Das Christentum - ein geistlicher Supermarkt?
Die Statistiken sprechen eine deutliche und nicht sehr ermutigende Sprache. Da gibt es Gläubige, welche sich rückhaltlos zur Gottheit Jesu bekennen, gleichzeitig aber die Auferstehung der Toten in Frage stellen. Andere befürworten die Lehrautorität des Papstes, was sie aber nicht daran hindert, an eine Wiedergeburt nach dem Tod zu glauben. Offenbar wird die Religion heute zunehmend personalisiert. Den ihr innewohnenden Anspruch verstehen viele als Angebot, aus dem die eigenen Bedürfnisse wie in einem Supermarkt abgedeckt werden.
Osterhasen und Auswahlchristen. Früher war in diesem Zusammenhang meist von Randchristen oder Taufscheinkatholiken die Rede, oder von Osterhasen, womit man in Kleruskreisen jene bezeichnete, welche gerade noch ihre Osterpflicht erfüllten und das Jahr über eine Kirche nur von innen sahen, wenn eine Verwandte heiratete oder ein Bekannter zu Grabe getragen wurde. Und die schon deshalb kein Dogma ablehnten, weil sie für religiöse Belange wenig übrig hatten.
Inzwischen hat man erkannt, dass diese Unterscheidung zwischen so genannten Zentrums- und Randchristen, wenig hergibt. Dieses Modell übersieht nämlich, dass das Auswahlchristentum längst auch unter den dem Zentrum nahe stehenden Personen(gruppen) mehr oder weniger verbreitet ist. So gibt es Katholikinnen und Katholiken, welche von sich behaupten, die kirchliche Sexualmoral rückhaltlos zu bejahen – und die doch gleichzeitig den Verlautbarungen des Konzils und des Papstes bezüglich der Abrüstung ablehnend gegenüberstehen, obwohl es sich hier ebenfalls um Äußerungen des authentischen kirchlichen Lehramtes handelt. Anderseits vertreten Christinnen und Christen, die eigentlich zur Kerngemeinde gehören, beispielsweise in Bezug auf das Priestertum der Frau Ansichten, die sich selbst bei wohl wollender Interpretation nicht im Geringsten mit den lehramtlichen Verlautbarungen decken.
Nicht die ganze Lehre. Schon diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass das Phänomen der Teilidentifikation mit der katholischen Glaubenslehre nicht bloß unter den kirchenfernen Gläubigen verbreitet ist. Mit anderen Worten, die Totalidentifikation mit der kirchlichen Lehre scheint heute schon fast die sprichwörtliche Ausnahme zu sein, welche die Regel bestätigt. Das hängt sicher auch mit unserer pluralistischen Gesellschaft zusammen, die auf die religiöse und kirchliche Einstellung der Gläubigen nicht ohne Auswirkungen bleibt.
Auf die gegenwärtige Situation reagieren manche mit Klagen, die sich in der Regel recht hilflos anhören – und kaum etwas verändern werden: Katechetinnen und Religionslehrer würden ja nicht einmal mehr verlangen, dass die Kinder den Katechismus auswendig kennen. Man solle endlich den Mut aufbringen, die vollständige Lehre wieder zu verkünden, ohne Wenn und Aber. Bibelfeste verweisen gern auf die Mahnung im Titusbrief, die gesunde Lehre (Tit 2,1) und die Wahrheit unverfälscht (2,7) zu verbreiten. Dabei fragen sie sich nicht, ob die alten Antworten auf neue Fragen genügen, sondern verstehen den Überlieferungsprozess des Glaubens als Vermittlung einer Lehre, die man Satz für Satz wiederholen und so weitergeben kann, wie man ein Schmuckstück in derselben Schatulle über Generationen hin weitervererbt.
Panorama-Glaube. Kurzum, soll alles wieder so werden wie früher, als die Kirche noch im Dorf und der Pfarrer allein Herr im Gotteshaus war? Muss sich das Augenmerk vorwiegend auf die Vollständigkeit der Lehre richten? Als Idealvorstellung schwebt da ein Panorama-Glaube vor, wobei man häufig nicht nur an das ganze breite Spektrum der kirchlichen Lehräußerungen, sondern darüber hinaus auch an das gesamte religiöse Brauchtum von früher denkt.
Bei aller berechtigten Sorge, die sich in derartigen Überlegungen Ausdruck verschafft, wird man doch zurückfragen dürfen, ob es nicht von einem gewissen Realitätsverlust zeugt, wenn man von den Gläubigen erwartet, dass sie alle Dogmen, die im Lauf der Jahrhunderte definiert wurden, kennen und sie auch nachvollziehen können. Thomas von Aquin, sicher ein unverdächtiger Zeuge, betont demgegenüber, dass die Kirche keineswegs von allen Gläubigen eine Kenntnis ihres ganzen Bekenntnisses verlange. Für die einfachen Gläubigen erachtet er das Wissen um die Grundwahrheiten für ausreichend; weil in ihnen ja alle weiteren Entfaltungen der Lehre mitenthalten seien und daher implizit mitbejaht würden. Hinsichtlich dieser Grundwahrheiten trifft Thomas noch eine weitere Unterscheidung: Was beispielsweise das Christusbekenntnis betrifft, so genügt es, wenn die minores, die einfachen Gläubigen, über jene Geheimnisse instruiert sind, welche die Kirche an ihren großen Festtagen in Erinnerung ruft.
Das Wesentliche. Über subtilere Lehrentscheidungen hingegen sollten die maiores, die im kirchlichen Dienst Stehenden, mehr oder weniger, nämlich je nach Stand und Stellung, Bescheid wissen. Eben diese Ansicht vertrat seinerzeit auch die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland in ihrem Beschluss über die Ökumene: Die katholische Kirche verlangt von ihren Mitgliedern nicht, dass sie alle Ausprägungen und Ableitungen in der Geschichte des gelehrten und gelebten Glaubens in gleicher Weise bejahen.
Das bedeutet natürlich nicht eine Reduzierung des Glaubens im Sinne einer Verminderung, wohl aber eine Konzentration dieses Glaubens auf das Wesentliche, wie es früher in den Katechismen zur Sprache kam.
Daneben gibt es allerdings noch eine andere Art der Konzentration der Glaubenslehre, nämlich jene altkirchlichen Credo-Formeln, die eine Zusammenfassung des Glaubens darstellen, wie sie unter anderem dem Apostolischen Glaubensbekenntnis zugrunde liegt. Dieses bietet, im Gegensatz zu den Katechismen, nicht eine denkbar vollständige Lehre in möglichst kurzer Form, sondern beinhaltet die zentralen Glaubensinhalte.
Defizit und Dissens. Nach neutestamentlicher Überzeugung ist eine solche Konzentration des Glaubens durchaus möglich, insofern die ganze Offenbarungsgeschichte auf Jesus Christus, den einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen (1 Tim 2,5), hingeordnet ist. Er ist der Eckstein; denn in keinem anderen ist das Heil zu finden (Apg 4,11-12). Die ganze übrige Glaubenslehre bildet letztlich nur die Ausfaltung dieser zentralen Grundwahrheit.
Der gegenwärtige Dissens und das Defizit an Glaubenswissen dürfen nicht verharmlost werden. Der Dissens lässt sich nur durch Dialog überwinden. Und das Wissensdefizit kann nicht behoben werden mit Klagen oder mit dem hilflosen Ruf nach einer `starken´ Hand. Sondern? Sondern indem die mit der Verkündigung Beauftragten sich zunächst in eine Sprachschule begeben, damit sie nicht Gefahr laufen, die Glaubenswahrheiten formel- oder floskelhaft zu vermitteln. Vielmehr gilt es darzulegen, und zwar stets mit dem Blick auf die heutigen Menschheitserfahrungen, was die Glaubenssätze meinen. Gleichzeitig wird die Verkündigung sich vermehrt auf die zentralen Wahrheiten konzentrieren müssen, in denen dem heiligen Thomas von Aquin zufolge das Ganze des christlichen Glaubens eingeschlossen ist.
Rangordnung der Wahrheiten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das Zweite Vatikanische Konzil, welches ausdrücklich darauf verweist, dass es eine Rangordnung der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre gibt. Damit behauptet das Konzil natürlich nicht, dass gewisse Randwahrheiten weniger wahr seien, noch, dass diese eine Nebensache darstellten, welche im Hinblick auf die eigentliche Sache des Glaubens nichts aussage. Schon das Faktum, dass es solche Randwahrheiten gibt, legt die Vermutung nahe, dass diese in einer bestimmten geschichtlichen Situation als für den gesamten Glauben relevant empfunden wurden. Die Rede von der Rangordnung der Wahrheiten besagt zunächst, dass es Glaubenssätze gibt, die zum Grundwissen jedes Gläubigen gehören sollten. Darüber hinaus schließt diese Aussage ein, dass nicht allen Glaubensäußerungen zu jeder Zeit die gleiche Bedeutung zukommt. Und schließlich impliziert sie, dass die existenzielle Betroffenheit der Gläubigen angesichts der einzelnen Lehräußerungen von sehr unterschiedlicher Intensität sein kann, was faktisch ja auch zutrifft (und sich auch praktisch äußert, beispielsweise in den unterschiedlichen Spiritualitäten, die von den verschiedenen Orden oder kirchlichen Vereinigungen gepflegt werden,).
Die Wortverkündigung gehört zweifellos zum Wesen des christlichen Glaubens. Weil sie bewusst auf die Festigung und Ausweitung der Gemeinschaft angelegt ist, neigt sie häufig – und häufig unbewusst – zum Triumphalismus und zur Apologetik. Und vermittelt so eher eine Außenansicht des Glaubens. Anders die Tatverkündigung. Diese will niemanden zum Glauben überreden, wohl aber alle vom Glauben überzeugen. Naturgemäß geht es hier weniger darum, eine Lehre gegen jemanden zu verteidigen, als vielmehr Zeugnis abzulegen für jemanden – nämlich für Jesus Christus. Die Glaubensunterweisung ihrerseits hat letztlich nur dann eine Chance, wenn sie aus vollem Herzen kommt, will sagen, wenn sie vom Lebenszeugnis der Verkündenden abgedeckt ist.
Beim Vergleich der Lehren miteinander soll man nicht vergessen, dass es eine Rangordnung oder Hierarchie der Wahrheiten innerhalb der katholischen Kirche gibt, je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens. So wird der Weg bereitet werden, auf dem alle (...) zur tieferen Erkenntnis und deutlicheren Darstellung der unerforschlichen Reichtümer Christi angeregt werden. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus, Nr. 11. Unanschaulich geworden ist nicht nur das äußere Erscheinungsbild der Kirche. Unanschaulich geworden ist auch der Glaube selbst. In vielen Altersgruppen, in vielen Schichten unserer Bevölkerung stehen wir heute fast vor einem Nichts an Glaubenswissen. Vieles an unentbehrlichen Kenntnissen und Übungen ist verschüttet. Ein Teilchristentum, ein Auswahlchristentum etabliert sich vielerorts, ein Angebot von Glaubensstücken und Glaubensresten ohne Einheit und Zusammenhalt. Wo ist das Katholische, also das Ganze, Umfassende? Ist es nicht dabei, durch freundliche Sonderangebote ersetzt zu werden, die niemand wehtun, aber auch niemand begeistern können – eine bequeme Lehre zum Ohrenkitzel, fernab vom Fordernden, Provozierenden der christlichen Botschaft? Hans Maier, Die Stunde der Laien? Zur Gegenwart der Kirche in der heutigen Welt. Nicht bloß in der katholischen Kirche, sondern auch in den evangelischen Landeskirchen breitete sich in den vergangenen Jahren ein Auswahlchristentum aus, das sich aus einer Mischung von angestammten kirchlichen Lehren und neuen Heilsbotschaften nährt. Welche Folgen hat diese Entwicklung für die Kirchen? – Die christliche Tradition wird sich fortan auf dem modernen Supermarkt der Spiritualität in der Auseinandersetzung mit einer Vielfalt religiöser Angebote bewähren müssen. Gefragt sind in diesem Zusammenhang Orientierungshilfen, um sich im unübersichtlichen Dschungel religiöser Angebote zurechtzufinden. Hier liegt heute womöglich die neue Aufgabe und Chance der traditionellen Volkskirchen: nicht durch autoritäres Auftreten und das Verkünden von unumstößlichen Glaubenswahrheiten, sondern durch Dialogbereitschaft ihren Beitrag zur Unterscheidung der Geister innerhalb des religiösen Pluralismus zu leisten. Benno Bühlmann, Neue Luzerner Zeitung, 6. 11. 1999. |