VON KRÄNEN, GERÜSTEN UND ERINNERUNGEN

01. Januar 1900

Wie war das noch? Auf alle Fälle so ohne kaum weiteres zu beschreiben – jenes nie ferne Gefühl, als ich zum ersten Mal nach Assisi unterwegs war. Der erste freilich noch flüchtige Blick aus dem Bus. Irgendwo auf der Schnellstraße bei Perugia. Für einen Augenblick Assisi erhascht. Tausend Mal gesehen zwar, auf Postkarten, in Umbrien-, Assisi-, Franziskusbüchern, auf Photos-, Videos. Aber wie anders dann der erste Blick – wie überraschend das seltsam unerprobte Gefühl, heimzukommen, wo man doch noch nie, außer in Gedanken, den vielen, war. Noch immer hat sich dieses Gefühl wieder eingestellt – nach diesem ersten Mal vor gut fünfzehn Jahren. Streiflichter diverser Annäherungen an Assisi.

Wie würde es diesmal sein? Anders – das war von Haus aus klar. Aufbruch im letzten Oktober. Die Woche nach dem Franziskus-Fest. Verstärkende Momente dieser Befürchtung, dieser Vorahnung – nicht nur, daß ich vier Jahre lang Assisi gesehen, gerochen, gefühlt habe (Aufgaben, Aufträge und der ganze Terminkalenderbrass – die übliche Litanei also), nein, das allein hätte die Vorfreude auf ein paar Tage am Subasio nur gesteigert. Anders vor allem deshalb, weil da diese Katastrophe vom 26. September (wie sie die Assisianer nennen) war. Anders, weil diese Stöße und Erschütterungen mich direkt getroffen haben. Und das keineswegs nur im übertragenen Sinn. An jenem Septembertag 1997 saß ich in meinem damaligen Paduaner Büro. Das Beben, die Stöße, die Umbrien, Assisi trafen, brachten selbst dort in Padua, hunderte Kilometer nördlich, meinen Schreibtisch ins Wanken. Hüpfende Computerbildschirme, verschwimmender Boden, verschreckte Mitarbeiter – dann die endlosen Versuche, mit Assisi, den Brüdern im Sacro Convento Verbindung herzustellen. Verschreckte Frage: Gibt es Verletzte, Tote? Welche Schäden sonst? Dann die ersten Bilder im italienischen Fernsehen. Krachende Decken, stürzende Kameras – und Staub, Staub, Staub.

Ich wußte, diese Bilder würden wiederkommen, ein Jahr später. Und die anderen Bilder und Szenen auch, die sich aufgespeichert hatten. Verstaubte, weinende Mitbrüder, eben

der erschütternden-erschütterten Basilika entronnen, ein Denkmalpfleger, völlig unter Schock, Sterbebildchen der Opfer, dann die Bilanzsequenzen und -bilder, die zerstörten Dörfer ringsum, Containerwohnungen, der Papst bei einer Stipp- und Trostvisite. Und nicht zuletzt die Erzählungen derer, die vor mir dort waren, nach dem Beben. All das nicht spurlos ...

Assisi – in der Annäherung. Und dann meine Oktoberannäherung. Wieder Perugia. Der Himmel unverschämt blau, als wäre nichts geschehen. Die umbrische Erde weniger ausgedorrt als früher um diese Jahreszeit (wie mir scheint). Umbra. Der Ockerton der Erde, der Schollen nicht so ausgebleicht, sondern saftiger (fast ebenso unverschämt). Läßt auf einen regenreichen Sommer schließen. Und ich denke an die in den Häusern, an die ohne Häuser, die in den Trümmern und daneben ... Regen als Segen. Wie zweischneidige diese Kinderreime und Weisheiten ...

Und dann dieser Augenblick. Ein Moment lang Assisi. Ein Moment lang Verwirrung und Freude. Das erkennst du ja wieder. Dort die massiven Strukturen des Konvents und der Basilika. Linkes Ende von Assisi, am rechten Ende die Klara-Kirche. Wie immer. Aufatmen. Die Burg steht drüber (auch wie immer). Hingetupfte Wolkenschatten auf dem Subasio. So soll es sein, so bin ich’s gewohnt. Wiedererkennungswert. Aufatmen und Irreführungen (wie sich zeigen wird).

Noch näher ran. Die letzten Kilometer. In das Bild zeichnen sich ein paar gelbe und rote Striche. Aha. Da sind Kräne. Da einer, da noch einer. Und jetzt. Gerüste. Waghalsige Holz- und Metallkonstrukte. Documenta-verdächtig! Moderne Kunstwerke fast, sehr interessant! – denke ich. Dennoch: alles in allem schaut es gar nicht so wüst aus. Ein Jahr danach.

Verfestigungen. – Die ersten Impressionen verdichten sich. Flüchtige Passage durch erstbeste Gassen. Alles wie früher auch hier. Die knorrig-störrischen Steinhäuser, Mauern, die Treppen. Es ist Abend. Um die Zeit war im Oktober nie mehr so viel los, erinnere ich mich. Selbstbeschwichtigend. Wenige auf den Gassen. Die Piazza leer (das ist ein erster Riß in der Wahrnehmung). Gut – Gerüste hier, Gerüste da. Aber die wirken wenig bedrohlich, eher wie vertrauensstiftende Maßnahmen. – Zunächst einfach der Eindruck, ein paar Einheimische mehr als sonst hätten sich zeitgleich entschlossen, ihre Behausungen zu renovieren, restaurieren, aufzumöbeln. Erster Tag, erster Abend. Und er sah, daß es gar nicht so schlimm war. Nächster Tag, nächster Morgen, nächste Streifzüge. Die Kirchen ausgespart am Tag vorher.

Verflüchtigt – die ersten Impressionen. Was tags zuvor wie eine Entlastung gewirkt hat, wird zusehends und im näheren Zusehen beklemmender. Das sind keine Baustellen. Das sind verlassene Häuser, verlassene Geschäfte. Ein paar geöffnete Fenster – und ein neugieriger (aber nicht unziemlicher) Blick. Verborgene Verwüstungen. Fassaden stehen – aber innen ...?

Dann die Basilika des Franziskus – ganz und gar eingesponnen, eingewoben in ein kunstvolles Stahlnetz. Das kann die Narben kaum verbergen, die in die Mauern, Fassaden gerissen sind. Zwei Giganten von Kränen. Es wird ernst. Das Kernstück blutet noch immer: In der Oberkirche gibt es kaum etwas anderes zu sehen (für die wenigen, die ohne Helm überhaupt hineinkommen!) als eben diese bizarren Stahlnetze und -gitter, Holzbohlen und einen Altarrumpf (hier sind sie gestorben, die vier! Zermalmt und zermahlen von den Deckentrümmern. Beklommenheit!). Dafür pulsen die mächtigen Eigenweide des Konvents. In den Hallen (früher Ställe, Magazine, Arsenale etc.) Türme aus unzählbaren Plastikkörben. Säuberlich und sortiert Freskenfragmente, Ziegel – ein endloses Puzzle, das die Restauratoren zusammenfieseln – für dermaleinst und angepeilte 60-80 Prozent von Wiederherstellbarem.

Kreuzgang. Gerüst um Gerüst. Kirche um Kirche. St. Chiara – eine verwehtes, windverzerrtes Plakat, das verkündigt: Nur 30 Personen dürfen gleichzeitig in die Kirche. Aber es sind nicht einmal so viele, als ich sie dann betrete. Das San-Damiano-Kreuz. Klarissinnen und ihre Novizinnen beten davor – und dafür, daß die einstürzenden Häusern wiederhergestellt würden. Mit Worten, die Franziskus einstmals vor diesem Kreuz gehört hat. Sein persönlichster Auftrag. Seltsam belegte Stimmen höre ich bei den Schwestern. Oder bilde ich mir das nur ein, weil meine auch belegt klingen würde, müßte ich jetzt sprechen? Erschüttert, merklich erschüttert, aber gerüstet, eingerüstet der Konvent der Schwestern. Risse, Risse. Und dann die Konstruktion vor der Fassade der Kirche – ein Gerüst so groß und ausladend, daß es den Eindruck macht, es würde die Kirche nicht stützen, sondern einstürzen wollen. Ein Stahl- und Holzriese, der gerade die Schulter anlegt, ein Haus wegzustemmen ...

Langsam, aber immer unsicherer werde ich. Assisi verbirgt seine Wunden, vieles offenbart sich erst dem zweiten Blick. Die horrorgestählen Augen (man wird leicht Opfer der täglichen Nachrichten und ihrer Apokalypsen!) brauchen Zeit zu erkennen: Assisi – auch noch bescheiden geblieben in der Darstellung seiner Katastrophe. Aber es kommt dann so manches andere doch noch zum Vorschein. Wunden und Menschen. Die Container an den Rändern. Da leben sie ihrem zweiten Blechdosen-Winter entgegen. Die traurigen Gesichter. Die stillen Baustellenbühnen leer. Die Parkplätze und die Abzählreime: Wird heute Abend doch noch ein Bus mehr mit Pilgern und Touristen dastehen? Oder hauen die schnell alle wieder ab, bevor ihnen das Dach auf den Kopf fällt?

Noch schlimmer! Ein paar Kilometer weiter im Osten, auf die Marken, die Nachbarprovinz zu. 11 Tote und 500.000 Obdachlose, diese Summe – Bilanz der Beben in Umbrien – wird erschreckender, vivider, die Containerdörfer rapide mehr, die Trümmer unaufgeräumter (ein Jahr danach noch immer!). Gilt hier: Aus den Medien aus dem Sinn? Assisi hat Öffentlichkeitswirkung (gehabt, würden manche dortige sagen; jetzt gälte das auch nicht mehr so ohne weiteres; Kamera- und Reporterteams sind abgezogen, die Helfer allerdings nicht!) – aber hier, wo sich alles mögliche Gute Nacht sagt, wäre noch jemand da, etwas zu sagen, klaffen die Wunden noch schmerzhafter. Und es sind ja welche da – wie verlassen und vergessen müssen sie sich fühlen. Meine Vorbeifahrt kommt mir ungehörig vor. Katastrophentourismus? Bleibend quälende Frage.

Verlustliste. San Damiano, die Porziuncola, San Rufino, San Giorgio, die Turmzinnen von Santa Maria sopra Minerva – überall offenbaren sich die Schläge aus dem Erdinneren. Wer zählt die Narben, wer die Wunden ...? Was neben der Verlustliste bleibt für einen Spätheimkehrer, der nach ein paar Tagen wieder in sicherer Gefilde abwandert. Ein paar Hoffnungspunkte – Pilger kommen spärlicher, aber unverdrossen, Initiativen gibt es – von Schwestern und Brüdern für Schwestern und Brüder –, Holzhütten und hin und wieder entspanntere Gesichter, dazu auch der Improvisations- und Ideenreichtum wie ihn vielleicht nur umbrisch-italienische Seelen auf den Weg bringen. Assisi erschüttert – ist es und tut es, aber gerade deshalb keine Zweifel. Seit Franziskus macht es das ... – nicht nur für mich.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016