Museum der 100 Tage

29. Juni 2005 | von

Alle vier bis fünf Jahre ist Kassel Schauplatz einer Ausstellung zeitgenössischer internationaler Kunst, die zu den wichtigsten ihrer Art gehört: die documenta. Vor 50 Jahren, am 16. Juli 1955, war die Geburtsstunde dieses damals unerwarteten Welterfolgs.  

 

Deutschland lag nach einem verlorenen Weltkrieg am Boden. Auch kulturell waren die Bande zerrissen. Wie sollten wieder internationale Kontakte hergestellt und, so der Ausstellungsmacher Arnold Bode, „das unterbrochene Gespräch der weltumspannenden Sprache der Kunst“ wieder aufgenommen werden? Die Jugend in der jungen Bundesrepublik hatte seit 1933 keine Gelegenheit mehr gehabt, echte zeitgemäße Kunst zu sehen...

 

Nachkriegsforum moderner Kunst. Zwei Visionäre nahmen sich vor, in Kassel die aktuellen Tendenzen der Kunstentwicklung und ihre historischen Verflechtungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts aufzuzeigen. Unter der Leitung von Arnold Bode, Jahrgang 1900, Akademieprofessor und Künstler, sollte eine Ausstellung entstehen, für die er seine berühmte Formel des „Museum für 100 Tage“ prägte.

Gemeinsam mit ihm als Initiator und geistigem Vater erarbeitete der streitbare Kunsthistoriker Werner Haftmann ein beispielloses Ausstellungskonzept. Es sah vor, die von den Nazis verfemte Vorkriegskunst zu rehabilitieren und zugleich das aktuelle Kunstschaffen in der jungen BRD vor dem Hintergrund der modernen Klassiker zu etablieren. Eine Bilanz über ein halbes Jahrhundert sollte es sein, die Zeichen setzen sollte durch und für die abstrakte Malerei.

 Was von einem privaten Verein ursprünglich getragen wurde und als „Beiprogramm“ zur Bundesgartenschau lief, geriet zur von Kritikern bejubelten „großartigsten Ausstellung nach 1945“ und etablierte sich zu einer alle vier bis fünf Jahre stattfindenden documenta-Reihe (Ausgabe 11 fand 2002 statt), die ein repräsentatives Spektrum der aktuellen Gegenwartskunst bietet. Wechselnde Ausstellungsmacher drücken der jeweiligen Schau ihren ganz persönlichen Stempel auf und liefern reichlich Stoff für das feste Ritual einer jeden documenta-Diskussion.

 

Frisches Ausstellungskonzept. Doch zurück in das Jahr 1955: Das erste Nachkriegsforum musste unter provisorischen Bedingungen stattfinden. Notdürftig waren Ausstellungsräume im durch Kriegsschäden gezeichneten Fridericianeum hergerichtet worden. Dort wurde nun eine Schau inszeniert, die mit ihrem Konzept selbstbewusst der noch nicht allzu fernen Blut- und Bodenkunst des gerade überwundenen NS-Staates gegenüber treten wollte. Ganz bewusst platzierte man deshalb die „Kniende“ von Wilhelm Lehmbruck - von den Nazis als entartet gebrandmarkt - im Zentrum der Ausstellung.

PVC-Vorhänge sowie diverse Materialien einer modernen Industrie- und Innenarchitektur sollten das Gepräge einer optischen Vorführung suggerieren, die ganz auf der Höhe ihrer Zeit steht. Ein Auswahlausschuss einigte sich auf 570 Werke von 148 Künstlern aus sechs Ländern. Die Entwicklung der Kunstrichtungen und Gruppenbewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Fauvismus, Expressionismus, Kubismus, Blauer Reiter, Futurismus um nur die maßgeblichsten zu nennen) war mit so bedeutenden Namen wie Marc Chagall, Paul Klee, Miro, Pablo Picasso oder Emil Nolde dokumentiert - die allesamt ehemals auf dem Index der braunen Machthaber gestanden hatten. Neben dieser Retrospektive über den Beginn der Moderne sollte als eine Art geistiger Standortbestimmung auch eine Einordnung der zeitgenössischen neuen deutschen Kunst vorgenommen werden.

Nicht nur auf einer überdimensionalen Fotowand mit den Porträts aller beteiligten Künstler hingen nun junge Maler neben den Klassikern ihres Genres, auch die „Naturmystik“-Bilder beispielweise eines aufstrebenden Fritz Winters hingen „Auge in Auge“ mit den Arbeiten des großen Pablo Picasso.   

In diesem imaginären Museum des 20. Jahrhunderts - auch oft als „Museum der 100 Tage“ tituliert - fehlte aber auch die Filmkunst nicht: in Form von Filmen über Künstler oder künstlerischen Experimentalfilmen.

 

Erfolgsgeschichte. Zur ersten documenta kamen beachtliche 130.000 Besucher. Das ist natürlich kein Vergleich zur heutigen Zeit, wo ein Medieninteresse ungeheueren Ausmaßes herrscht und man als Besucher dieses künstlerischen Großereignisses zuweilen ein gerüttelt Maß an Geduld in langen Schlangen des Wartens auf sich nehmen muss. Die documenta ist heute (übrigens unter dem Protektorat des Bundespräsidenten und subventioniert durch den Bund und das Land Hessen) neben der Biennale in Venedig die bedeutendste internationale Schau der Kunst.

Was in einer Ruinenkargheit begann, sollte bereits bei der documenta 2 um die Orangerie und das Palais Bellevue erweitert werden. Heute wird die umliegende Parkanlage von Skulpturen okkupiert, und die gesamte Innenstadt Kassels steht für 100 Tage im Zeichen der Kunst.

Das Duo Bode und Haftmann übernahm auch noch 1959 und 1964 die künstlerische Leitung über die documenta 2 und 3. Ersterer blieb ihr gar bis zu seinem Tod 1977 verbunden.

Werner Haftmann wurde als Kunstkritiker, Buchautor grundlegender Werke zur Kunst und Direktor der Nationalgalerie in Berlin zu einer der wichtigsten Gestalten der Kunstwelt im Nachkriegsdeutschland.

Von ihm stammt das Zitat: „Das Museum soll ein Ort der Begegnung zwischen Künstler und Publikum sein ... ein Laboratorium künstlerischer Arbeit“.

Die documenta steht als Modell Pate dafür. Sie schrieb weniger Kunstgeschichte, jedoch umso nachhaltiger Ausstellungsgeschichte.   

 

 

 

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016