Das Ringen um den Umgang mit Sündern in der Alten Kirche

Beschäftigten sich die zwei vorausgehenden Artikel in dieser Reihe mit dem biblischen Ideal der Barmherzigkeit, so zeigt unsere Autorin, lehrbefugt im Fach „Alte Kirchengeschichte“ an der Universität Würzburg, auf, wie in der frühen Kirche damit gerungen
25. März 2016 | von

In seiner Bulle zum „Jahr der Barmherzigkeit“ zitiert Papst Franziskus den Kirchenvater Augustinus: „Es ist leichter, dass Gott seinen Zorn zurückhält als seine Barmherzigkeit.“ (Enarr. in Ps 76,11) Und seinen auf die Berufung des Matthäus anspielenden bischöflichen Wahlspruch „miserando atque eligendo“ (indem er ihn mit barmherziger Liebe anschaute und erwählte) hat der Papst dem spätantiken Theologen Beda Venerabilis (Hom 21) entlehnt.

Der Geist der Barmherzigkeit gehört zu den Konstitutiva der frühen Kirche und der Jesusglaubensbewegung von Anfang an und war ein entscheidender Faktor für ihre Attraktivität. In krassem Gegensatz dazu scheint der rigoristisch anmutende Umgang mit Christen zu stehen, die nach ihrer Taufe wieder schwer gesündigt oder gar in der Zeit der Verfolgung ihren Glauben verleugnet hatten. Die folgenden Ausführungen wollen diesen scheinbaren Widerspruch beleuchten.

Das Tauferlebnis

„Nachdem aber mit Hilfe des lebenzeugenden Wassers der Schmutz des früheren Lebens abgewaschen worden war und sich in die entsühnte und reine Brust von oben her das Licht ergossen hatte, nachdem ich vom Himmel her den Geist geschöpft und die zweite Geburt mich zu einem neuen Menschen wiederhergestellt hatte, da festigte sich sofort auf wunderbare Weise das Schwankende, das Verschlossene lag offen, das Dunkel wurde licht; was mir früher schwierig vorkam, wurde möglich, und ausführbar, was mir undurchführbar erschienen war.“ – Mit diesen überschwänglichen Worten beschreibt Bischof Cyprian von Karthago nach seinen vorausgehenden Zweifeln, „dass einer wiedergeboren und durch das Bad des heilbringenden Wassers wiederbeseelt werden könne zu neuem Leben“, die Erfahrung seiner Taufe. Sie ist die große Lebenswende, in ihr erfährt der Mensch eine zweite Geburt und wird zu einer neuen Schöpfung (vgl. 2 Kor 5,17). Mit ihr sind alle früheren Sünden unabhängig von ihrer Schwere vergeben, und der Getaufte ist ein vollkommen reines Mitglied in der Gemeinde der „Heiligen“ (= Getauften), als die sich die Kirche der Frühzeit verstand. 

Sündenvergebung nach der Taufe

Mit diesem Ideal einer makellosen Gemeinschaft verträgt sich nur schwerlich die Erfahrungstatsache, dass die Sünde wieder Macht über den Christen gewinnt. Die Kirche versuchte diesem Dilemma dadurch zu begegnen, dass sie zum Schutz ihrer Heiligkeit den Sünder zeitweilig ausschloss. Nach Sündenbekenntnis und klassischen Bußleistungen wie Gebet, Fasten und Almosen erlangten die Reumütigen als „leidende Glieder“ unter Zurechtweisung und fürbittendem Gebet nach einer bestimmten, an der Schwere ihrer Schuld bemessenen Zeit wieder die volle kirchliche Gemeinschaft.

Bei aller Strenge hat es in der Frühzeit eine Verweigerung der Wiederaufnahme ernsthaft bußwilliger Sünder nie gegeben – ungeachtet vereinzelter Bestrebungen wie z.B. dem „Hirt des Hermas“ (ca. 150), diese Praxis auf eine letztmalige Bußmöglichkeit zu verschärfen. Tertullian bezeugt für das dritte Jahrhundert im Westen die Institution der dreistufigen öffentlichen Kirchenbuße bei schweren Sünden (Götzendienst, Mord, Ehebruch): Bekenntnis vor der Gemeinde (Exhomologese), mehrjähriges Leben im Büßerstand und schließlich Wiederaufnahme (Rekonziliation) durch Handauflegung des Bischofs. So erhielt der Sünder die „pax“ mit der Kirche zurück und wurde zugleich mit Gott versöhnt. Als Sachwalterin der göttlichen Gnade vertrat die Kirche letztlich die Überzeugung, dass es keine Sünde gibt, die größer wäre als Gottes Barmherzigkeit.

Was tun mit den Abgefallenen?

Diese kirchliche Bußpraxis war freilich nie ganz unumstritten, da sich immer wieder rigoristische Tendenzen durchzusetzen versuchten, die das Heiligkeitsideal der Kirche über die Barmherzigkeit stellten: Tertullian kritisierte schon bald die Laxheit im Umgang mit schweren Sündern und schloss sich den Montanisten an, die der Kirche diese Vergebungsgewalt absprachen. In Rom kam es im Jahr 217 zum Schisma zwischen Bischof Kallist und dem Presbyter Hippolyt, der die großzügige offizielle Bußpraxis der römischen Gemeinde anprangerte. 

Besonders drängend wurde die Problematik im Zusammenhang mit den zahlreichen Abgefallenen (lapsi) während der Christenverfolgung unter Kaiser Decius: Dieser hatte im Jahr 250 für alle Reichsbewohner den Zwang zum Götteropfer verordnet, dessen Vollzug durch eine Opferbescheinigung (libellus) nachzuweisen war. Die Maßnahme traf die Christen völlig unvorbereitet und die Masse derer war groß, die sich durch Beschaffung dieser libelli auf unterschiedliche Weise (sacrificati – volles Götteropfer; thurificati –Weihrauchopfer; libellatici – Erschleichung einer Bescheinigung) der Verfolgung entzogen. Als diese sog. lapsi nach dem Tod des Kaisers zurück in die Gemeinden drängten, stellte sich die Bußfrage mit neuer Dringlichkeit. Nicht selten verfassten „Bekenner“, d.h. Glaubenszeugen, die der Hinrichtung entgangen waren, Empfehlungsbriefe, aufgrund derer die lapsi ohne Bußleistungen und unter der zweifelhaften Umgehung einer bischöflichen Entscheidung die Versöhnung (pax) erlangten. 

Harte Linie?

Der römische Presbyter Novatian lehnte jegliche kirchliche Vergebung schwerer Sünden und damit Milde in der Frage der Wiederaufnahme der lapsi kompromisslos ab und gründete gegen Bischof Cornelius im Jahr 251 seine „Kirche der Reinen und Heiligen“. Als diese sich auch in Nordafrika immer weiter ausbreitete, bezog Bischof Cyprian von Karthago klar die Position seines römischen Amtsbruders und wehrte sich energisch gegen die Novatianer. Ohne die feste Ordnung des kirchlichen Bußverfahrens aufzuheben, plädierte er auf einer karthagischen Synode (251) für Milde gegenüber den Schwachen: Je nach Schweregrad des Abfalls mussten sie die vorgeschriebene Bußzeit auf sich nehmen, in Todesgefahr jedoch sollte jeder die pax der Kirche wiedererlangen. Als im Jahre 252 eine noch heftigere Verfolgung  drohte, wurde unter Verweis auf die „väterliche Liebe und die göttliche Barmherzigkeit“ verfügt, allen lapsi, die von Anfang an die kirchliche Buße übernommen hatten, die Wiederaufnahme zu gewähren: niemand sollte „waffen- und schutzlos“, d.h. unversöhnt in diese neue Prüfung ziehen müssen (Cyprian, Brief 57).

Der Sieg der Barmherzigkeit

Wenngleich sie noch jahrhundertelang Bestand hatte, wurde die novatianische Sonderkirche auf mehreren Synoden verurteilt: „Sie alle fassten den Beschluss (dogma), Novatianus samt denen, die ... sich seiner lieblosen und ganz und gar unmenschlichen Ansicht beizupflichten entschieden, aus der Kirche auszuschließen, die ins Unglück gestürzten Brüder dagegen mit den Heilmitteln der Buße zu heilen und zu pflegen.“ (Eusebius, KG 6,43,1f.)

Das Ringen um die Sünder und speziell die lapsi macht deutlich: So sehr sich die Alte Kirche gegen den Einbruch laxistischer Tendenzen wehrte und das Heiligkeitsideal der Gemeinde zu schützen bestrebt war, so sehr verteidigte sie gegen harten Rigorismus und kalte Lieblosigkeit letztlich den Geist barmherzigen Verstehens für den Sünder, wie Jesus ihn vorgelebt und für alle Zeiten eingefordert hat (vgl. Mt 6,12; 18,21f.; Lk 6,36).

Zuletzt aktualisiert: 17. Oktober 2016
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