anläßlich der Verleihung der theologischen Ehrendoktorwürde durch die schweizerische Universität Freiburg im letzten Jahr wurde Gutièrrez in einem Interview für die Neue Zürcher Zeitschrift gefragt: Es ist immer wieder zu hören, die Theologie der Befreiung sei nicht mehr aktuell, ja sie sei sozusagen tot. Wie weit stimmt diese Einschätzung? Gustavo Gutiérrez antwortete prompt und schlicht: Ich weiß nicht, warum man zu diesem Eindruck kommt. Die Befreiungstheologie wurde inmitten der Armut Lateinamerikas geboren. Diese Armut ist nach wie vor da. Erst wenn sie verschwunden ist, braucht es die Theologie der Befreiung nicht mehr. Ich wäre sehr glücklich, wenn es so weit käme! – Das ist deutlich genug. Dennoch gilt es zu fragen, warum – in der europäischen Wahrnehmung zumindest – die Befreiungstheologie so viel an Echo verloren hat. Veränderter Rahmen. Versucht zu ergründen, warum die Theologie der Befreiung aus der öffentlichen Wahrnehmung in Europa verschwunden sind, dann stößt man schnell auf politische, theologische und europäische Zusammenhänge. Die politischen sind deutlich. Zwischen den 70er und den 90er Jahren hat sich vieles verändert. Das Jahr 1989 markiert mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums eine politische Zäsur, die die Befreiungstheologie insofern getroffen hat, als eine Reihe ihrer Vertreter sich soziologische Analyseinstrumentarien linker Autoren geborgt hatten, um die lateinamerikanische Gesellschaftswirklichkeit zu entschlüsseln und von dort aus kirchliche Handlungsschritte zu entwickeln. Andere politische Gründe liegen in der Tatsache, daß in vielen lateinamerikanischen Ländern in den letzten Jahrzehnten die in den 60/70er Jahren fast allgegenwärtigen Militärdiktaturen durch Demokratien abgelöst wurden. Das hat in den Ländern dort nicht unerhebliche Hoffnungen geweckt, daß demokratische Ordnungen nun mehr für die Armen bewegen würden. Eine Hoffnung, die bis heute nur in Ansätzen trägt. Die theologischen Gründe für das scheinbare Verschwinden der Befreiungstheologie sind ebenfalls schnell benannt. Sie war stets heftig kritisiert. Rom hat in seinen Stellungnahmen immer wieder auf theoretische Schwachpunkte und Einseitigkeiten hingewiesen (die – das gaben viele Befreiungstheologen zu – auch wirklich festzustellen waren). Allerdings muß man sagen, daß die unterschiedlichen Befreiungstheologien immer unter dem unmittelbaren Eindruck der Not der Menschen geboren waren. Oft fehlten schlicht Zeit und Möglichkeit, eine in aller Ruhe ausgefeilte Theologie vorzulegen. Der praktische Impuls, befreiendes Handeln für die Armen – und vor allem mit ihnen als Gestalter ihres eigenen Lebens – überwog oft. Ein Defizit bei allen positiven Anregungen, die nicht wenige auch in Europa erhofft und aufgesogen hatten. Damit kommen wir zu einem dritten Punkt. Europa hat es gut (?). Wenn man in Europa die Schwundstufen der Aufmerksamkeit für die Befreiungstheologie ansieht, dann wird man auch an anderen Stellen fündig. Und zum Teil hat dies auch mit dem mystischen Jahr 1989 zu tun. Mit dem Sieg des Kapitalismus hat eine Entwicklung Schub erhalten, die zu einer Privatisierung, Entpolitisierung und Entsolidarisierung geführt haben. Das spürt man hier vor Ort bei den eigenen sozialen Problem, das schlägt sich aber auch nieder in der Aufmerksamkeit für weiter entfernte Brennpunkte. Mag es innerkirchlich in Europa auch am Auffälligsten die Befreiungstheologie getroffen haben, es trifft nicht nur sie. Die Sozialverkündigung von Papst Johannes Paul II. geht genauso unter wie das Sozialwort der deutschen Bischöfe. Ein paar Tage in den Schlagzeilen – weg. An diese Stelle rückt Privatisierung, Entpolitisierung, Esoterisierung und Psychologisierung von Religion und Glauben. Mit sozialen, ökologischen, mit friedenspolitischen Themen lockt man zur Zeit kaum noch jemanden hinter dem Ofen, PC oder sonstwo hervor. Echo nötig. Befreiende Theologie wird es schwer haben, as heißt aber keineswegs, daß man schon Nachrufe in den Schubladen bereithalten sollte. Vielmehr wird es weiter nötig sein, daß sich Theologinnen und Theologen mit dem befreienden Impulsen des Evangeliums auseinandersetzen – kirchlich und politisch, sozial wie spirituell. Ob man das Ding, das Projekt dann Befreiungstheologie nennt oder nicht, ist egal. Hauptsache, es geschieht, lebt und geht weiter. Wer die Anregungen aus Lateinamerika und seiner Theologie vergißt oder verdrängt, macht einen Fehler ... |