Was ist Heimat?
„Ubi bene, ibi patria“, formulierte bereits Cicero. Ob politisch missbraucht, historisch untermauert oder lieblich verklärt - längst hat sich der facettenreiche Begriff Heimat einer reinen Ortsbeschreibung enthoben und entpuppt sich als subjektives Wohlfühlmoment. Selbst im Zeitalter der Globalisierung bleibt die Frage nach heimischer Geborgenheit aktuell.
Was ist Heimat?
Der Ort, an den wir hineingeboren wurden.
Die Erfahrungen unserer Kindheit.
Der Ort , wo ich lebe und mich heimisch fühle.
Interpretationen gibt es viele.
Kann ich sie auch nur im Herzen tragen?
Sicherer Hafen. Was ist Heimat? Zunächst einmal einer der diffusesten Begriffe im deutschen Sprachraum. Er muss auch sehr spezifisch sein, denn es gibt keine direkte Übersetzung in eine andere Sprache. Was noch übersetzbar ist, ist die geographische Bezeichnung für einen Ort, Stadt, Land, Gegend. Da, wo der Einzelne lebt, sich heimisch und wohl fühlt. Spätestens ab hier wird „Heimat“ sehr abstrakt. Behaftet von Klischees, missbraucht von Ideologen, und ganz nach Bedarf benutzt von Institutionen und Parteien. Dazu beladen mit einem Wust an Emotionen, der eine klare Sicht auf das Wesentliche verstellt.
Wie soll man sich objektiv diesem subjektiven Gefühl(süberschwang) nähern, diesem „Urtrieb nach Geborgenheit“? Gelingt es über den Rückblick in die eigene Kindheit? Oder mit dem Blick auf unseren aktuellen Lebensraum, der nun Heimat für uns ist? Wo fängt die Idealisierung dieses „Territoriums für die eigene Sicherheit“ an, in der uns Erlebnisse prägten und prägen und mit dem uns ein Gefühl besonderer Verbundenheit die Einheit mit anderen erleben lässt? Als was wurde Heimat nicht schon bezeichnet: sie ist magnetisch, aufgeschichtete Familiengeschichte, ein sicherer Hafen, in dem alles von Menschlichkeit zusammengehalten wird. Sie ist konservierend, zugleich sollte sie aber auch lebendig bleiben, um trotz oder gerade wegen unverwechselbarer Eigenheiten – auch der Sprache - nicht zu erstarren.
Geprägter Begriff. Blicken wir zunächst in die Geschichte eines Wortes. Der Begriff „Heimat“ hat seinen Ursprung, genauso wie das englische „home“, im altgermanischen „heim“. Es meint den Ort, an dem man lebt. Im Laufe der Jahrhunderte wurde daraus durch eine Anfügung „heimoti“ (zum Heim gehörig).
Erst im Mittelalter kam es zur Ausprägung unseres heutigen Begriffes Heimat. Allerdings umfasste er noch lange nicht die jetzt damit verbundene Gefühlswelt, sondern bezeichnete allein den Besitz von Haus und Hof an einem Wohnort. Grundeigentum war zugleich mit einer Art „Heimatrecht“ verbunden. Was man, auf heutige Verhältnisse übertragen, in etwa mit Rechten und Pflichten einer Staatsangehörigkeit vergleichen kann.
Der Besitzende hatte also gewisse Rechte, wie das der Heirat oder der Ausübung eines Gewerbes. Ein Ausschlussprinzip im Umkehrfall, das den Besitzlosen zum Heimatlosen machte und er damit in seiner Rechtlosigkeit viel Willkür unterworfen war.
Mit der einsetzenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert veränderten sich nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die Lebensformen für die Menschen grundlegend und führten zu einer großen Entfremdung. Halt und Orientierungshilfe bot die in der Romantik aufkommende Verklärung der Gefühlswelt, etwa durch die „Heimatdichtung“. Beispielsweise in der sehnsüchtigen Lyrik eines Freiherrn Joseph von Eichendorff.
Politischer Unterton. Auch was denn die Heimat nun eigentlich ausmacht, beschäftigte nachhaltig die Gemüter. Heimat ist da, „wo man sich nicht erklären muss“, formulierte der Dichter und Philosoph Herder. Und Theodor von Fontane, der große deutsche Erzähler, schrieb uns ins Stammbuch, dass uns „die Fremde erst lehrt, was wir an der Heimat besitzen“.
Im Kaiserreich Ende des 19.Jahrhunderts bekam „Heimat“ mit den nationalistischen Bestrebungen Deutschlands als Pendant zu Vaterland und Nation erstmals einen politischen Anstrich. Diese Idyllisierung und sich steigernde Heroisierung „authentischer naturnaher“ Lebensformen sollte später ihren Niedergang in der Blut- und Bodenideologie des Dritten Reiches finden, in dem den Menschen regelrecht diktiert wurde, wie Heimat gefühlt werden muss und auszusehen hat.
Diese sehr negative und zugleich die schrecklichen Seiten einer Heimatverbundenheit offenbarende „Begriffsbesetzung“ wurde nach nur wenigen Jahren durch den Heimatverlust von Millionen von Menschen bitter erkauft.
In Folge dieser besonderen neuen Situation der Entwurzelung und Vertreibung ganzer Volksteile wurde der Begriff nun anders politisch instrumentalisiert, etwa mit der bis heute aufrecht erhaltenen Forderung des „Rechts auf Heimat“ durch verschiedene Vertriebenenverbände.
Liebliche Verbundenheit. Zugleich ließ aber die urmenschliche Sehnsucht nach Geborgenheit in den 50er Jahren die heile Welt des Heimatfilms in all ihrer Schmalzigkeit und Kitschabstufungen sprießen. „Heimat“ diente nun als Befriedigung eines Massenkonsumbedürfnisses und war Ausdruck neuer harmloser, politisch unverfänglicher Gruppenidentität eines Verlierervolkes.
In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts nahm das Interesse am „direkten Wohnumfeld“ bei weiten Teilen der Bevölkerung stark zu, und es kam zu einem Bewusstseinswandel. Das ökologische Bewusstsein und damit die Sorge um die Welt direkt vor der eigenen Haustür nahm einen ungeahnten Aufschwung, der sich in Massenprotesten gegen unsinnig empfundene Großprojekte (Stichwort Wackersdorf oder Flughafen-Erweiterungen) manifestierte.
Die Sorge um die Natur und das Gemeinwesen ließ Bürgerinitiativen und Projekte der Dorferneuerung entstehen, die Menschen aus vollkommen unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, aber mit gleicher Interessenslage der Heimatverbundenheit, zusammenführte.
Die Heimat - der Film. Aus einer Heimatliebe heraus erwachsene Heimatkunst ließ und lässt aber auch bisweilen den Fassadenkitsch blühen, der oftmals voller hehrer Ansprüche (und Naivität?) mit der „Großen Kunst“ konkurrieren will. Dabei ist die Sehnsucht nach Überschaubarkeit und Verständlichkeit des eigenen Umfeldes heute größer denn je.
Zu den großen künstlerischen Leistungen der letzten Jahre, die sich auf das Thema Heimat bezogen haben, zählt die gleichnamige Filmchronik „Heimat“ des Regisseurs Edgar Reitz. Ungewohnt einmütig zeigte sich sowohl Publikum als auch Kritik begeistert von diesem gigantischen insgesamt 50stündigen Filmwerk der Sonderklasse. Ersten Planungen zufolge sollte es ja - wie noch auf einem Stein eingemeißelt im Vorspann zu sehen - „Made in Germany“ heißen...
Es ist dies die Geschichte der Familie Simon vor dem Hintergrund ihres Hunsrücker Dorfes und seiner Einwohner. Eine unspektakulär und einfühlsam erzählte Chronik fast des ganzen 20. Jahrhunderts - Zeitgeschichte im Spiegel einfacher Menschen.
Wenn diese Trilogie besonders authentisch wirkt, liegt dies bestimmt auch daran, dass viele echte Bewohner des fiktiven Ortes Schabbach als Laiendarsteller und Statisten mitwirkten und eigene Erlebnisse aus ihrer Heimat als Ideen mit in den Film einbrachten.
Auch in der Gegenwartsliteratur schlug sich die Thematik in der jüngeren Vergangenheit stark nieder. In sehr sozialkritischer und antiidyllischer Weise allerdings oft, wie etwa in den als Mundartdichtung angelegten kritisch hinterfragenden Werken des Franz Xaver Kroetz.
Aber genaues Hinsehen ist vonnöten in einer Zeit, in der uns Heimat als Glücksbringer verkauft wird. Denn Heimatgefühle stehen hoch im Kurs. Vertrautes Inventar und heile Orte der Wahrhaftigkeit bieten uns Heimatabende, nostalgische Heimatbücher oder der Besuch im oft verklärenden Heimatmuseum.
Auf der Suche nach regionaler Einbindung und heimatlichem Selbstbewusstsein stehen Volksmusik, wie echt auch immer, regionales Essen als bewusste Abgrenzung zu EU-weiten Normen oder modisch aufgepeppte Trachtenkleidung hoch im folkloristisch unterwanderten Kurs.
Ein Gefühl. Waren Dialekte lange Zeit verpönt, erfreuen sie sich nun wieder einer gewissen Salonfähigkeit - bieten sie doch auch in ihrer Ausdrucksfülle und Vertrautheit der Sprache die nötige emotionale Bindung zur Heimat. Selbst in der Popmusik - sonst Hort aller Amerikanisierung - gibt es nun wieder gehäuft deutsche Musiktexte, die über das übliche Tralala hinausgehen. Wenn Herbert Grönemeyer über die Heimat singt, sie sei kein Ort, sondern ein Gefühl, bietet er uns ein ehrliches subjektives Empfinden an und keine konstruierte Ersatzheimat, wie sie doch oft in der sogenannten Volksmusik zu finden ist – als Endpunkt aller Entfremdung.
Denn Heimat kann im Gefühlsüberhang auch zum Sentiment verkommen, wenn frühere „Idyllen“ („wo doch alles besser war“) verklärt werden, wenn Heimat zum Abziehbild wird und mit geschichtsklitternden neuen “historischen“ Bauten nach außen erkennbar sein muss.
„Heimat“ kann auch durch die Geschichte verstanden werden. Mit der bewussten Erhaltung und Gestaltung von Historie als Zeichen der Erinnerung tun wir uns allerdings nach wie vor schwer. Sonst bräuchte es solche Verordnungen wie den „Denkmalschutz“ gar nicht, der die für die Geschichte unserer Heimat markanten Gebäude zu erhalten versucht. Denn diese „wertvolleren“ Requisiten sind für unsere kollektive persönliche erste Erinnerung an die Heimat unserer Kindheit genauso wichtig wie nur ein individuell „wertvolles“ bestimmtes Haus, eine Straße, ein Ort, ein Mensch.
Seelisch beheimatet. Unsere erste Heimat gewissermaßen, in die wir hineingeboren wurden, das ist „der Ort, wo sie einen hereinlassen müssen, wenn man wiederkommt“ (Robert Lee Frost, amerikanischer Lyriker des 20. Jahrhunderts). Es gibt auch noch eine zweite Heimat, die als prägende Kraft auf der Suche nach Erfüllung nicht an einen Ort gebunden sein muss, sondern ein Bewusstsein und zugleich persönliches Glück ist, angenommen zu werden, Sicherheit, Anbindung und zugleich Orientierungsmöglichkeiten zu erfahren. Heimat nicht nur als geographischen und vererbbaren Begriff zu interpretieren, sondern in sich selbst zu tragen. Denn „Heimat kann man nicht vererben. Sie ist in meinem Kopf. Und sie ist in meiner Seele“ (Horst Bienek, deutscher Schriftsteller). Und diese Heimat kann auch unser Glaube für uns werden!
Dies ist besonders wichtig in einer Zeit, wo Orte im Zeitalter der Globalisierung sowieso leicht austauschbar sind. Einheitliche Bauweisen von Supermärkten oder Wohnvierteln tragen besonders dazu bei, dass sich zumindest das äußere Ortsbild immer mehr ähnelt. Da man nun überall daheim ist, wird es für den Menschen immer wichtiger, sich in seiner tatsächlichen Heimat heimisch zu fühlen, am rechten Platz zu sein - was auch immer das für den Einzelnen bedeuten mag. Auf etwas vertrauen zu können. Denn „wo Besinnung stattfindet, könnte Heimat entstehen“. Vielleicht sollte man das Wort Besinnung durch Glauben ersetzen!
Ubi bene. Für viele ist Heimat auch nicht nur räumlich definiert, sondern ist ein “Wohlfühlort“, der mit Menschen oder Erlebnissen zu tun hat, die individuell bedeutsam sind.
„Wenn ich heimkomme, bin ich angekommen.“ Dieses Ankommen kann an den merkwürdigsten Orten sein, die objektiv betrachtet alles andere als „heimelig“ sind, aber eben doch als Heimat empfunden werden. Wählen kann man nun mal nicht zwischen guten und schlechten Eigenschaften seiner Heimat, wiewohl sie auch ein schmerzlich empfundener „Nichtort“ sein kann, den man lieber heute als morgen verlassen will. Dann vielleicht, wenn man in den Häuserschluchten einer Großstadt lebt oder im Umkehrfall der empfundenen geistigen Enge seines provinziellen Landlebens entfliehen möchte.
Tausche ich dann meine Heimat? Wie so vieles andere in unserer heutigen Wegwerfgesellschaft – ganz nach dem vielfach bemühten Kurzformzitat Ciceros – „Ubi bene, ibi patria“. Dort wo es mir gut geht, ist meine Heimat.
Interkulturell. „Verschwinden der Heimat“. Das ist der Titel eines vieldiskutierten Buches. Geht sie von uns, so wie die Familie als Urform aller Heimat, als Keimzelle aller Geborgenheit vom Aussterben bedroht ist und mit dem Verlust der eigenen Kultur einhergeht?
Ist sie dann nur noch Utopie „Heimat“, einen Aspekt, den beispielsweise junge deutsche Künstler in einer aktuellen Ausstellung in Tokio gerade visualisieren möchten.
Oder kann es auch ein Aufbruch sein - von einer alten in eine neue Heimat übergeführt.
Ein Schicksal, das schon viele Auswanderer unfreiwillig ertrugen, als ganze Staaten zusammenbrachen oder sie, auf der Flucht vor Krieg und wirtschaftlicher Not, vor fremden Haustüren strandeten. Der Dialog um Heimat ist dann sehr schnell bei den Fragen der Interkulturalität, dem Vergleich von Fremdem und Eigenem angelangt, denen man sich stellen muss.
Wahre Größe und geistige Sicherheit für die eigene Heimat ist Ausgangspunkt dafür, wie offen ich für Unbekanntes bin.
Einer, der diese schwere Frage, was denn die Heimat für ihn sei, auch beantwortete, war der große Schauspieler und Weltbürger Peter Ustinov. Unnachahmlich leicht formulierte er es so: „Die einzige Heimat, die für mich zählt, ist das zivilisierte Benehmen.“
Wenn sich doch alle daran halten würden.