Russland, meine Liebe

24. September 2015 | von

Langjährigen Sendboten-Lesern ist unsere Autorin von ihren Berichten aus Russland vertraut. Aus erster Hand berichtet sie nun von ihrem Besuch vor wenigen Wochen und zeichnet ein differenziertes Bild von Russland und der Kraft des Glaubens.




Der Flug SU 2551 von Amsterdam-Schipol nach Moskau-Sheremetjevo setzt zur Landung an. Nach sieben Jahren in den Niederlanden kehre ich für einen Monat nach Russland zurück, um meine Freunde wiederzusehen. Sechzehn glückliche Jahre haben wir in der schweren Zeit von Glasnost und Perestroika Anfang der 90er Jahre zusammen erlebt. 



Zwei Stunden später. Es ist, als ob ich nie fort gewesen wäre: der herzliche Empfang, die vertraute Umgebung. Verändert sind die Straßen: Dreimal so viel Autos wie vor sieben Jahren sausen auf dem mittlerweile 14-spurig ausgebauten Leningradski-Prospekt unter meinem Fenster entlang. 20 Millionen Menschen bewegen sich jeden Tag in einem Labyrinth von Metrolinien,

Busverbindungen und Highways.



Schieben, drängeln und ein schmerzhafter Stoß in die Seite erinnern mich sofort daran, dass hier das Gesetz des Stärkeren gilt. Beim Einkaufen fällt mir auf, wie müde die Menschen sind und wie uninteressiert die Verkäuferinnen erscheinen. Ich will eine Bürste kaufen. Wie heißt das doch noch auf Russisch? Ich habe es vergessen. Mit Gestikulieren und zahlreichen Umschreibungen entlocke ich der Frau hinter dem Tresen endlich ein Lächeln und schließlich… auch die Bürste. Die Mauer von Gleichgültigkeit scheint für einen Moment gebrochen. 







Russlands starke Frauen



Ich treffe Marina. Sie lebt seit Jahren mit einer Spenderniere. Nun muss sie sich wieder einer schweren Operation unterziehen. Kein Wort der Klage. „Ich versuche, den anderen Patienten zu helfen: zuhören, ein Glas Wasser bringen, beim Aufstehen helfen.“ Nach dem Eingriff reagiert ihr kranker, geschwächter Körper mit hohem Fieber, doch sie wird mit einem lapidaren „Wir können nichts mehr für Sie tun“ aus dem Krankenhaus nach Hause geschickt. Marina verbindet sich nun jeden Tag selbst ihre 40 cm große Operationswunde.   



Irina ist Mutter von drei mittlerweile erwachsenen Söhnen. Vor einem Monat hat sich Volodja aus dem Fenster gestürzt. Es ist derselbe Ort, an dem vor vier Jahren der älteste Bruder in den Tod sprang. Irina ist äußerlich nichts anzumerken. Russlands starke Frauen lassen sich nicht brechen… scheint es. Dann verliert sie bei unserer Begegnung die Fassung und weint bittere Tränen. Ich fühle meine Ohnmacht. Hier gibt es keinen Trost. Und doch scheinen ihr meine mit ihr geweinten Tränen neue  Kraft zu geben. 



Als ich 1991 nach Russland kam, waren wir überzeugt, dass das Land seinen Tiefpunkt erreicht hatte. Nun konnte es nur noch aufwärts gehen. Doch auch 2015 scheint die Talsohle längst nicht überwunden zu sein. Gesundheitssystem, Renten- und Altersversorgung liegen im Argen. Die vielen Armen werden stets ärmer und die wenigen Reichen immer reicher. Ein junger Taxifahrer ist jedoch überzeugt: „Nie ging es uns so gut wie heute. Die Welt hat Angst vor Russland. Putin lässt die Welt erzittern.“ Dies ist in der Tat die Botschaft in Presse und Fernsehen. 







Dynamik von innen



Im Gespräch mit meinen Freunden Boris und Anatoli wird eine andere Haltung deutlich. Nicht jeder denkt wie der Taxichauffeur: „Unserem Land geht es schlecht. Das Geld reicht zum Leben nicht aus. Der Staat sei an allem schuld, wiederholen unsere Kollegen ständig. Wir versuchen, einen Gegenpol zu den negativen Stimmen zu setzen. Ja, wir arbeiten viel und verdienen wenig, aber wir haben Arbeit und bekommen Geld. Das kann heute nicht jeder sagen. Wir erzählen unsere positiven Erfahrungen, die alle mit dem Glauben an Gott zu tun haben, und versuchen, persönliche Kontakte aufzubauen, die über das Arbeitsverhältnis hinausgehen.“ Mit einigen Kollegen hat sich die Situation entspannt. 



Auch Marina und Irina erzählen später, dass sie bei aller Tragik und Ausweglosigkeit den Mut nicht verlieren. Der Kontakt mit Menschen, die versuchen, mit ihnen konkret nach dem Evangelium zu leben, stärkt sie immer wieder aufs Neue. Beide sagen: „Wir verdanken unsere Kraft unserem gemeinsam gelebten Glauben. Wir teilen unsere materiellen Dinge, aber auch geistlich stützen wir uns gegenseitig. Manchmal fühlen wir uns wie die ersten Christen, von denen gesagt wurde: Seht, wie sie einander lieben.“







Das Geschenk



An einem meiner letzten Tage in Moskau gehe ich in die Gemäldegalerie „Tretjakovskaia“. Beim Anblick der Bilder fühle ich die Kraft dieses Volkes. Ich entdecke Gewalt und Aggression, aber auch Zärtlichkeit und eine hohe Sensibilität für das Schöne, das Göttliche.



Und dies ist das Geschenk, das Russland mir heute wieder macht. Im Kontakt mit dem Land und seinen Bewohnern will Gott mir etwas sagen. Ich habe Ihn in einer kleinen Gruppe von Christen gefunden. Das „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20) hat sich hier inkarniert. Und dieses Zeugnis Seiner Gegenwart nehme ich in meinem Herzen mit in mein Leben „nach Russland“.


Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016