Mit Zorn und Zärtlichkeit
Das Hungertuch kündet wieder die alljährliche Fastenaktion MISEREOR an. Seit 50 Jahren kämpft dieses bischöfliche Hilfswerk unabhängig von Glauben, Kultur und Hautfarbe der Betroffenen gegen die Armut und für eine gerechtere Welt.
Misereor super turbam" übersetzt die Vulgata die Worte Jesu angesichts der vielen Menschen, die ihm seit Tagen folgten und zuhörten. Diese Passage aus dem Markus-Evangelium 8,2 „Mich erbarmt des Volkes" oder „Ich habe Mitleid mit diesen Menschen" wird seit der Frühzeit der Kirche dahingehend ausgelegt: Jesus ging es nicht nur um das Seelenheil seiner Zuhörer, sondern ihm lag auch die Leibsorge am Herzen. So ließ er die Menschenmenge sich setzen und durch seine Jünger die sieben Brote und die paar Fische austeilen. Und erst als alle satt waren, schickte er sie nach Hause (vgl. Mk 8,1-10).
Über den Tellerrand. Dieses bib-lische Wort MISEREOR wurde vom Kölner Erzbischof, Kardinal Joseph Frings, aufgegriffen und zum Leitwort für das bischöfliche „Hilfswerk gegen Hunger und Aussatz in der Welt" gemacht. Seine Rede vor der Vollversammlung der deutschen Bischöfe in Fulda im August 1958 gilt als die Geburtsstunde von MISEREOR.
Dreizehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, neun Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland lebten die Deutschen mehrheitlich in einem bescheidenen Wohlstand. Die Jahre der Not und des mühsamen Wiederaufbaus lagen hinter ihnen. Durch die Unterstützung der USA und ihrer Verbündeten hatte sich ein Wirtschaftswunder ereignet.
Der Blick der Deutschen weitete sich. Man war nicht mehr auf die eigene Not und deren Überwindung fixiert, sondern man konnte über den „eigenen Tellerrand" schauen. Kardinal Frings führte dies folgendermaßen aus: „Was wir bisher über unserer eigenen Not vergessen haben, tritt jetzt in die Mitte unseres Bewusstseins: In den meisten Ländern dieser Erde herrscht Hunger. Die Massen dort leben in einem Zustande, den wir nicht anders als Elend bezeichnen können."
Der Vorschlag von Kardinal Frings zur Gründung von MISEREOR hat seine Vorgeschichte. Schon seit 1955 meldeten sich verschiedene katholische Frauen- und Arbeiterverbände (KAB und CAJ) sowie die Pax-Christi-Bewegung mit dem Anliegen, Aktionen gegen den Hunger in der Welt zu starten. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken stellte sich 1958 hinter diese einzelnen Initiativen und bat die deutschen Bischöfe, die Katholiken in der kommenden Fastenzeit zu einem Fastenopfer aufzurufen.
Hilfe zur Selbsthilfe. Das Ziel von MISEREOR ist „kein anderes als die Beseitigung von Hunger und Aussatz" (Kardinal Joseph Frings). Die geleistete Hilfe soll vor allem die erreichen, „die am schlimmsten unter Not und Ungerechtigkeit leiden, die Armen in Afrika, Asien und Lateinamerika. Das Angebot der Hilfe richtet sich grundsätzlich an alle Not leidenden, ungeachtet von Rasse, Geschlecht, Nation und Religion" (aktuelles Leitbild von MISEREOR).
In den zurückliegenden 50 Jahren hat sich die Art und Weise des Helfens beträchtlich verändert. Kard. Frings zählte in seiner Gründungsrede auf: „die Bereitstellung von Medikamenten und Lebensmitteln", „die Unterhaltung und Neuerrichtung von Einrichtungen der Nächstenliebe (Leprastationen, Krankenhäuser, Armenapotheken, Volksküchen)". Bei aller guten Absicht der damals Beteiligten ist im Abstand von 50 Jahren doch das Gefälle zu spüren, das sich vor fünf Jahrzehnten zwischen den Helfern und den Adressaten der Hilfe auftat. Der veränderte Stil der Hilfe wird im Leitsatz der Fastenaktion 2008 deutlich: „Mit Zorn und Zärtlichkeit an der Seite der Armen." Hilfe geschieht nicht mehr von oben herab, sondern vollzieht sich als ein dynamischer Prozess an der Seite der Armen. Die Armen in den Ländern des Südens sollen dazu befähigt werden, aus eigener Kraft und mit Unterstützung von anderen eine nachhaltige Entwicklung anzustoßen. „Hilfe zur Selbsthilfe" heißt das Motto der aktuellen Projektarbeit, „Partnerschaft" das Leitwort für die Zusammenarbeit mit allen an den Projekten Beteiligten.
Not und Ungerechtigkeit. Konkret fördert MISEREOR heute vor Ort folgende Bereiche: Gesundheitswesen, ländliche Entwicklung, Kleingewerbeförderung, Selbsthilfewohnbau, Projekte der Sozialarbeit, Frauenförderung, Menschenrechtsarbeit und Erwachsenenbildung. In den zurückliegenden 50 Jahren konnten über 90.000 Projekte mit über vier Milliarden Euro gefördert werden.
Seit den Anfängen bemüht sich MISEREOR aber nicht nur darum, Spenden für die benachteiligten Länder des Südens zu sammeln, sondern auch um eine Veränderung in der Einstellung der Gläubigen bei uns zum Thema Entwicklungszusammenarbeit. Das Los der von Not und Ungerechtigkeit betroffenen Menschen soll bekannt gemacht werden. So werden seit den 80er Jahren in den Fastenaktionen Schwerpunktthemen gewählt, die ein Land und seine Problematik in die Mitte der Aufmerksamkeit stellen. Für die 50. Fastenaktion 2008 wurden drei Länder ausgewählt, entsprechend den drei Kontinenten, die im Mittelpunkt der Hilfe von MISEREOR stehen: die Elfenbeinküste für Afrika, Brasilien für Lateinamerika und Indonesien für Asien.
Christliche Botschaft. Die Hungertücher sind seit 1976 zum Markenzeichen geworden. Das erste Hungertuch wurde von dem indischen Künstler Jyoti Sahi gestaltet. Er verbindet in seinem Bild traditionelle indische Symbole und Vorstellungen mit dem Leiden Christi. Seit mehr als drei Jahrzehnten öffnen sich katholische Pfarrgemeinden in Deutschland der Botschaft dieser Hungertücher. Sie bringen uns zum einen Grundthemen der christlichen Botschaft, zum anderen aber auch deren Umsetzung in anderen Kulturen näher.
Als eine dritte Aufgabe neben Projektarbeit im Süden und Bildungsarbeit bei uns beschrieb Kardinal Frings eine prophetische Mission: „Vom Evangelium muss darum denen ins Gewissen geredet werden, die die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse bestimmen." Heute bezeichnet man dies als Lobby- und Kampagnenarbeit. Einige Beispiele mögen diese Aufgabe illustrieren. Auf internationaler Ebene sind seit den 60er Jahren die ungerechten Welthandelsstrukturen ein Dauerthema. Seit 1970 unterstützte MISEREOR die ersten Aktivitäten eines alternativen Dritte-Welt-Handels, 1975 wurde gemeinsam mit anderen Verbänden die gepa gegründet, die Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt, einer der großen Importorganisationen für fair gehandelte Waren. Inzwischen sind aus den 80 Weltläden im Jahr 1980 immerhin 900 im Jahr 2003 geworden. Zusätzlich hat der Faire Handel auch Einzug in 22.000 Supermärkte gehalten. Parallel setzt sich MISEREOR bei den Welthandelskonferenzen der UNO für die benachteiligten Länder des Südens ein und kämpft gemeinsam mit anderen Nichtregierungsorganisationen für gerechtere Handelsstrukturen.
50 Jahre. Im Rahmen des Jubiläumsjahres 2000 machte sich MISEREOR für den Schuldenerlass der ärmsten Länder stark. Trotz einiger Zusagen der Regierungen der reichsten Industrieländer hat sich für die Menschen in diesen Ländern leider noch sehr wenig verändert.
Mit der Fastenaktion 2003 „Wem gehört die Welt?" wollte MISEREOR dagegen protestieren, dass Patente auf Leben die Ernährungssicherheit bedrohen. Unterstützt wurde dabei ein Prozess vor dem Europäischen Patentamt in München, um Patentrechte auf Getreidesorten nicht in die Hände multinationaler Firmen gelangen zu lassen. Der Prozess konnte gewonnen werden. 50 Jahre MISEREOR, Zeit für einen dankbaren Rückblick auf das Geleistete, aber auch Zeit zum Kräftesammeln für das, was noch zu Gunsten der Armen zu verändern ist.