Auf der Flucht

30. November 2015 | von

118 Kinder und Jugendliche sind auf der Flucht. Sie suchen eine neue Heimat. Das neun Hektar große Terrain von Mariënkroon wird in den Niederlanden zu ihrem Anlaufpunkt. Im 2. Weltkrieg hatten hier fast 1.700 Menschen bei den Zisterzienser-



mönchen der Abtei Zuflucht gefunden. Heute, siebzig Jahre später, suchen wieder Menschen Schutz in diesen Mauern.




Anbessa ist Tigrinisch und bedeutet „Löwe“. Aber der magere 16-Jährige aus Eritrea wiegt gerade einmal 40 Kilo und erinnert eher an einen verhungerten kleinen Vogel. Auf der Flucht aus seiner Heimat nach Holland ist Anbessa um fast 30 Kilo abgemagert. Maya ist 14 Jahre alt und sitzt eingeschüchtert neben Hasin, ihrem drei Jahre älteren Bruder. Sie kämpft mit den Tränen. Heimweh nach den Eltern und die Erschöpfung  einer langen Reise von Syrien nach Nirgendwo spiegeln sich in ihrem Gesicht wider.







Minderjährige Flüchtlinge



Anbessa, Hasin und Maya gehören zu einer Gruppe von 118 minderjährigen Jugendlichen. Unter ihnen sind nur 15 Mädchen. An einem Sonntagabend Ende September erwarten die freiwilligen Helfer ihre jungen Schutzbefohlenen mit klopfendem Herzen. Drei Tage lang haben alle hart gearbeitet: Raum schaffen für viele Stockbetten, einen Speisesaal vorbereiten, einkaufen, kochen, Betten beziehen. Werden die Helfer den Ankommenden gerecht werden können?



Die Jungen und Mädchen sind zwischen 14 und 17 Jahre alt. Viele haben ihre Eltern auf der Flucht verloren, andere wurden von Vater und Mutter auf den Weg geschickt, um in einem neuen Land Asyl zu beantragen und so auch der Familie den Weg in eine sichere Zukunft zu bahnen. Nigisti reist mit einem großen Koffer und ihrem modernen Handy. Sie ist erst seit drei Wochen unterwegs und direkt in die Niederlande gekommen. Frank ist aus Kamerun und seit zwei Jahren auf der Flucht. Der letzte Stopp war Marokko. Seine Habe findet in einer Plastiktüte Platz.







Das tägliche Leben



Anfangs herrscht bei den jungen Flüchtlingen Misstrauen und jeder behält sein mehr oder weniger umfangreiches Gepäck besorgt im Auge. Es wird einige Zeit dauern, bis sich die Atmosphäre entspannt hat. Viele haben traumatische Dinge erlebt. In einer Nacht wird Brandalarm ausgelöst. Während etliche Kinder vor Angst gelähmt sind oder in Tränen ausbrechen, weil die Sirene schreckliche Erinnerungen in ihnen wachruft, bleiben andere unberührt im Badezimmer und duschen weiter. Sie sind Schlimmeres gewohnt. In einer anderen Nacht bricht im Zimmer der Mädchen Panik aus. Einsamkeit und Angst werden im Dunkeln besonders bedrängend. Öfters flackern Konflikte auf, zwischen den ethnischen Gruppen, unter Zimmergefährten. Die räumliche Enge kann erdrücken. Wie geht man damit um? 



Neun Jugendliche werden seit Wochen von einem Notauffang zum anderen geschoben, ohne eine feste Bleibe zu finden. Nun sind die Nerven zermürbt. Die Situation im neuen Land scheint ohne Perspektive. Plötzlich müssen die Helfer lernen, mit lebensgefährlichen Kurzschlussreaktionen der jungen Leute umzugehen. Die Spannung unter allen wird fast unerträglich. Endlich zeigt sich für die Jungen dann eine Lösung. Sie kommen in eine andere Stadt, wo sie auch psychologisch besser betreut werden können.



Nach einer Woche ist das gegenseitige Vertrauen etwas gewachsen. Sheshi bietet sich an, als Verbindungsmann zwischen Betreuern und Jugendlichen zu fungieren. Er möchte dafür die orangene Weste der Helfer anziehen. Josef und sein Freund bringen dem Abt der Abtei, der als letzter seines Orden noch auf dem Terrain wohnt, eine prächtige Orchidee als Zeichen ihres Respekts und ihrer Dankbarkeit. Einige junge Männer engagieren sich beim Staubsaugen, andere helfen beim Aufräumen. Die

Atmosphäre wird spürbar gelöster.



Das Kommunizieren miteinander ist manchmal ungewollt lustig. Nur wenige Jugendliche sprechen Englisch, und die Helfer können weder Arabisch noch Tigrinisch. Piktogramme in den Zimmern und auf den Fluren, stürmisches Gestikulieren und eine Vokabelliste von B wie Bürgermeister bis Z wie Zuschließen machen die Verständigung dennoch in den allermeisten Fällen möglich. Bei der Essensausgabe sagt Luwan, stolz über seine neu erworbene Sprachkenntnis, zu einer jungen Freiwilligen: Ich liebe Dich, was sie – zum Vergnügen der anderen – dann doch eben etwas verlegen macht.





Hilfe von außen



118 Minderjährige in Mariënkroon. Schnell hat die Nachricht die Runde gemacht und eine Lawine der Solidarität ins Rollen gebracht. Der Pfarrer von Drunen bietet sich an, beim Tellerwaschen zu helfen, der Vorsitzende des evangelischen Kirchenrates lädt am Sonntag die Gemeindemitglieder ein, tatkräftig Unterstützung zu zeigen. Ärzte leisten Erste Hilfe. Ein Profifußballer gibt Fußballtraining, die Jugend aus der nahen Stadt steht stundenlang in der Abwaschküche. Jemand spendet 100 neue Unterhosen, ein türkischer Bäcker stiftet das typische Brot, junge Syrerinnen helfen beim Übersetzen, Jugendliche und Erwachsene organisieren Sprachunterricht. 



Einige der Flüchtlingskinder haben auch den Wunsch, mit ihren Glaubensgemeinschaften Kontakt aufzunehmen. So begleiten die unermüdlichen Helfer am Freitagabend 22 junge Muslime in die Moschee in eine nahegelegene Stadt, und am Sonntag fährt ein Bus zur eritreisch-orthodoxen Gemeinde nach Rotterdam.



Sicher, dies alles ist zunächst nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die zum Teil stark traumatisierten Jugendlichen haben noch einen schweren, vielleicht auch steinigen Weg vor sich. Und mit ihnen die Menschen, die sie begleiten. Aber ein Anfang ist getan. Und eins steht bereits fest: Die Flüchtlingsfrage hat – spätestens jetzt – für jeden Helfer ein Gesicht bekommen… das von Anbessa, Maya, Hasin und ihren Schicksalsgefährten hier in Mariënkroon.





Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016