Maler mit der Schreibfeder
Hans Christian Andersen stammte aus ärmlichen Verhältnissen und begann schon als Kind die Welt des Theaters und der Geschichten für sich zu entdecken. Sein künstlerisches Talent sollte den schüchternen Außenseiter später als Schöpfer anrührender Märchen weltberühmt machen. Doch von der Person des Dichters wissen die meisten wenig. Dabei ist seine Biografie so faszinierend wie sein Werk. Am 2. April jährt sich sein Geburtstag zum 200. Mal.
Nicht ohne Grund schrieb der Märchendichter Hans Christian Ander-sen drei Biografien, der zweiten gab er den bezeichnenden Titel “Das Märchen meines Lebens“. Und in der Tat war es ein märchenhaftes Schicksal, das ihn von der engen Behausung in der dänischen Provinz in die Kulturszene und an die Fürstenhöfe Europas führte.
1805 wurde er als Sohn eines Schuhmachers und einer Wäscherin in Odense auf der dänischen Insel Fünen geboren. Trotz aller Armut wuchs der Junge nicht in geistiger Enge auf. Sein Vater, ein Mann mit literarischem Interesse, las ihm Holberg-Komödien und Geschichten aus Tausendundeiner Nacht vor. Im Alter von sieben Jahren besuchte Hans Christian zum ersten Mal ein Theater und war fasziniert. Gemein-sam mit dem Vater bastelte er Figuren für ein Puppentheater und nähte begeistert dafür die Kostüme. Instinktiv fand er im Theater das ideale Objekt für seine vielfältigen Begabungen. Mit 14 Jahren weigerte er sich, in eine Lehre zu gehen, stieg wenige Wochen nach seiner Konfir-mation in die Postkutsche und reiste nach Kopenhagen: “Ich will be-rühmt werden!“, hatte er zuvor der Mutter erklärt.
Zukunftsträume. Er träumte von einer Künstlerkarriere. Vielleicht als Sänger, Tänzer, Schauspieler, Bühnenbildner, Dramatiker? Doch seine un-gewöhnlich große, ungelenke Gestalt, das Gesicht mit der langen Nase und den tiefliegenden Augen standen seinen Ambitionen im Wege. Aber er hat-te dennoch Glück, fand Gönner, die seine komplexe Künstlerpersönlichkeit erspürten und ihm eine Schulausbildung ermöglichten. Ein Jahr bevor er mit 23 Jahren das Abitur machte, veröffentlichte er erste Geschichten in einer Kopenhagener Literaturzeitschrift. Als Student debütierte er 1829 mit dem Prosastück “Fußreise“ und dem Theaterstück “Liebe auf dem Nikolai-Turm“: Beide wurden ein Erfolg.
Andersen veröffentlichte weitere Theaterstücke, auch Opernlibretti, Novel-len, Gedichte, Reiseberichte. 1835 kommt sein erster Roman (“Der Impro-visator“) heraus. Und zwei kleine Hefte mit “Märchen – erzählt für Kin-der“. Die nächsten Märchendichtungen erschienen 1843, diesmal ohne den Untertitel. Es sind Miniatur-Theaterstücke in Prosa. Seine Theatererfah-rung floss beim Schreiben ein: Genau betrachtet erweisen sich viele seiner Märchen als eine Abfolge dramatisch gestalteter Szenen.
Vorläufer der Surrealisten. Obwohl er sein Geld mit Schreiben verdien-te, war auch die bildende Kunst Teil seines Lebens. Der junge Andersen kritzelte für die Kinder seiner Gönner mit Bleistift Figuren auf Papier. Oft wurden es fabulierende Kompositionen einer phantastischen Welt. Auf seinen Reisen zeichnete er kleinformatige Landschaftsskizzen, die er manchmal mit Tinte überhöhte. Kjeld Heltoft stuft ihn in seinem Band “Hans Christian Andersen als bildender Künstler“ wegen seiner surrealisti-schen Manier als einen Vorläufer von Marc Chagall, Paul Klee und Henri Matisse ein. Andersen hinterließ 70 Bleistiftskizzen, 250 Federzeichnun-gen (von denen etliche im Andersen-Museum in Odense ausgestellt sind) und etwa 1000 Scherenschnitte. Denn später greift er immer wieder zur Schere, um zauberhafte Silhouetten zu fertigen, die das Phantastische sei-ner frühen Zeichnungen aufnehmen.
Ganz offenbar war Andersen ein exakter Beobachter, was ihm beim Schreiben wie beim Zeichnen zu Gute kam. Oft finden sich Motive seiner Skizzen nachher in seinen literarischen Arbeiten wieder, werden authenti-sche, lebendige Schauplätze seiner Geschichten. Einer seiner Freunde, der Physiker und Naturphilosoph Hans Christian Örsted, meinte, Andersen wä-re ein Maler, der mit der Schreibfeder male. Örsted war es auch, der dem Dichter prophezeite, seine Romane würden ihn berühmt, seine Märchen aber unsterblich machen. Er sollte Recht behalten. In 150 Sprachen sind Andersens Märchen übersetzt: Er hat damit eine Verbreitung gefunden, die sogar Shakespeare und Goethe übertrifft und nur hinter der Bibel zurück-bleibt.
Universum der Phantasie. Andersens rund 200 Märchen sind eine literari-sche Mischform aus Phantasie und Realismus. Versteckt hinter dem kindli-chen Genre transportieren sie Sozialkritik und Erfahrungen aus der Erwach-senenwelt. Die Missstände und Nöte, die Hans Christian Andersen in seiner Kindheit und Jugend erlebte, lässt er in Geschichten Gestalt annehmen. Er selbst bemerkte einmal, Kinder verstünden die Staffage seiner Märchen, während der tiefere Sinn für die Erwachsenen gedacht sei. Bittere Lebens-weisheiten sind in den meisten zu finden. Man denke nur an “Die kleine Meerjungfrau“, “Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ oder “Sie taugte nichts“.
Manchmal kommt am Ende alles wieder in Ordnung: Es gibt einen Gott, der alles zum Besten lenkt. “Die Nachtigall“ oder “Die Glocke“ sind Bei-spiele dafür. Und natürlich “Das hässliche Entlein“, dessen Schicksal so gern mit dem des Dichters verglichen wird. So wie sich das unscheinba-re, verspottete Etwas als stolzer Schwan entpuppte, so wurde aus dem armen Schustersohn ein gefeierter Künstler. Viele seiner Märchen in Dur oder Moll verarbeiten eigene Erlebnisse, doch sind sie von tiefer Symbo-lik. Andersens Kunst ließ die Welt der Illusion aus der Wirklichkeit er-wachsen und sein Universum der Phantasie wie wirklich erscheinen.
Reisen mehren Ruhm. Auf 29 großen Reisen – insgesamt war er neun Jahre seines Lebens bis in den Orient hinein unterwegs – schloss er Freundschaften mit Malern und Dichtern, Fürsten und Königen. Trotz-dem blieb er unstet und unbehaust, immer auf der Suche nach Zuwen-dung und Anerkennung: “... denn gelobt werden muss ich, damit ich mich wohl befinde“, heißt es in einem seiner Briefe. Sein sprunghafter Charakter machte ihn für seine Umgebung manchmal schwer erträglich. Charles Dickens, ein Bewunderer seiner Werke, der ihn nach London einlud, soll froh gewesen, als er den seltsamen Gast wieder loswurde. Andererseits war er auf vielen Herrensitzen gern gesehen, wo er die Ge-sellschaft mit selbst gepflückten Blumengebinden, Erzählungen und Scherenschnitten erfreute. Er blühte auf, wo er Bewunderung spürte.
Seit 1838 bekam Andersen vom dänischen König eine Dichtergage. Sei-ne Bücher wurden ins Deutsche, Englische, Französische, Schwedische übersetzt. Mitte des 19. Jahrhunderts war er auf dem Höhepunkt seines Ruhmes. Im Laufe des späteren Lebens wurde er mit Titeln und Orden überhäuft. 1867 feierte man ihn in seiner Geburtsstadt Odense mit einem Fackelzug anlässlich seiner Ernennung zum Ehrenbürger.
Kein Liebesglück. Obwohl Andersen, wenn er nicht auf Reisen war, sei-ne Abende meist in geselliger Runde oder im Theater verbrachte, blieb er einsam. Zweimal verlor er sein Herz: Doch die Kaufmannstochter Riborg Voigt hatte bereits einen Verlobten, und Jenny Lind, die schwedische Nachtigall, wies ihn zurück. Viele Jahre lang stand eine Büste der be-rühmten Sängerin neben seiner eigenen in der Mietwohnung in Nyhavn. Und als er am 4. August 1875 auf dem Landsitz Rolighed bei Kopenha-gen, wo ihn die jüdische Großkaufmannsfamilie Melchior nach langer Krankheit zuletzt gepflegt hatte, friedlich starb, fand man ein Lederbeu-telchen um seinen Hals gebunden. Darin war der Abschiedsbrief von Ri-borg aus dem Jahr 1839... Sein gesamtes Vermögen hatte er aus Dank-barkeit der Familie seines Förderers Jonas Collin vermacht.
Streben einer Sumpfpflanze. Andersen hat seine proletarische Herkunft nie vergessen. Irgendwo bezeichnete er seinen Lebenslauf als das Streben einer Sumpfpflanze zum Licht. Und letztlich gelangte er ja empor “in den gesegneten Sonnenschein“. “Reisen ist Leben“, war Andersens Devise. Er sah das ganze Leben als eine Reise, die unaufhaltsam zum Ende führt – zu Gott, wie Andersen hoffte.
Im Jubiläumsjahr 2005, das nicht nur in Dänemark, sondern weltweit mit Aufführungen, Ausstellungen, Konzerten, Filmfestivals und Führungen in seinen Fußspuren gefeiert wird, soll den Bewunderern seiner Märchen ein neuer Zugang zur Person Hans Christian Andersen eröffnet und die vielen Facetten seines Werkes ins Bewusstsein gerufen werden. Ein-drucksvoll macht das neugestaltete Andersen-Museum in seiner Geburt-stadt Odense mit Leben und Werk des universalen Dichters vertraut, der durch seine Märchen unsterblich wurde.
Jubiläumsprogramm unter www.hca2005.com