Überlebt - dank Schreibmaschine und Schauspiel
Ich halte dieses Leben nicht mehr aus und werde mich erschießen. Aber ich werde es nicht in irgendeinem Kellerloch tun, sondern ich werde dafür auf den Roten Platz im Zentrum Moskaus gehen. Möge das ganze Volk von meinen Staatsverbrechen erfahren.Eine Reaktion von Seiten des Staates hat die Jüdin Dora Vladimirovna, heute 84 Jahre alt, auf diese Worte, die sie in einem Brief an Stalin schrieb, nie erhalten.
Aufgrund der Arbeit ihres Vaters, der Anfang des 20. Jahrhunderts in die Schweiz gegangen war, wurde sie in Bern geboren und verbrachte ihre frühe Kindheit in Genf. Bis heute ist das kleine Madchen von damals, 'la gamine de Plainplais' in mir wach. Ich kann einfach die glücklichen Momente nicht vergessen, wenn der Gendarm uns aus Dank feierlich die Hand drückte, weil wir ihm einen Schlüssel, eine Brosche oder sogar ein Portemonnaie ablieferten, Dinge, die wir beim Spielen im Heu gefunden hatten. Für uns wäre es eine Schande gewesen, diese Dinge zu behalten. Wir hatten viel Respekt vor dem Eigentum anderer.
Juden unter Stalin. Die Erziehung Doras und ihrer drei Geschwister basierte auf soliden humanen und moralischen Prinzipien. Die Familie wurde in ihren Dokumenten als Juden geführt, aber die Eltern hatten keine Beziehung zur Religion.
Seit jeher nahmen die Juden unter den Nationalitäten der Sowjetunion eine Sonderstellung ein. Ihnen fehlten zum großen Teil die Merkmale, die auch Stalin für eine Nation als unabdingbar definierte: Gemeinsamkeit der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der Kultur. Dora litt wie ihre ganze Familie unter Angst und Verfolgung, ihr Vater und ihre Brüder wurden Opfer des grausamen Stalinregimes, ihr Eigentum wurde konfisziert und sie - als Tochter eines Staatsfeindes - hatte keine Möglichkeit, eine ihr entsprechende Ausbildung zu bekommen.
Von klein auf verspürte Dora eine große Neigung zur Kunst und zum Theater. Ende der 30er Jahre arbeitete sie im Sekretariat der Theaterakademie und studierte heimlich Dramaturgie. In diesem Ambiente lernte sie einen jungen Usbeken kennen, der sie gerne geheiratet hätte. Aber Dora fürchtete die Formalitäten bei den Behörden, denn kurz vorher hatte man den Ehemann ihrer Schwester, einen Kirgisen, verhaftet.
Unvergängliche Werte. Heute lebt sie allein. Oft sagt sie, dass es wie ein Wunder sei, dass sie noch lebt. Ihre Freunde sind tot und nur wenige der jungen Leute interessiert die Geschichte, die sie zu erzählen hat. Dora ist Vertreterin einer Generation, die ohne Religion, ohne Gott lebte. Sie hat überlebt, weil ihr Werte wie Ehrlichkeit, Noblesse und Standhaftigkeit in die Wiege gelegt wurden. Sie selbst sagt: Mein Ideal und meine Religion ist immer die Kunst gewesen. Viele Menschen glauben an Gott und finden in ihm Trost. Ich habe meine Kunst, die mich in allen schweren Situationen gerettet hat. Das wirklich Künstlerische ist unvergänglich, wie Gott.Bei diesen Worten schaut ihr la gamine de Plainpalais, das kleine Madchen aus der Schweiz des beginnenden 20. Jahrhunderts, wieder aus den Augen, dieses Mal mit der Reife und Schönheit einer lebens- und leidgeprüften Frau.
INTERVIEW MIT DORA VLADIMIROVNA PRUSS Sie leben heute in Moskau, aber von Geburt sind Sie Schweizerin... Das ist eine lange Geschichte, die noch in das letzte Jahrhundert zurückreicht. Als Russland 1904 mit Japan in den Krieg trat, hatte mein Vater, wie viele andere seiner Altersgenossen, dagegen protestiert und war so, wie alle die frei ihre Meinung sagen wollten, ins Gefängnis gekommen. Seine Rettung war, dass unserem Zaren ein Sohn geboren wurde, und in Russland wurde bei der Geburt des Thronfolgers im ganzen Land eine Generalamnestie erlassen. So kam auch mein Vater frei. Er war ein tüchtiger Handwerker und hatte Uhrmacher gelernt. Nach seiner Freilassung ist er in die Schweiz gegangen und hat sich dort eine Existenz aufgebaut. Dann ist seine Braut, meine Mutter, aus Russland nachgekommen, und wir vier Geschwister, zwei Jungen und zwei Mädchen, wurden alle in der Schweiz geboren. Ich bin die Jüngste. In Ihren Dokumenten steht, dass sie Jüdin sind. Wie stehen Sie zu Ihrer Religion? Sie sind mit Ihrer Familie dann nach Moskau gekommen. Wie war das? Haben Sie schöne Erinnerungen an diese Zeit? Es gab dann eine tragische Wende in Ihrem Leben... Wir haben Sie kennen gelernt, als Sie in einer Komunalka (staatliche Wohnung, in der mehrere Familien untergebracht waren, Anm. d. Red.) lebten. Wie haben Sie sich allein durchgeschlagen? Wie leben Sie heute? Was macht Ihnen Freude? |