Lebensentscheidung Liebe
Eduardo Guedes starb am 27. Januar 2011 im Alter von 56 Jahren an einer tückischen Krankheit. Einer seiner Freunde sagte später über ihn: „An seinem Sterbebett habe ich begriffen, was Heiligkeit bedeutet: den Willen Gottes im gegenwärtigen Augenblick leben, sich von Seiner Liebe getragen fühlen.“ So lebte Eduardo, so starb er. Und so bleibt er gegenwärtig. Über den Tod hinaus.
Unsere gemeinsame Geschichte mit Eduardo, dem Physiker aus Lissabon, beginnt 1991 am „Starij Arbat“, in einer Wohnung im historischen Stadtzentrum von Moskau. Zusammen mit anderen Fokolaren sind wir nach Russland gekommen, in dieses Land im Um- und Aufbruch, um mit den Menschen dort ihre Situation zu teilen. Die Wohnung am Starij Arbat ist zu der Zeit Treffpunkt, „Herdstelle“ für alle Menschen, die auf der Suche sind nach Gott, nach Freundschaft, Heimat und der Wärme einer Gemeinschaft.
Gleich bei unserem ersten Treffen fällt mir an Eduardo eine gewisse Noblesse auf. Der von Natur aus eher schweigsame Eduardo strahlt Sicherheit aus, eine Ruhe, die mich denken lässt, dass er die Situation versteht und – im positiven Sinn – beherrscht. Später werde ich sehen, dass auch er mit den Schwierigkeiten im postsowjetischen System zu kämpfen hat: die langen, oft unerfreulichen Bemühungen darum, immer wieder ein Visum für sich und andere zu bekommen, Arbeit zu suchen et cetera. Aber er nimmt es häufig mit Humor, ist hartnäckig und erreicht meist, was er will. So arbeitet er als Vertreter für Bürostühle, als Kontaktperson für eine Ölfirma oder er verdient sich seinen Lebensunterhalt als Journalist… er, der in seinem Land eine akademische Karriere hätte machen können.
In dem politisch unruhigen Moskau sind Personenkontrollen an der Tagesordnung. Eduardo sieht südländisch aus und wird von der Polizei verschiedentlich für einen Georgier oder Tschetschenen gehalten. Der raue Umgangston, mit der die Überprüfung seiner Papiere durchgeführt wird, ist jedes Mal sehr demütigend. Später erzählt er, fast nebenbei, wie ihm diese Erniedrigungen helfen, andere Menschen zu verstehen, die ähnliche Momente durchleben. Gemeinsam sind wir unterwegs nach Sibirien. Bei der Passkontrolle werde ich von einem Zöllner darauf hingewiesen, dass meine Dokumente nicht in Ordnung sind, und mir wird die Weiterreise verweigert. Die Situation ist kritisch, denn ohne gültige Dokumente mache ich mich strafbar. Dies ist einer der wenigen Momente, in denen ich Eduardo unruhig gesehen habe. Aber auch hier überwiegt letztendlich seine Ruhe, die, wie ich heute verstehe, nicht allein Charakterstärke war, sondern eine ganz bewusste Entscheidung, Gott und den Nächsten auch in schwierigen Momenten zu lieben.
Unsere Reisen nach Georgien, das wegen seiner Natur auch die „Schweiz der Sowjetunion“ genannt wurde, sind Mitte der neunziger Jahre für uns noch Aufbruch in eine „terra incognita“. Viele Jahre lang organisieren wir Wochenenden und Fahrten dorthin für unsere russischen Freunde. Das sind oft mühselige Unterfangen, in Schmutz und Armut. Eduardo packt mit an beim Putzen, morgens ist er der erste, der den Saal aufschließt und abends macht er als letzter das Licht aus. Sicherlich habe ich nie an „Heiligkeit“ gedacht, wenn ich ihn dabei beobachtete, aber ich wusste, dass er selbst die kleinsten Dinge stets bis zum Ende tat.
Menschenmagnet
Oft werden wir von den Botschaften unserer Länder in Moskau zu Empfängen und Konferenzen eingeladen. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der Eduardo einige Stunden zuvor noch in einem stickigen, staubigen Keller Hilfsgüter stapelte, sehe ich ihn abends im Gespräch mit dem diplomatischen Corps. Für ihn scheint es keinen Unterschied zu machen, wo er sich befindet. Er stellt sich nicht in den Mittelpunkt… aber er ist Mittelpunkt; die Menschen suchen seine Nähe. Nach 16 gemeinsamen Jahren trennen sich unsere Wege. An dem Tag, an dem ich Russland verlasse, um in die Niederlande umzusiedeln, begleitet mich Eduardo zum Flughafen. Die Wärme, die ich bis heute im Herzen habe, wenn ich an diesen Moment denke, ist das Gefühl von „Familie sein“.
„Ja“ ohne Vorbehalt
Im November 2010 erfahre ich, dass Eduardo schwerstkrank ist und sich zur Behandlung in seiner Geburtsstadt Lissabon befindet. Auf meinen Brief hin antwortet er mir: „Ja, die Krankheit ist ein neuer ‚Wille Gottes’ … Aber ich gebe mein ‚Ja’ dazu, ohne Vorbehalte. Und so erfahre ich auch in dieser Situation in unterschiedlichsten Ausdrucksweisen die Liebe Gottes.“
Ich begreife, dass Sterben auf diese Art nicht improvisiert werden kann. Es ist Ergebnis eines Lebens, das sich immer wieder großzügig an Gott und die Menschen verschenkt hat.
Ein Priester, der Eduardo gut kannte, sagt: „Eigentlich haben wir fast nicht bemerkt, dass er ein heiligmäßiges Leben führt. Er erregte kein Aufsehen, machte sich nicht wichtig, war immer in einer Haltung der Liebe…“.
Vier Tage vor seinem Tod habe ich mit Eduardo telefoniert. Beide sind wir von einer großen Freude erfüllt, gemeinsam für die Menschen in Russland gelebt zu haben. Eduardo ist bereits sehr schwach, als er sagt: „Ja, es waren fruchtbare Jahre!“ Und dann: „Bleiben wir für immer verbunden“. Dieser letzte Gruß ist wie ein Band zwischen uns: ein feiner, kaum sichtbarer Faden und doch ein starkes Seil, das Himmel und Erde für immer verbindet.