Dunkle Kapitel der Kirchengeschichte
Wir glauben an einen Gott der Vergebung und Versöhnung. Doch der Blick in die Geschichte der Kirche zeigt, dass auch sie neben leuchtenden Lebenszeugnissen und ihrem Einsatz für den Frieden brutale Gewalt hervorbrachte. Das “Mea Culpa“ von Papst Johannes Paul II. vom März 2000 ist ein Meilenstein in der selbstkritischen Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit ihrer Verstrickung in Gewalt und Krieg.
“Homo homini lupus“ (“Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“) sagt ein altes lateinisches Sprichwort. Darin haben die Römer viel Lebenserfahrung gebündelt. Das Zusammenleben der Menschen ist geprägt von Neid und Missgunst, von Rivalität und Kampf. Immer wieder mussten sich Menschen wehren gegen die Übergriffe von Nachbarn beziehungsweise Nachbarvölkern. Kampf, Krieg und Gewalt ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit.
Die Bibel verschließt nicht ihre Augen vor der Gewalt im Zusammenleben der Menschen, wie die Erzählung vom Brudermord in Genesis 4 (Kain erschlägt seinen Bruder Abel) belegt. Noch mehr aber bezeugt die Bibel ihre Vision, dass Menschen die Gewalt in ihrem Zusammenleben auch überwinden können. Von dieser Hoffnung reden schon die Propheten des Alten Testaments, wenn sie von der messianischen Friedenszeit sprechen oder die Völkerwallfahrt zum Zion ankündigen: “Denn von Zion kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort. Er spricht Recht im Streit der Völker, er weist viele Nationen zurecht. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg.“ (Jes 2,3-5).
In den Tagen des Kaisers Augustus wurde Jesus geboren, berichtet der Evangelist Lukas nicht von ungefähr. Dieser Kaiser hatte durch die Gewalt seiner Legionen die römische Weltherrschaft im gesamten Mittelmeerraum gesichert. Jesus ließ sich nicht durch die alltäglichen Gewalterfahrungen davon abbringen, von seiner Vision zu predigen: In Gottes Reich zählt nicht Reichtum und Macht, nicht Stärke und Gewalt. In den Armen und den Friedfertigen, in den Barmherzigen und denen, die keine Gewalt anwenden, bricht sich Gottes Reich seine Bahn, verkündete er in den Seligpreisungen. “Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. ... Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt.“ (Lk 6,27-29.35).
Diese Weisungen Jesu wurden zum Kennzeichen der ersten Christen, die in ihrer Umwelt viel Verfolgung und Leid erdulden mussten. Der Glaube, dass der am Kreuz hingerichtete Jesus von Gott zu neuem Leben erweckt wurde, befähigte die Jüngerinnen und Jünger Jesu in den ersten Jahrhunderten, voller Hoffnung den Weg des Gewaltverzichts und der Feindesliebe zu gehen.
Das 4. Jahrhundert brachte eine einschneidende Wende. Die römischen Regierungspolitik erfuhr durch Kaiser Konstantins einen Kurswechsel. Nachdem die letzte große Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian die christliche Kirche nicht auszulöschen vermocht hatte, entschlossen sich seine Nachfolger Galerius und Konstantin, den christlichen Glauben zu tolerieren. Auch wenn Konstantin erst auf dem Sterbebett die Taufe empfing, hatte er doch die Jahre zuvor zunehmend die christliche Kirche und deren Wirken gefördert. Er hatte sogar in die theologischen Auseinandersetzungen eingegriffen, Synoden und Konzilien berufen und häretische Gruppierungen verfolgt.
Verfolgung der Nichtchristen. Was mit Konstantin zu Beginn des 4. Jahrhunderts begonnen hatte, brachte Theodosius der Große am Ende dieses Jahrhunderts zum Abschluss. Im Jahr 391 erhob er das Christentum zur Staatsreligion und verbot gleichzeitig alle heidnischen Kulte. Theologie und Reichspolitik, Kirche und Staat begannen sich zu vermischen; und oft war es der Kaiser, der in Konfliktfällen nicht nur das ausschlaggebende Wort beanspruchte, sondern auch seine militärische Macht einsetzte, um die ihm genehme Lösung durchzusetzen. Waren nur wenige Jahrzehnte zuvor die Christen noch verfolgt worden, so erlitten die nichtchristlichen Religionen und Kulte Ende des vierten Jahrhunderts das gleiche Schicksal.
Augustinus war der bedeutendste Theologe des 5. Jahrhunderts im Westen des römischen Reiches. In seinen Überlegungen lässt er keinen Zweifel daran, dass er den Krieg verwirft und als Werk des Teufels betrachtet. Doch unter bestimmten Bedingungen kann für ihn ein Krieg “gerecht“ sein: wenn er dem Frieden als Ziel dient, er sich gegen begangenes Unrecht wendet, die legitime Autorität den Krieg anordnet und die Kriegsführung nicht gegen Gottes Weisungen verstößt.
Lehre vom gerechten Krieg. Seit Augustinus betrachtete man den heidnischen Unglauben als Unrecht gegen Gott, der zu einem gerechten Kriegsgrund werden konnte. Der andauernde Kriegszustand gegen die Heidenvölker wurde als normal angesehen. Thomas von Aquin zog für einen “gerechten“ Krieg engere Grenzen; er durfte nur der Wiederherstellung der Ordnung und der Bestrafung eines Schuldigen dienen. Augustinus und Thomas wollten mit ihren Überlegungen zum “gerechten Krieg“ das Führen eines Krieges eher verhindern. Doch im Laufe der Geschichte wurde ihre Lehre auch von christlichen Herrschern oft als Vorwand genommen, um ihre eigenen Ziele mit Gewalt zu erreichen.
Seit dem Mittelalter wurde die Verflechtung der Kirche mit der weltlichen Macht zunehmend enger. Kirchliche Würdenträger wurden zu Landesherren, wie die Fürstbischöfe im deutschen Reich oder der Papst als Herrscher des Kirchenstaates. Diese auch weltliche Machtausübung wurde mit der Zweischwerterlehre (Biblischer Bezugspunkt ist Lk 22,38) begründet. Päpstliche Theologen (z.B. Bernhard von Clairvaux) vertraten die Ansicht, dass dem Papst beide Schwerter verliehen worden seien. Das geistliche Schwert behalte der Papst und das weltliche leihe er dem Kaiser zum Dienst für die Kirche. Die Bulle “Unam sanctam“, von Bonifatius VIII. im November 1302 veröffentlicht, forderte am deutlichsten die Unterordnung aller weltlichen Macht unter den Papst.
Machtmissbrauch im Mittelalter. Die Veränderung im Vergleich zur Epoche der Spätantike ist beträchtlich. Befanden sich damals Bischöfe und Papst an der Seite christlicher Machthaber, so sind sie im Laufe des Mittelalters selbst zu weltlichen Herrschern geworden, deren Befehle Verfolgungen und Gewalttaten auslösten.
In diese Epoche des Mittelalters fallen zahlreiche Ereignisse, die Papst Johannes Paul II. in seinem “Mea Culpa“ vom 12. März 2000 beklagte. Der Hass auf Andersgläubige entlud sich seit dem 11. Jahrhundert in den Kreuzzügen. Papst Urban II. hatte 1095 den Befehl gegeben, dem Islam das “Heilige Land“ mit dem Schwert zu entreißen. Mit den Worten “Gott will es“ auf den Lippen richteten die christlichen Kreuzfahrerheere 1099 in Jerusalem ein Blutbad an und metzelten Juden wie Moslems, Frauen wie Kinder nieder. Bis ins 13. Jahrhundert wurden sieben Kreuzzüge organisiert, die in immer neuen Wellen das Gebiet des östlichen Mittelmeerraumes mit Gewalt überzogen.
Doch nicht nur gegen äußere Feinde gingen Christen im Mittelalter mit brutaler Härte vor, sondern auch gegen innere Feinde. Das waren im 12./13. Jahrhundert vor allem die Katharer und Albigenser, gegen die im Süden Frankreichs ein regelrechter Krieg entbrannte, da sie auf die erfahrene Verfolgung ebenfalls mit Waffengewalt antworteten.
Friedensbotschafter Franziskus. Auch wenn in dieser Epoche viele kirchliche Würdenträger nur ihre weltlichen Interessen Macht und Reichtum verfolgten, ließ Franziskus von Assisi in dieser von Gewalt geprägten Zeit die Gewaltlosigkeit und die Feindesliebe des Evangeliums so lebendig werden, dass seine Zeitgenossen ihn als “alter christus“ (als “anderen Christus“) bezeichneten. In seine Missionsanweisungen für die Brüder, die unter den Sarazenen leben, diktierte Franziskus, “dass die Brüder weder Zank noch Streit beginnen, sondern um Gottes willen jeder menschlichen Kreatur untertan sind“ (Nichtbestätigte Regel Kap. 17,6). Er selbst war 1219 nach Ägypten gereist und hatte sowohl im Heerlager der Kreuzfahrer wie vor dem Sultan von Ägypten für ein Ende der Gewalt geworben. Auch wenn er die Kreuzfahrerschlacht bei Damiette nicht verhindern konnte, so ließ er sich davon nicht entmutigen, sondern predigte und lebte weiter die Friedensbotschaft Jesu. Gegenüber häretischen Bewegungen, wie zum Beispiel den Katharern, finden sich in seinen Schriften keine bösen Worte. Auch sie suchte er mit der Güte des Evangeliums zu überzeugen.
Vielleicht hat dieses Erbe des Franziskus dazu beigetragen, dass sich die Brüder seiner Gemeinschaft nicht so stark wie andere Ordensgemeinschaften an der Inquisition beteiligten. Bis in die beginnende Neuzeit wurden viele Frauen und Männer als vermeintliche Hexen und Ketzer gefoltert und auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang der mutige Einsatz des deutschen Jesuiten Friedrich von Spee, der mit seiner cautio criminalis dem Wahn der Hexenverfolgung entgegentrat.
Im “Mea Culpa“ des Papstes werden noch weitere dunkle Kapitel der Kirchengeschichte angesprochen wie der Hass gegen die Juden oder die Gewalt gegen die indigenen Völker Amerikas. Zwar war es – historisch gesehen – nur die jüdische Oberschicht von Jerusalem, die Jesus dem römischen Statthalter Pilatus zur Hinrichtung auslieferte, doch wurde im Laufe der Geschichte das ganze jüdische Volk immer wieder als “Gottesmörder“ geschmäht und zum Sündenbock gemacht. In den Zeiten der Pest wurden die Juden als Brunnenvergifter verleumdet; der Hass gegen sie entlud sich in Pogromen und Massenmorden.
Mea Culpa. Bei der Eroberung der “Neuen Welt“ durch die katholischen Könige Spaniens und Portugals war die Kirche von Anfang an dabei. Die indigenen Völker und Stämme wurden ausgerottet, später dann zwangsmissioniert, was oft nichts anderes bedeutete als Ausbeutung und Sklaverei. Der Einsatz des Bischofs Bartolome de las Casas für den Schutz der indianischen Ureinwohner war die Ausnahme. In seinem “Mea Culpa“ bekannte der Papst, dass “Christen die Rechte von Stämmen und Völkern verletzt haben und deren Kulturen und religiöse Traditionen verachtet“.
Eigens erwähnte der Papst in weiteren Abschnitten die “Sünden gegen die Würde der Frau und die Einheit des Menschengeschlechts“ sowie die “Sünden auf dem Gebiet der Grundrechte der Person“. Er bekannte: “Auch Christen haben sich schuldig gemacht, indem sie Menschen ausgrenzten.“ Mit einem fünfmaligen “Nie wieder!“ beschloss der Papst dieses umfassende Schuldbekenntnis der Sünden der Kirche.
Im 19. und 20. Jahrhundert hat die Entstehung der Nationalstaaten dazu geführt, dass die Kirche ihre weltliche Macht verlor. Christen erlitten selbst wieder Verfolgung und Gewalt in den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts. Die technische Entwicklung der Massenvernichtungswaffen, der Rüstungswettlauf, aber auch die Spaltung der Welt in einen reichen Norden und einen armen Süden führten zu neuen Herausforderungen. Gewalt in ihren vielfältigen Formen in zwischenmenschlichen Beziehungen beziehungsweise in der Gesellschaft oder zwischen Staaten und Kontinenten wird bewusster wahrgenommen. Die Achtung und Förderung der von der UNO proklamierten Menschenrechte wird Grundlage jeder Politik, die Gewalt verhindern beziehungsweise mindern möchte. Johannes XXIII. hat mit seiner Enzyklika Pacem in terris (1963) die Förderung der Menschenrechte zu einem Grundanliegen der Kirche gemacht. Seine Nachfolger Paul VI. und Johannes Paul II. wurden und werden nicht müde, die Wahrung der Menschenrechte einzufordern.
Papst fordert Gewaltverzicht. Gerade Johannes Paul II. hat in den Konfliktsituationen des letzten Jahrzehnts seine ganze Autorität für eine friedliche Lösung eingesetzt und eine Politik des Gewaltverzichts angemahnt.
Viele Christinnen und Christen haben den Weg des Gewaltverzichts als eine Alternative zur herrschenden Politik neu entdeckt. Auf dem Friedenskapitel der Ordensleute 1986 ist folgendes Gebet entstanden, das Realitätssinn und Hoffnungsvision miteinander verbindet:
“Gott, du bist ein Gott des Lebens
und du willst, dass wir Menschen
in deiner Schöpfung das Leben in Fülle haben.
Wir kommen voller Ängste zu dir,
ratlos und ohnmächtig
angesichts der Gewalt um uns und in uns.
Wandle uns in der Tiefe unseres Herzens
zu Menschen, durch die dein Friede
in unsere Welt getragen wird.
Segne mit deinem Geist
der schöpferischen Phantasie und der Geduld
alle Menschen, die mit uns auf dem Weg sind
zu deinem Reich des Friedens.
Sende deinen Geist auch in die Herzen derer,
die gefangen sind im Netz der Gewalt,
– als Täter oder Opfer –
und lass uns nie die Suche aufgeben
nach dem Gespräch mit ihnen.
Der du uns Vater und Mutter bist
und uns in unserem Bruder Jesus Christus
vorgelebt hat, wie wir Gewalt überwinden
und Frieden schaffen können. Amen.“