Die Geschichtenerzählerin
Paul Maar vermutet, dass Kinderbuchautoren „eine von der allgemeinen Norm abweichende Kindheit hatten, extremer als andere Kinder: glücklicher oder zerstörter". Er glaubt, dass sie „im späteren Leben immer wieder versuchen, sich die intensiven Glücksmomente der frühen, endgültig verlorenen Kindheit vor Augen zu führen ... oder ... die glückliche Kindheit ... schreibend nachzuschaffen, die sie nie erlebt haben". Sich selbst zählt Maar, der Erfinder des „Sams", zur zweiten Gruppe, zur ersten zählt er Astrid Lindgren.
Nachklingende Schwingung. Tatsächlich hatte Astrid Lindgren eine Bilderbuchkindheit. Vor 100 Jahren kam sie am 14. November in dem südschwedischen Dorf Näs zur Welt, als zweites Kind von Bauern, die dem kargen Boden das Nötigste zum Leben abtrotzten. „Es war schön, dort Kind zu sein", sagte Lindgren. „Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit. Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die einander so zugetan waren und stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns im übrigen aber frei und unbeschwert auf dem wunderbaren Spielplatz, den wir auf dem Näs unserer Kindheit besaßen, herumtollen ließen." Die Bausteine dieser glücklichen Kindheit waren also liebevolle Eltern, drei Geschwister als Spielkameraden und die Natur. Astrid erlebte noch das Pferdezeitalter ohne Technik, es gab weder Autos, Telefon noch Strom. Die Natur „umschloss all meine Tage ... Steine und Bäume, sie standen uns nahe, fast wie lebende Wesen, und die Natur war es auch, die unsere Spiele und Träume ... nährte". Hinzu kam die Welt der Geschichten. Es war die Tochter des Stallknechts, die ihr erstmals vorlas, von der Fee Viribunda und dem Riesen Bam Bam, und sie „versetzte meine Kinderseele dadurch in Schwingungen, die bis heute noch nicht ganz abgeklungen sind".
Kecke Vorbilder. Die tiefen Kindheitserlebnisse und die Sprachbegabung ließen sie in ihren Büchern Urbilder schaffen, die die Seele anrühren. Die „Kinder von Bullerbü" sind ganz dem eigenen Erleben in Näs nachgeschaffen. Bullerbü gilt vielen als Inbegriff unbeschwerter Kindheit. In den Lausbubengeschichten über „Michel aus Lönneberga" entfaltet sich das ganze bäuerliche Leben, mit Knechten und feinen Städtern, mit Pastor und Bürgermeister, mit Markttreiben und Festschmaus, mit Tieren und Armenhäuslern. Die Abenteuer des gewitzten Michel sind gleichermaßen lustig und urwüchsig und auch sprachlich ein Genuss. Hinter der scheinbaren Leichtigkeit ahnt man die Arbeit, die Astrid Lindgren geleistet hat: „Oft schreibe ich einen Satz zehnmal. Wieder und wieder und wieder ... Bis ich höre, dass die Melodie gut ist." Man nennt sie zurecht eine Kinderdichterin. Das Schreiben gelernt hat Astrid bei einer Lokalzeitung im nahegelegenen Kleinstädtchen. In diese Zeit fallen für sie, die nur ein behütetes Leben kannte, auch bestürzende Erfahrungen.
Ihre erste Liebe wurde enttäuscht. Sie zog allein, aber schwanger nach Stockholm, wo sie hart arbeitete. Ihren Sohn gab sie zu Pflegeeltern, bis sie den Kaufmann Sture Lindgren heiratete. Eine Tochter wurde dem Paar noch geboren, und ihr erzählte Astrid erstmals von Pippi Langstrumpf, dem rotbezopften, überstarken und unabhängigen Mädchen, das niemals erwachsen werden wollte. Das war 1941. Zum Kriegsende kam die Niederschrift von Pippis Erlebnissen als Buch heraus und führte gleich zum großen Erfolg, sehr bald auch schon in Deutschland.
Happy End. An Pippi Langstrumpf zeigt sich die Streitbarkeit von Lindgren. Pippi ist unverblümt und respektlos und lässt antiautoritäre Züge aufscheinen. Auch der gefräßige „Karlsson vom Dach" frönt ungezügelt seiner Ichsucht. Erzieher fürchteten das schlechte Vorbild. An meinen eigenen Kindern erlebte ich aber eine andere Wirkung. Diese Figuren, die ungebremst ausleben, was Kinder für gewöhnlich nicht dürfen, sind ein Kontrast, „Projektionen übertragener Ängste und Wünsche" (Holger Kreitling), die gleichermaßen anziehen und abstoßen und an denen sich das Ich der kleinen Leser reiben kann.
Was Lindgren auszeichnete, war das Einfühlen in die Bedürfnisse der Kinderseele. Sie griff auch Schweres auf: Zurückgesetztsein, Schwachheit, Tod. Wichtig aber: „Meine Geschichten haben stets ein gutes Ende, damit die Kinder nicht trostlos bleiben." Aus dem Nachkriegsdeutschland gibt es Beobachtungen, wie Kinder mit Lindgrens Büchern Trauerarbeit geleistet haben. In allen Büchern steckt ein unerschütterlich-starkes Urvertrauen.
Umstrittene Ansichten. Am umstrittensten ist Lindgrens Buch über die Brüder Löwenherz. Die Schlusswende liegt im Freitod zweier unzertrennlicher Brüder. Lindgren selbst war „Mitglied in einem Verein, der ,Das Recht auf unseren Tod’ heißt, und würde ich unter unerträglichen Schmerzen leiden, dann kann ich nichts Unrechtes darin sehen, das Leben mit einer Tablette zu beenden". Obwohl ihre Eltern tief gläubig gewesen waren, fand Lindgren nicht zu Christus. Ihre wenigen Äußerungen zu Tod und Gott zeigten eine Tendenz zur Flucht.
Als alte Frau wurde die Autorin zur Instanz. Was sie sagte, hatte in ihrer Heimat gelegentlich sogar politische Folgen. Gerne zitiert ist ihre Dankesrede „Niemals Gewalt" zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1978. Zurück zur Eingangsthese Paul Maars: das Leben Lindgrens scheint ihm Recht zu geben. Sie verlebte eine vollkommene Kindheit, die mit einer Art Vertreibung aus dem Paradies endete. In diese Kindheit kehrte sie immer wieder schreibend zurück: „Ich schreibe für das Kind in mir ... Ich schreibe zu meinem eigenen Vergnügen."