Wahrer Gott und wahrer Mensch
Ihr aber, für wen haltet ihr mich? - Jeder von uns muss sich einmal dieser Frage stellen, die Jesus an seine Jünger richtete. Petrus bekannte: Du bist der Messias (Mk 8,29). Und mit der Kirche bekennen auch wir immer wieder Jesus als Messias, als Sohn Gottes, als Heiland und Erlöser. Doch ist das auch unsere ganz persönliche Antwort, ist sie von den Lippen ins Herz eingedrungen? Wer also ist Jesus für mich, für dich? Es lohnt sich, zum Abschluss des großen Christusjubiläums, zweitausend Jahre nach der Menschwerdung Gottes im Stall von Bethlehem, unsere eigene Antwort zu erforschen.
Bruder oder Herr? Für wen wir Jesus halten, hängt zum einen von dem Bild ab, das uns von ihm vermittelt wurde, von den Eltern, in der Bibel, im Religionsunterricht, im Gottesdienst. Da hören wir oft die großen, einfachen Worte von Jesus als Bruder, Herr, Lehrer, Arzt, Hirte. Wir hören, was er gesagt und für uns getan hat. Entscheidender aber ist, welche Bedeutung das Gehörte für unser Leben gewonnen hat. Haben wir Jesus als Erlöser, als Heilenden erfahren? Fühlen wir uns persönlich von ihm angenommen, geliebt? Wohnt Jesus in unserem Herzen? Erfüllt er uns so sehr, dass wir ihm nachfolgen wollen? Oder fühlen wir uns ihm fremd, fern, scheint er uns unverständlich und unerreichbar?
Es ist Gottes sehnlichster Wunsch, uns nahe zu kommen. Er will unser Vertrauter, unser nächster Freund sein, mit dem wir über alles sprechen können, auch über die unbedeutenden Kleinigkeiten, auch über die Dinge, die wir am liebsten verstecken wollen. Er will immer in unserem Leben sein. Warum eigentlich? Das hat doch der hohe Gott gar nicht nötig? Er braucht uns doch nicht!
Liebevolle Zuwendung Gottes. Das Schöne aber ist: Gott will uns brauchen. Er hat uns aus Liebe geschaffen, um uns an seiner Seligkeit teilhaben zu lassen. Und weil es nicht genug war, dass er durch die Propheten und durch Wundertaten zu uns gesprochen hat, ging er in seiner Liebe so weit, dass er Mensch geworden ist, einer von uns. Damit hat er gezeigt, dass er kein ferner Gott ist, der im Universum thront, unberührt und gleichgültig gegenüber unserem Geschick. Im Gegenteil: Freiwillig teilt er jetzt das Menschenschicksal mit uns. Der Gott ohne Anfang und ohne Ende tritt ein in die Zeit, in die Geschichte und wird von nun an immer ein menschgewordener Gott sein.
Aber er ist doch immer noch Gott, so lehrt es auch das Glaubensbekenntnis von Chalkedon: wahrer Gott und wahrer Mensch. Nur: Wie soll man sich das vorstellen bei Jesus, während er auf dieser Erde gelebt hat? Sicher war Jesus kein wechselhaftes Mischwesen, wie wir es uns insgeheim oft denken: einerseits in vielen Zügen menschlich, andererseits allmächtig und allwissend wie es nur Gott sein kann und damit übermenschlich. Die Gelehrten haben über die Jahrtausende das Geheimnis des Gottmenschen betrachtet und zu ergründen versucht. Wir selbst werden darüber nie erschöpfend reden können.
Verzicht auf Allmacht. Wenn wir aber die Evangelien aufmerksam lesen, vor allem Lukas, Markus und Matthäus, können wir immer nur staunen, wie sehr Jesus Mensch war, in seinem Wachsen und Werden, in den Gefühlen und Versuchungen, in seinen Schmerzen und Leiden. Da drängt sich fast die umgekehrte Frage auf: Wo ist der Gott in Jesus? - Und wir sehen, das ist eine Frage, die sich auch die Zeitgenossen Jesu stellten. So höhnten die Leute, die am Kreuz vorüberkamen: Wenn du Gottes Sohn bist, hilf dir selbst, und steig herab vom Kreuz! (Mt 27, 40) Auch seine Jünger fragten sich damals: Wo ist hier Gottes Macht und Herrlichkeit?
Paulus formuliert es so: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen;... (Phil 2, 6-7).
Einer von uns. So hat sich Gott in einer grundsätzlichen Entscheidung in unser Erdenleben begeben: Er wollte von seinem Gottsein herabsteigen. Die großen Versuchungen Satans in der Wüste zielen darauf ab, Jesus von diesem freiwilligen Grundentscheid abzuziehen. Zweimal kommt die listige Herausforderung, Gottes Macht zu zeigen: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl ... (Mt 4, 3). Und: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz‘ dich hinab ... (Mt 4, 6). Und es war das Versprechen von grenzenloser Macht, mit dem er Jesus köderte, sich von seiner Liebesbindung mit dem Vater loszusagen (Mt 4, 9).
Aber warum ist Gott ein ohnmächtiger Mensch geworden? Jesus hat sich seines Gottseins entäußert, um nichts aus sich, sondern alles vom Vater zu erwarten. Und damit hat er uns die Fährte gelegt, wie unser menschliches Dasein einzig gelingen wird: indem wir alles vom Vater erwarten. Wie Jesus werden wir alles vom Vater erhalten, wenn wir ihm uns ganz hinhalten, ganz anvertrauen, mit unserem ganzen Sein. Und Jesu Leben sollte eine Ermutigung für uns sein: Keine menschliche Regung ist ihm fremd, auch unsere Versuchungen hat er durchgestanden, alle Schmerzen hat er erlitten. Weil Gott nichts Menschliches fremd ist, können wir uns ihm ganz anvertrauen.
Des Vaters Wille. Sich Gott anzuvertrauen, sich ihm hinzuhalten, das ist nichts anderes als Gehorsam, als den Willen des Vaters zu tun. Diese Speise Jesu, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat (Joh 4, 34), soll auch unsere Speise sein. Und diese Speise macht uns zu Verwandten Gottes: Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter (Mk 3,35).
Mit seinem ganzen Leben zeigte uns Jesus also, dass der Mensch nur dann ein erfülltes Leben führt, wenn er den Willen des Vaters tut. So gelangen wir zu unserem eigenen Selbst und zu einem glücklichen Miteinander. Ein Leben im Frieden und in der Freude Gottes, wenn auch kein leid- und schmerzfreies Leben. Wir stoßen unweigerlich auf das Kreuz, an dem Jesus ein bitteres, unbegreifliches Ende nahm. Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt (Hebr. 5,8). Warum?
Im Leiden uns nahe. Diese Frage lässt sich für unseren Verstand nicht lösen. Auch die Jünger Jesu haben es nicht verstanden. Immer wieder hat Jesus sie darauf vorzubereiten versucht, nachdem er erkannt hatte, welchen Ausgang er in Jerusalem nehmen würde. Wie die Jünger zu aller Zeit, in jedem Jahrhundert, so verstehen wir das Leid nur in der Nachfolge. Wer mein Jünger sein will, der nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach (Lk 9,23). Das Kreuz muss uns deshalb nicht schmecken, wir müssen es schon gar nicht suchen. Das hat auch der heilige Antonius erfahren, als er unbedingt den Märtyrertod erleiden wollte. Gott hat dieses ungestüme Opfer nicht angenommen und ihn stattdessen erst einmal mitten ins Leben gestellt.
Jesus ist im Leiden ganz Mensch. Am Ölberg will er in seiner Todesangst dem Leiden ausweichen. Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. (Mt 26, 39).
Er ist verzagt und schwitzt Blut. Seine Freunde kümmert das nicht, sie schlafen. Sie werden Jesus in seinen bittersten Stunden gänzlich verlassen. Gleich dreimal setzt Jesus neu an, den Vater drängend um Schonung zu bitten. Dann nimmt er den Leidenskelch aus der Hand des Vaters an: ... nicht wie ich will, sondern wie du willst (Mt 26, 39). Der Menschenwille schreckt aus Furcht zurück, doch Jesus übergibt sich ganz dem Willen des Vaters. Wir wissen nicht, was es Jesus gekostet hat, doch er war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz (Phil 2, 8).