Ein Konzil verjüngt die Kirche
Ohne den inzwischen selig gesprochenen Papst Johannes XXIII. hätte das Zweite Vatikanische Konzil nicht stattgefunden. In seinen geistlichen Tagebüchern schreibt er selbst über den Ursprung des Konzilgedankens: Plötzlich entsprang in Uns eine Eingebung wie eine Blume, die in einem unerwarteten Frühling blüht. Unsere Seele wurde von einer großen Idee erleuchtet. ... Ein Wort, feierlich und verpflichtend, formte sich auf Unseren Lippen. Unsere Stimme drückte es zum ersten Mal aus – Konzil!
Papst des Übergangs. Johannes XXIII., der aus einfachen und bescheidenen Verhältnissen kam, war durch seinen Lebensweg offen und bereit für diese Eingebung. Seine Tätigkeit als Apostolischer Delegat hatte ihn die unterschiedlichsten Lebenswelten der katholischen Kirche kennen lernen lassen. In Bulgarien und Griechenland begegnete er den Christen anderer Konfessionen, in der Türkei einem damals noch radikal laikalen Staat. In den Jahren als Nuntius in Paris musste er sich mit der Situation einer entchristlichten Gesellschaft auseinander setzen. In diese Jahre fällt auch die Entstehung der Bewegung der Arbeiterpriester, die die Kluft zwischen Kirche und Arbeitswelt zu überbrücken suchte.
Nach dem Tod Pius’ XII. wurde Angelo Giuseppe Roncalli, damals Patriarch von Venedig, am 28.Oktober 1958 zum Papst gewählt. Viele sprachen nach seiner Wahl von einem Übergangspapst. Doch mit seinem eigenen Stil und vor allem mit der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde er in ganz anderer Weise ein Papst des Übergangs, der für die katholische Kirche einen unerwarteten Frühling einleitete.
Erstarrte Strukturen. Die Bildersprache des Papstes (eine Blume, die in einem unerwarteten Frühling blüht) lässt etwas von der problematischen Situation der katholischen Kirche erkennen. Der katholische Theologe Prof. Otto Hermann Pesch beschreibt sie folgendermaßen: Was Mitglieder und Einfluss angeht, war sie in der Neuzeit nie mächtiger gewesen als unter Pius XII. Aber sie war ein Fremdkörper in einer gewandelten Welt geworden, respektiert, aber unverstanden und ungeliebt. Der Verlust des Kirchenstaates im 19. Jahrhundert hatte die römisch-katholische Kirche nicht nur politisch auf einen Zwergstaat reduziert, sondern sie insgesamt in eine Verteidigungsstellung gebracht. Seit 1870 lebten die Päpste als Gefangene im Vatikan. Der Ton vieler päpstlicher Verlautbarungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts signalisierte Abwehr und Verurteilung der modernen Welt. Als Angelo Giuseppe Roncalli nach dem Tod Pius’ XII. von Venedig aus zum Konklave fährt, ist er sich einerseits der erstarrten Strukturen in der römische Kurie bewusst, aber andererseits voller Hoffnung und Zuversicht, wie sein Wort an die Priesterseminaristen seiner Diözese belegt: Die Kirche ist jung, sie bleibt, wie stets in ihrer Geschichte, wandlungsfähig!
Ziel innere Erneuerung. Bevor die Bischöfe der Welt sich zu diesem ökumenischen Konzil versammeln, hat Papst Johannes XXIII. einige wichtige Vorentscheidungen getroffen. Zunächst werden im Mai 1959 die Bischöfe, Ordensoberen und katholischen Universitäten und Fakultäten eingeladen, Vorschläge für das Beratungsprogramm des Konzils einzureichen. In dieser Einladung wird deutlich, dass Johannes XXIII. wirklich ein Konzil anstrebt, bei dem die Themen der Kirche des gesamten Erdkreises zur Sprache kommen sollen. 2821 Beiträge aus allen Erdteilen kommen nach Rom zurück. Im Juni 1960 leitet Johannes XXIII. mit dem Schreiben Superno Dei nutu die nähere Vorbereitung ein und gibt dem einzuberufendem Konzil seinen Namen: Zweites Vatikanisches Konzil. Damit macht er deutlich, dass es nicht um die Weiterführung (und einen offiziellen Abschluss) des Ersten Vatikanischen Konzils geht, das 1869/70 tagte und nach den Beschlüssen zu Unfehlbarkeit und Primat des Papstes auseinander ging. Johannes XXIII. will durch das Konzil die innere Erneuerung der Kirche fördern (er prägt dafür den vielschichtigen Begriff Aggiornamento) und den Glauben und das Gemeinschaftsleben in der Kirche verlebendigen. Diese seelsorgliche Zielsetzung für ein Konzil ist neu.
Geistgewirkte Dynamik. Ein Konzil – keine Schuljungen. Diese Aussage stammt von dem amerikanischen Bischof Robert J. Dwyer. In ihm kommt eine Problematik des Konzils zum Ausdruck. Die Vorbereitung des Konzils wird – bei aller Beteiligung von Bischöfen und Theologen aus der ganzen Welt – doch überwiegend durch die römische Kurie geleistet. Sie erstellt die Texte, die auf dem Konzil diskutiert und verabschiedet werden sollen. Die versammelten Bischöfe nehmen ihr Recht wahr und kritisieren die Entwürfe, wenn sie ihnen zu einseitig ausgefallen sind. So müssen viele Schemata (so nennt man die vorbereiteten Entwürfe) grundlegend neu geschrieben werden. Das selbstbewusste Auftreten vieler Bischöfe gegenüber den Vertretern der römischen Kurie prägt einen neuen Umgangsstil und gibt dem Konzil eine eigene, geistgewirkte Dynamik.
Langes Ringen. Schon nach den ersten Wochen ist klar, dass die Arbeit des Konzils nicht in einer einzigen Sitzungsperiode geleistet werden kann. Die Entwürfe zu Liturgie, Offenbarung und Kirche haben zu grundlegenden und tief gehenden Diskussionen in der Konzilsaula geführt. Schwere Einwände gegen die darin vertretene Ekklesiologie werden vorgebracht und verlangen nach einer gründlichen Neubearbeitung. Als die erste Sitzungsperiode am 8. Dezember 1962 zu Ende geht, ist noch offen, wie viele solcher Sitzungsperioden (von circa 10 Wochen Dauer) noch nötig sind. Es werden noch drei weitere Sitzungsperioden (jeweils September-Dezember 1963, 1964, 1965) folgen, bis die Arbeiten des Zweiten Vatikanischen Konzils mit der feierlichen Schlusssitzung am 8. Dezember 1965 beendet werden können.
Papstwechsel. Seit September 1962 leidet Johannes XXIII. an einem schweren Krebsleiden. Nur in wichtigen Momenten schaltet er sich in die Konzilsarbeit ein. In dem Wissen, dass er das von ihm gewollte Konzil nicht zum Abschluss bringen wird, entlässt er schweren Herzens im Dezember 1962 die Konzilsväter in die Sitzungspause. Am 3. Juni 1963 stirbt er. Nicht nur den Katholiken stockt der Atem. Wird das Konzil fortgeführt? Dies ist auch auf dem Konklave eine der wichtigsten Fragen. Mit der Wahl von Giovanni Battista Montini, der den Namen Paul VI. annimmt, wird ein entschiedener Befürworter des Konzils zum Papst gewählt. Schon kurz nach seiner Wahl am 21. Juni 1963 kündigt Paul VI. die Fortsetzung des Konzils an und lädt die Bischöfe auf den kommenden September zur zweiten Sitzungsperiode nach Rom ein.
Das Wesen der Kirche. Die späteren, fast einmütigen Abstimmungsergebnisse zu den Konzilsdokumenten dürfen nicht darüber hinweg täuschen, dass auf dem Konzil zum Teil sehr heftig gerungen wird. Dieses Ringen lässt sich sehr gut an dem Entstehen der Konzilskonstitution über die Kirche verdeutlichen. Die Vorbereitungskommission hatte einen Text vorgelegt, dessen Kapitel überschrieben waren: 1) Das Wesen der streitenden Kirche; 2) Die Glieder der Kirche und die Heilsnotwendigkeit der Kirche; 3) Der Episkopat als höchste Stufe des Weihesakraments und das Priestertum; 4) Die residierenden Bischöfe; 5) Die Stände der evangelischen Vollkommenheit; 6) Die Laien; 7) das Lehramt der Kirche; 8) Autorität und Gehorsam in der Kirche.
Die Debatte über diese Textvorlage wird zu einem Höhepunkt des gesamten Konzils. Freimütig äußern die Bischöfe ihre Kritik an diesem Entwurf und dem darin enthaltenen Verständnis der Kirche. Schon die Bezeichnung streitende Kirche macht deutlich, dass der Entwurf noch die Kirche des 19. Jahrhunderts vor Augen hat, die sich in einer feindseligen Welt verteidigen und ihre Rechtsansprüche durchsetzen muss. Bischöfe aus dem Ostblock und der Dritten Welt kritisieren, dass der Gedanke der leidenden Kirche, der armen und demütigen Kirche vollständig fehle. Angesichts so grundlegender Kritik ist klar, dass der Text völlig neu erarbeitet werden muss.
Überwindung des alten Bildes. Welcher Wandel im Kirchenverständnis durch das Konzil angebahnt wird, lassen allein die Kapitelüberschriften der Konzilskonstitution über die Kirche Lumen gentium (Licht der Völker) erkennen: 1) Das Mysterium der Kirche; 2) Das Volk Gottes; 3) Die hierarchische Verfassung der Kirche, insbesondere das Bischofsamt; 4) Die Laien; 5) Die allgemeine Berufung zur Heiligkeit; 6) Die Ordensleute; 7) Der endzeitliche Charakter der pilgernden Kirche und ihre Einheit mit der himmlischen Kirche; 8) Die selige jungfräuliche Gottesmutter Maria im Geheimnis Christi und der Kirche.
Die neue Kapitelfolge zeigt die Überwindung eines klerikalen Kirchenbildes auf dem Konzil an. Im ersten Kapitel spricht man vom Geheimnis der Kirche und ihrem Auftrag, das Reich Christi und Gottes anzukündigen und in allen Völkern zu begründen (Nr. 5). Das zweite Kapitel blickt nun auf alle Glaubenden und verdeutlicht das neue Verständnis der Kirche mit dem Begriff vom Volk Gottes. Erst dann folgen Aussagen über die einzelnen Stände in der Kirche. Mit ihrer an der Bibel erneuerten Sicht der Kirche stellt die Konzilskonstitution über die Kirche (Lumen gentium) sicher das Herzstück des Konzils dar.
Kirche fürs Volk. Zu den augenfälligsten Erneuerungen des Zweiten Vatikanums zählt zweifellos die Liturgiereform. Sie ist durch liturgische Bewegungen in vielen Ländern vorbereitet worden. Der Wechsel vom Latein zur Muttersprache in der Liturgie wird zum Teil heftig angefeindet, ist aber letzten Endes nur die Konsequenz aus dem Wunsch des Konzils, dass alle Gläubigen zu der vollen, bewussten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern geführt werden (Liturgiekonstitution Sacrosanctum concilium, Nr. 14). Die gesamte Gemeinde wird von Gott um den Tisch des Gotteswortes und des Herrenleibes versammelt. Deshalb werden Altar und Ambo näher zur Gemeinde gerückt, und der Priester zelebriert mit dem Gesicht zum Volk hin. Das Konzil befürwortet ebenfalls die Vielfalt der Riten und ihre Anpassung an die verschiedenen Kulturen (Nr. 38).
Schatzkammer Bibel. Nicht nur in der Liturgie soll nach dem Willen des Konzils die Schatzkammer der Bibel den Gläubigen weiter aufgetan werden (Liturgiekonstitution, Nr. 51). Mit der Konstitution über die göttliche Offenbarung (Dei Verbum) unterstreicht das Konzil die zentrale Bedeutung der Bibel für das Leben der Christen und der Kirche.
Offen und dialogbereit. Johannes XXIII. hat einen neuen Umgangsstil mit den Menschen außerhalb der Kirche eingeführt. In der Eröffnungsansprache des Konzils bringt er dies mit aller Klarheit zum Ausdruck: In der Vergangenheit hat die Kirche zwar diese Irrtümer mit größter Strenge verdammt, heute möchte die Braut Christi dagegen lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden, als die Waffe der Strenge erheben.
Dieser neue Umgangsstil findet sich in den Konzilsdokumenten, in denen die katholische Kirche ihre Außenbeziehungen neu bestimmt: im Dekret über den Ökumenismus zu den anderen christlichen Konfessionen, in der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, in der Erklärung über die Religionsfreiheit. In der Konstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes) nimmt die Kirche zu allen grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen und Problemen in der Welt Stellung.
Neubeginn. Davon träumte Johannes XXIII., als er das Zweite Vatikanische Konzil einberief und vor 40 Jahren eröffnete. Der anfänglichen Euphorie ist inzwischen Ernüchterung, manchmal Enttäuschung gewichen. Das Ringen auf dem Konzil hatte dazu geführt, dass viele Konzilsdokumente Kompromisstexte wurden, in denen sowohl die Anliegen der Mehrheit wie der Minderheit (circa 300 von 2700 Bischöfen) Aufnahme fanden. So geht in der Auslegung des Konzils die Auseinandersetzung um die Erneuerung der Kirche weiter. Geduld und Beharrungsvermögen ist nötig, um die vielen Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils in die Praxis umzusetzen. Mit Weitblick ahnte Karl Rahner schon 1965, dass es lange dauern werde, bis die Kirche, der ein Zweites Vatikanisches Konzil von Gott geschenkt wurde, die Kirche des Zweiten Vatikanischen Konzils sein wird.