Väterchen Frost und die beschenkten Seelen
Weihnachten – rozd’estvo… schon der Name ist Poesie meint Gregori Ivanovic. Wenn wir in meiner Kindheit in der Weihnachtsnacht in die Kirche stapften, glitzerte der Schnee im Mondschein und es war fast taghell. Ich wartete immer darauf, im Schatten hinter der nächsten Tanne D’ed Moros (Großväterchen Frost) zu begegnen und hatte dabei gemischte Gefühle von Angst und Erwartung. Mein Großvater schilderte ihn mir stets in den lebhaftesten Farben.
Der beschenkte Weihnachtsmann. Gregori Ivanovic ist heute 81 Jahre alt und erinnert mit seinem weißen langen Bart fast selber an den Weihnachtsmann, als er weiter erzahlt: „D’ed Moros, der sowjetische Weihnachtsmann, hat eine lange Geschichte. Vor langer Zeit glaubte man, dass die Seelen der Verstorbenen weiterleben und für gutes Wetter und reiche Ernte sorgen können. Als Dank für diese Mühe zeigte sich die Bevölkerung im Winter mit Geschenken erkenntlich. Am Vorabend des Festes zog die verkleidete Landjugend mit Masken von Haus zu Haus und sprach Zaubersprüche über die Familien. Der Hausherr bewirtete die Gäste als Zeichen dafür, dass er durch sie seinen Vorfahren für die gute Ernte dankt. Unter den Verkleideten stach besonders einer hervor, der besonders schrecklich aussah und nicht sprechen durfte. Die anderen nannten ihn Großväterchen. Vielleicht ist er das Vorbild für den Weihnachtsmann von heute, nur mit dem Unterschied, dass der Geschenke bringt und nicht selber einsteckt.
Gregori Ivanovic schiebt seinen Stuhl zurück: Mit der Verbreitung des Christentums sprach man dann nicht mehr von den Seelen der Verstorbenen, sondern von himmlischen Boten und die Zaubersprüche verwandelten sich in Glückwünsche.
Figuren des Aberglaubens. Der alte Mann geht zu seinem Eckschrank und zieht aus einer überquellenden Schublade einen Stoß alter Weihnachtskarten heraus. Der russische Weihnachtsmann unterscheidet sich grundsätzlich von der Figur des heiligen Nikolaus in Westeuropa. Dieser hat wirklich gelebt und wurde wegen seiner Güte heilig gesprochen. D’ed Moros ist dagegen heidnischen Ursprungs, eine Figur des Aberglaubens und der Märchen. Er kleidet sich russisch mit Filzstiefeln (valenki) und reist mit einem feurigen Dreiergespann oder einem russischen Pferdeschlitten.
Gregori Ivanovic breitet die Karten vor mir auf dem Tisch aus. Neben D’ed Moros steht eine zarte Mädchengestalt, seine Enkelin Snegurotschka (Schneeflöckchen), die dem Großvater hilft, die Geschenke an die Kinder auszuteilen. Sie ist die Heldin vieler russischer Märchen und durfte auf keiner Feier fehlen, bei der der Weihnachtsmann zu Sowjetzeiten auftrat. Auch heute ist sie für russische Frauen, Mädchen und Kinder der Inbegriff des Zarten und Ätherischen, Kontrast zu dem weißhaarigen alten Mann in schweren Stiefeln und zotteligem Pelzmantel.
Alltagshärten. Beim Betrachten der Karten drängt sich mir der Bezug zu der aktuellen sozialen Problematik auf. Großväterchen Frost scheint das leicht pervertierte Bild des Mannes zu sein, dessen Figur gerade in Russland stark belastet ist. Durch Alkohol- und Geldprobleme geschwächt, ist er nicht immer die starke und Glück bringende Persönlichkeit, die diese Darstellungen vermitteln wollen. Snegurotschka scheint mir ein fast in die Harmlosigkeit abgebogenes Schönheitsideal zu sein, dessen Hauptaufgabe darin besteht, die Stellung des Mannes zu unterstreichen. Der Alltag in Russland zeigt ein anderes Bild. In den meisten Familien ist die Frau die Ernährerin ihrer Kinder und ihr Schutz nach außen, mit Ausdauer und oft eisernem Willen kämpft sie auch um das Überleben ihres Mannes. Für Ätherik ist da meistens kein Platz.
Verschobene Weihnacht. Es ist die Nacht vom 6. auf den 7. Januar. Mit Tatjana Anatolevna gehe ich durch die schneehellen Strassen Moskaus in die Kirche auf der Tverskaja-Strasse. Am Nachmittag haben wir bei ihr zu Hause unter die Jolka, den traditionellen Weihnachtsbaum, einige Geschenke für ihre Enkel gelegt, die sie nach dem Gottesdienst auspacken werden. Der Schnee knirscht unter unseren Sohlen und bei minus 20 Grad schwebt unser Atem in kleinen Wölkchen in der frostigen Nachtluft.
Je mehr wir uns der Kirche nähern, desto mehr Menschen sind neben uns, die in die zahlreichen orthodoxen Gotteshäuser der Innenstadt eilen. Weihnachten ist das Zentrum der kirchlichen Feste. Tatjana Anatolevna hat mir erklärt, dass sich manche Orthodoxe Kirchen nach dem julianischen Kalender richten (wie z.B. die russisch-orthodoxe und die serbisch-orthodoxe Kirche) und deshalb Weihnachten um 14 Tage verschoben feiern (d.h. der 25.12. im gregorianischen Kalender entspricht dem 7. Januar im julianischen Kalender).
Seit 1917 wurde Weihnachten in Russland nicht mehr gefeiert. Mehr als 75 Jahre konnten gläubige Mütter ihren Kindern und Kindeskindern den Glauben nur im Untergrund weitergeben. Zu Sowjetzeiten hatte den Platz dieses Festes der 1. Januar eingenommen, Neujahr, das mit D’ed Moros und Snegurotschka, aber ohne jegliche religiöse Note gefeiert wurde. Ein geschmückter Tannenbaum und Geschenke wurden feste Bestandteile des vielleicht wichtigsten Festes in der damaligen Sowjetunion. Erst Mitte der Neunzigerjahre wurde Weihnachten wieder offiziell begangen.
Abbild des Unsichtbaren. Im Vorraum der Kirche hängen wir unsere Mäntel an die bereits überfüllte Garderobe. Wärme und Weihrauchduft umfangen uns, und der Kerzenschein vor den Ikonen, die in der ganzen Kirche verteilt sind, gibt ein Gefühl von Geborgenheit und Heimat. Tatjana führt mich zu der Weihnachtsikone (siehe Kasten), die in der Mitte der Kirche steht. Mich beeindruckt die überdimensional groß dargestellte Figur der Gottesmutter (siehe Kasten). Dieses sakrale Bild spiegelt die Wichtigkeit und Größe ihrer Rolle im Leben des orthodoxen Christen wider.
Wie alle bekreuzigen wir uns mit drei Fingern der rechten Hand, küssen die Ikone, verbeugen uns und sprechen ein Gebet. Nach einer weiteren Verbeugung lassen wir unseren Platz den anderen Gläubigen, die hinter uns stehen. Ich erinnere mich an das, was mir Tatjana neulich erklärt hatte: Wir Menschen suchen halt immer nach verständlichen Ausdrucksformen, um das Unsichtbare sichtbar zu machen. Ikone heißt übersetzt Abbild und möchte in künstlerischer Form ein sichtbares Abbild des Unsichtbaren sein. Nach heftigen Auseinandersetzungen, ob es erlaubt sei, sich von Gott ein Bild zu machen, wurde Ende des 8. Jahrhunderts die Verehrung der Bilder neu diskutiert und erlaubt. Da nun die Ikone als Abbild des Göttlichen erlaubt ist, erweist ihr der Gläubige Verehrung, Anbetung hingegen gebührt nur Gott.
Während wir durch die Kirche gehen und ich die betenden Menschen betrachte, wird mir bewusst, dass für den orthodoxen Christen die Ikone ein Ort des Gebetes und der Begegnung mit Gott und den Heiligen ist.
Heimat Kirche. In dieser Nacht lasse ich mich von dem feierlichen Gottesdienst ganz gefangen nehmen. Er dauert einige Stunden und wir stehen dicht gedrängt bis in die frühen Morgenstunden. Die orthodoxe Liturgie mit ihren feierlichen Gebeten und Gesängen gibt einen idealen Rahmen für ein langes, gesammeltes Gespräch mit Gott ab. Die Ernsthaftigkeit, mit der die Menschen um mich herum diesen Moment leben, und ihre Konzentration über viele Stunden schlagen mich in ihren Bann und lassen mich die Welt draußen mit ihren Sorgen und Ängsten vergessen. Es scheint, als ob auch ich neue Kraft bekomme.
Das Geheimnis von Weihnachten scheint mir so nah wie nie zuvor zu sein. In der Menschwerdung Gottes wird das Nichtsichtbare sichtbar und in dieser orthodoxen Liturgie finde auch ich Halt. Meinen russischen Freunden geht es ähnlich. Als ich mit Alla, spreche sagt sie mir: Ja, unser tägliches Leben ist mühsam, und in meiner Familie wissen wir oft nicht, wie wir den nächsten Tag überleben sollen. Aber in der Kirche scheint es, dass sich in der Liturgie die himmlische Ordnung in einer menschlichen Ausdrucksform widerspiegelt. Und das gibt ein Gefühl von Heimat.
Üppiger Festschmaus. Gegen Morgen endet der Gottesdienst und nach frohen Glückwünschen versammeln sich alle zum lang erwarteten Festtagsfrühstück in der Kirche. Ich sitze zwischen Irina und Anatoli an einer langen Festtafel, die sich unter der Last von Fleisch-, Fisch- und Eierspeisen zu biegen scheint. Irina lacht, als sie mein offensichtlich sehr überraschtes Gesicht sieht. Du musst das verstehen, erklärt sie mir. Die russisch-orthodoxe Kirche schreibt vier Mal im Jahr ein Fasten vor: vor Ostern, zum Fest der Heiligen Peter und Paul, vor dem Fest Mariae Himmelfahrt und vor Weihnachten. Das Weihnachtsfasten beginnt am 18. November und endet in der Nacht auf den 7. Januar. Die sieben Wochen der Vorbereitung auf das große Fest im Jahreskreis sollen der Umkehr dienen, die Selbstbeherrschung stärken und Seele und Körper von allem Schädlichen befreien. Aber du kannst dir vorstellen, dass wir jetzt Hunger haben.
Alles oder Nichts. Anatoli belädt seinen Teller mit Fischsalat und legt sich ein großes Stück Fleisch dazu. Wahrend der Fastenzeit gibt es genaue Vorgaben für das Essen. Zeitweise ernährt sich der Gläubige nur von Gemüse und Obst, und das ist im russischen Winter nicht problemlos. Gegen Ende der Fastenzeit merke ich schon, besonders in der Arbeit, dass die körperliche Kraft nachlässt. Unser Priester sagt uns allerdings immer wieder, dass wir die körperliche Schwäche überwinden können im Bewusstsein darauf, dass Christus am Kreuz noch weit mehr gelitten hat. Und irgendwie merke ich, dass das stimmt.
Obwohl ich nicht 7 Wochen gefastet habe, greife auch ich herzhaft zu. Russland ist ein Land der Kontraste, des Alles oder Nichts, es ist einladend und fordernd, es ist sanft und provozierend. An diesem Weihnachtsfest merke ich noch einmal, wie es mich in seinen manchmal vielleicht heidnisch anmutenden Ausdrucksformen, aber vor allem in seiner tiefen Religiosität immer wieder fasziniert.
Die Festikone
Nach der orthodoxen Tradition ist Christus in einer Höhle zur Welt gekommen. So zeigt auch die Weihnachtsikone Christus in einer Krippe zwischen Ochs und Esel in einer schwarzen Höhle. Die Höhle steht für die Beziehung zwischen Geburt und Tod Christi, denn die Geburt ist wie der erste Schritt auf dem Weg hin zum Tod und die Höhle zeigt die Enge des Grabes. Die Krippe ist wie ein Sarkophag dargestellt.
Außerhalb der Höhle liegt oder kniet die Gottesmutter. Sie ist überdimensional groß dargestellt, weil sie – außer dem Kind – die wichtigste Figur der Ikone ist. Sie blickt in die Ferne oder in sich hinein, nicht auf das Kind, aber zeigt mit einer Hand in seine Richtung. Nachdem Christus in der Gottesmutter die menschliche Natur angenommen hatte und geboren wurde, ist sie nun unsere Fürsprecherin und weist durch ihre Gegenwart auf Jesus hin.
Selten wird sie, wie im Westen, mit dem heiligen Josef dargestellt. Dieser befindet sich in orthodoxen Abbildungen am unteren Bildrand, entfernt von der Krippe, und den Kopf nachdenklich auf eine Hand gestützt.
Am unteren Bildrand sieht man oft, wie das neugeborene Kind von einer Magd oder Hebamme gebadet wird, Symbol dafür, dass das Wasser ebenso wie jede andere Materie gesegnet ist, wenn es in Kontakt mit dem Herrn kommt.
Am oberen Bildrand der Ikone schweben Engel, die Gott loben und ihm danken. Einer von ihnen wendet sich den Hirten zu, um ihnen die Frohe Botschaft zu verkünden.
Auf der anderen Seite des Berges ziehen die Sterndeuter heran, Vertreter von Wissenschaft, Ansehen und Reichtum. Der Stern leitet auch sie zum Kind, Zeichen dafür, dass es für die Erlösung aller Menschen geboren wurde. Sie suchen das Kind aber erst in den Palästen und haben deshalb einen weiteren Weg als die Hirten. Die Ikone zeigt sie noch unterwegs. Sie tragen ihre Gaben für das Neugeborene: Gold für den König, Weihrauch für Gott und Myrrhe für den Menschgewordenen, der den Tod für das Heil der Welt auf sich nimmt.
Kleine Geschichte der russischen Weihnachtskarte
Die Tradition der Glückwunschkarten entstand wahrscheinlich Mitte des 19. Jahrhunderts in England und erreichte Anfang des 20. Jahrhunderts Russland. Innerhalb kürzester Zeit war der Markt von Oster- Neujahrs- und Weihnachtskarten überschwemmt. Sogar zum Namenstag (d’en angel’a-Tag des Engels) konnte mit vorgedruckten Karten gratuliert werden.
Besonders die so genannten Winterkarten erfreuten sich größter Beliebtheit. Man unterschied drei Ausführungen: mit der Aufschrift Frohe Weihnachten oder Alles Gute im Neuen Jahr oder Frohe Weihnachten und alles Gute im Neuen Jahr.
Besonders vor 1917 war auch auf den Glückwünschen der starke Einfluss Frankreichs, Deutschlands und Österreichs zu spüren. Fliegenpilze, dreiblattriger Glücksklee, Zwerge und Schweinchen konnten jedoch nicht den russischen Geschmack verdrängen. Elisabeta Bem zeichnete glückliche Kinder und gratulierte mit Texten russischer Sprichworte, Winterlandschaften, Großväterchen Frost, verschneite Dorfszenen mit scherzhaften Glückwünschen und orthodoxe Kirchturme fanden immer großen Anklang.
1917 verschwanden die Weihnachtskarten völlig. Einige Versuche, zum Jahrestag der Oktoberrevolution zu gratulieren, stießen auf kein Interesse. Zu Beginn der Sowjetzeit fanden sich noch einige Kirchenkalender, aber die Karten tauchten nur noch vereinzelt, vielleicht in Riga oder unter Exilrussen in Berlin und Paris, auf. Die Sowjetbevölkerung gratulierte sich in den ersten Jahren noch mit alten Karten, auf denen sie Frohe Weihnachten durchstrichen, bis auch die letzten Spuren dieser Tradition getilgt waren.
1988, als die Zensur aufgehoben wurde, vergaß man, auch den Druck von religiösen Glückwunschkarten wieder zu erlauben. Erst im Dezember 1991 erinnerte man sich an diese kleinen, aber nicht unbedeutenden Druckerzeugnisse. So durften endlich 1992 wieder religiöse Wünsche in Umlauf gebracht werden.
Heute findet sich auf dem Markt alles, was das Herz des Russen nur begehrt. Großväterchen Frost mit Snegurotschka, die ihren Pferdedreispänner mit Geschenken beladen haben, aber auch goldene Kirchenkuppeln und fromme Segenswünsche erreichen jeden Haushalt, wo Groß und Klein sich um den Tannenbaum versammeln.