Vom Glück mit dem Evangelium zu leben
Es ist wieder einer dieser trüben Wintertage, an dem ich mich in die öffentlichen Verkehrsmittel zwänge. Metro und Bus sind hoffnungslos überfüllt, und ich werde gut zwei Stunden benötigen, um an den Stadtrand von Moskau zu fahren. Andrej und Elena mit ihren beiden Kindern Elisabetta (12 Jahre) und Nikolai (7 Jahre), in der russisch-orthodoxen Kirche beheimatet, erwarten mich.
Viel riskiert. Andrej ist Anfang 50, Ingenieur, und während er mir eine Tasse Tee einschenkt, beginnt er zu erzählen: “Wie viele meiner Altersgenossen, wurde ich nicht getauft und erhielt keine religiöse Erziehung. Während meines Universitätsstudiums sammelte ich Bücher, kannte mich gut in der russischen Geschichte aus und interessierte mich sehr für antike russische Architektur und für Ikonen. Irgendwie fühlte ich mich immer vom Christentum angezogen, auch wenn ich über keine direkten Kenntnisse verfügte. Heute denke ich mir, dass sich diese verborgene Liebe vielleicht durch die russische Malerei, Literatur und Architektur übertragen hat. Den Film über den russischen Ikonenmaler Andrej Rublov, der auch in Sowjetzeiten lief, habe ich mindestens 15 Mal gesehen.”
1972 bot sich dem gerade 22-Jährigen die Möglichkeit, sich taufen zu lassen. Damals war es sehr gefährlich, einen solchen Schritt zu tun und man riskierte, die Arbeitsstelle oder den Studienplatz zu verlieren, wenn es bekannt wurde. Aber Andrej hatte Glück. Vater Alexander Men, ein russisch-orthodoxer Priester (siehe “Sendbote” 2/99, S.44ff), taufte ihn heimlich in einem kleinen Haus auf dem Land, außerhalb von Moskau.
Vater Alexander war damals bereits sehr bekannt und wurde der “Seelsorger der Intelligenzia” genannt. Er hatte viele Bücher über den Glauben geschrieben, und um ihn herum versammelten sich unzählige Jugendliche und Erwachsene, die mehr über den Glauben wissen wollten.
Geistlicher Vater. Er traf sich mit ihnen in kleinen Gruppen, die im Lauf der Zeit zu kleinen Hauskirchen wurden. Obwohl der KGB ständig beobachtete und kontrollierte, hat die Gemeinde überlebt, bestimmt auch dank der vielen Gebete ihres geistlichen Vaters.
Mitte der Achtziger Jahre bekam Vater Alexander große Schwie- rigkeiten. Seine Bücher, die Geschichte der Religionen, die im Ausland auf Russisch veröffentlicht worden waren, kursierten heimlich auch in der UdSSR. Da aber in der Sowjetunion nichts publiziert wurde, was positiv über das Christentum und andere Religionen sprach, waren diese Bücher ein unüberwindlicher Stein des Anstoßes. Vater Alexander und viele seiner Pfarrkinder wurden oft zum Verhör geholt. Wie die Geschichte ausgeht, ist allgemein bekannt. Am 9.9.1990 wurde der Priester auf dem Weg zur Kirche von hinten mit einer Axt erschlagen.
Neuer Glaubensimpuls. Andrej ist beim Erzählen sichtlich bewegt und blickt zu seiner Frau hinüber, die am Fenster sitzt und Sohn Nikolaj auf dem Schoß hält. “Für uns alle war dies ein furchtbarer Moment”, fährt Andrej fort. “Wir waren wie kopflos, wussten nicht mehr, wie wir unser geistliches Leben gestalten sollten. Und genau in diesem Augenblick ist in meiner Familie ein Wunder geschehen. In der Arbeit traf ich jeden Tag eine ältere Frau, die im Haus als Fahrstuhlführerin arbeitete. Sie war gläubig. Mit der Zeit freundeten wir uns an, und ab und zu steckte sie mir heimlich religiöse Schriften und Bücher zu. Eines Tages hat sie mich mit meiner Frau zu sich nach Hause eingeladen. Im Wohnzimmer saßen auch noch andere Personen, und das Gespräch drehte sich den ganzen Abend um das konkrete Leben nach dem Evangelium. Mit Lena sind wir an jenem Abend auf eine kleine Gemeinschaft gestoßen, die unserem geistlichen und auch praktischen Leben eine neue Ausrichtung gegeben hat.”
Lena lächelt, als sie den kleinen Kolja auf die Erde setzt und zu uns herüberkommt. “Jeden Morgen beginnen wir mit dem Wunsch, das Evangelium in die Tat umzusetzen. Dazu wählen wir mit unseren Freunden jeden Monat einen Satz aus der Schrift, den wir gemeinsam leben. Da war zum Beispiel das Wort: Wer diese Kleinen um meines Willen aufnimmt, nimmt mich auf.
Ja zum Leben. Wir erwarteten unser zweites Kind und viele Kollegen und Nachbarn rieten uns, es nicht zu bekommen, weil wir sehr beengt wohnten und kein Geld hatten. Aber dieses Wort hat uns geholfen, bei jeder Anfechtung ein neues Ja zu dem noch ungeborenen Leben zu sagen. Unsere Freunde unterstützten uns immer wieder in unserer Entscheidung und heute ist Nikolaj die Freude aller. Dieser neue Lebensstil nach dem Evangelium hat das Glück in unsere Familie gebracht.”
Jeder Augenblick ein Gebet
Die Ärztin Alla Dimitrevna gehört zum Kreis der russischen Freunde unserer Autorin. Sie verdankt die Grundlagen ihres religiösen Lebens Vater Alexander.
“Der geistliche Vater spielt in der russisch-orthodoxen Kirche eine sehr große Rolle. Der Gläubige wendet sich häufig an ihn und befolgt seinen Rat, den er als Willen Gottes versteht. Vater Alexander dagegen hat uns dazu geführt, selbst die Verantwortung für unsere Entscheidungen zu übernehmen.
Anfangs verstand ich den Willen Gottes so, dass ich morgens und abends meine Gebete sprach, vier Mal im Jahr fastete und mich bemühte, die Zehn Gebote zu befolgen. Erst nach und nach verstand ich, dass der Wille Gottes mir vielleicht auch noch etwas anderes sagen wollte...
Nach dem Tod Vater Alexanders fühlte ich mich wie eine Waise, bis ich eine Gruppe von überzeugten Christen traf, die Freunde von Andrej. Das war 1993 und im Zusammensein mit diesen Menschen verstand ich, dass Gott mich unendlich liebt. Im ersten Moment war ich wie geblendet von diesem Licht. Plötzlich verstand ich jedoch, dass jeder Augenblick des Tages zu einem Gebet werden kann, wenn ich im Kontakt mit Gott bin und zum Beispiel meiner Nachbarin aufmerksam zuhöre... Gott ist so in jeden Moment meines täglichen Lebens getreten. Er hat mich aus dem ‘Proletariat’ in das ‘Königtum’ erhoben”.