Meine Zeit ist kostbar

16. Dezember 2005 | von

Eine Handreichung für den Umgang mit der Zeit – so überschreibt der Autor seine Gedanken ins Neue Jahr 2006. Im Alpenkloster Maria Eck im Chiemgau führt er eine Lebensschule: Wir fragen nach Gott, um dem Leben zum Leben zu verhelfen.

Nun ist sie geöffnet, die Tür, und vor uns liegt das Gelände Zeit – Leben wie ein riesengroßes Feld. In mir stochern Fragen über Fragen unaufhörlich nach oben: Wie werde ich wohl in der Zeit mit der Zeit fertig werden? Wie werde ich zu Rande kommen mit dem, was sich so über die Stunden eines Tages, über die Tage einer Woche, über die Wochen und Monate eines Jahres zuträgt? Wie geht Leben?
Getrieben von der Herzensnot bin ich zum großen Meister des Weges gegangen: „Wie kann ich denn leben und recht bestehen in der Zeit?“ Da sagte der große Meister des Weges: „Wenn Du mit dem Leben fertig werden willst, musst du deinen Tag bewältigen.“

Begrüße den Tag! Den Tag bewältigen? „Nun, wenn der Tag beginnt, wenn die Finsternis des Tages aufwacht und hell wird, begrüße den Tag. Begrüße jeden Morgen neu die Zeit, die auf dich zukommt. Sag aus der Tiefe deines Herzens ‚Grüß Gott’ zum Tag, der dir die Zeit heranbringt. Wenn du einmal gesagt hast ‚Grüß Gott’ zum Tag, zu jedem Tag, dann weißt du, wo er herkommt. Er kommt doch nicht aus der großen Unruh UHR, er  kommt von weit, weit, her.“
Jedes kleinste Teilchen der Zeit, das sich zusammenreiht hin zu Sekunden, Minuten und Stunden des Tages – sie alle kommen von weit, weit her. Sie kommen aus dem unendlichen Reichtum der Ewigkeit. Begrüße den Tag und du weißt, wo er herkommt. Kommt er aber von Gott zu dir, dann weißt du, wie er gefüllt ist mit göttlicher Liebe. Gott als die Verschwendung seiner selbst verströmt sich unaufhörlich. Was du Zeit nennst, ist der Überfluss seiner Ewigkeit zu dir hin. In jedem Augenblick deiner Zeit stehst du im Überfluss seiner Ewigkeit. Du sagst ZEIT, aber ganz eigentlich ist sie EWIGKEIT.

Schau Gott in die Augen! Du kommst In jedem Augenblick in Kontakt mit deinem Gott. So werden alle EREIGNISSE zu
ERÄUGNISSEN.
Nimm die Zeit nicht als Ereignis aus der Uhr, nimm sie doch als eine Gabe. Wenn du das Leben gewinnen willst, musst du den Tag gewinnen. Gelungene Tage machen glücklich gelungenes Leben aus.

Nicht mit beiden Händen! Geh nicht mit beiden Händen ans Werk! „Nicht?“ fragte ich, „Fordert das Leben nicht alle meine Kräfte ein?“ Nein, sagte der Meister des Weges, nein, geh nicht mit beiden Händen ans Werk. Mit beiden Händen am Werk belügst du dich. Es könnte doch sein, du würdest glauben, es käme auf dich an, es käme auf dich alleine an.
Geh nur mit einer Hand ans Werk! Komm nur mit einer Hand ins Handgemenge mit der Materie, mit den Dingen, mit den Menschen, mit der Zeit, mit der Geschichte – und halte dir die andere frei. Schließ dich an das Energienetz Gottes an. Du kannst nicht und du musst nicht allein zurecht kommen mit dem, was über die Augenblicke des Tages auf dich zu kommt.

Hast du vergessen? Der Gott, der dir die Zeit gibt, gibt nie nur Zeit, sondern immer auch Zeit und Kraft, um in der Zeit mit der Zeit fertig zu werden. Und der Gott, der dir einen Weg gibt, gibt dir nie nur den Weg, sondern immer auch Weg und Brot, um den Weg gehen zu können. Und der Gott, der dir einen Auftrag gibt, gibt nie nur Beauftragung weiter, sondern immer auch die Befähigung, um den Auftrag auszuführen. Und der Gott, der dich sendet, spricht dir nie nur die Aussendung zu, sondern gibt dir immer auch die Ausrüstung, um diese Sendung zu leben und zu gestalten.
Geh nur mit einer Hand ins Gewürg und Gewirr des Tages und halte die andere frei, um dich anzu-
schließen an das Energienetz Gottes. Dieses hat keine Krisen.
Schau weit hinaus! Geh den Weg, aber schau weiter, als bis dorthin, wohin der Horizont reicht. Du, dein Auge würde die ganze Wahrheit nicht erkennen, wenn du nur mit den Kopfaugen siehst. Du musst aber die ganze Wahrheit wissen, damit du leben kannst. Wenn du nur schaust bis dorthin, wo die Füße stehen, siehst du Menschen, Menschen, nichts als Menschen. Es erstickt aber der Mensch am Menschen, wenn dem Menschen im Menschen nichts anderes begegnet als immer nur der Mensch. Und es erstickt die Welt an der Welt, wenn der Welt in der Welt nichts anderes begegnet als immer nur die Welt.
Wenn du weiter schaust, wenn du durchsiehst, wenn du wahrlich Perspektive hast, dann siehst du die Menschen nicht mehr nur als die anderen deiner selbst – du siehst, was du nicht siehst: Kinder Gottes – dir gegeben als Schwestern und Brüder. Du siehst die Welt nicht mehr nur als Welt: das Vorhandene – dir zuhanden. Du siehst, was du nicht siehst: Schöpfung und in der Schöpfung den Schöpfer. Du hast Zeit, aber nicht nur einfach Zeit, sondern Zeit gewährt als Vorlauf deiner Ewigkeit.

Am Ende deiner Zeit, wenn du
hinüberkommst, dann wirst du alles, aber auch alles aus deiner Zeit mitbringen. “Oh“, sagte ich zum Meister des Weges, „das letzte Hemd hat doch keine Taschen!“ „Oh doch“, sagte der Meister des Weges, „oh doch: dein letztes Hemd hat Taschen, so groß wie in deiner Mönchskutte. Große, große Taschen, und alle sind gefüllt mit Leben. Du kommst nie nackt bei Gott an. In deines letzten Hemdes Taschen bringst du alles mit, alles was du geprägt und gestaltet hast, alles was du geliebt und gelitten hast, alles geht in deine Ewigkeit ein, alles wird Baustoff deiner Ewigkeit, vergoldet durch Gott.“

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016