Mit Augenaufschlägen das Volk getröstet
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Bemerkenswerter Madonnenblick. Ich selber bin unzählige Male achtlos an diesem Madonnenbild vorübergegangen. Bewusst wahrgenommen habe ich es auf einem Umweg. Der führte mich nach Porta Portese, wo allsonntäglich der römische Flohmarkt stattfindet. Auf dem Rückweg fiel mir an der Viale Trastevere gegenüber dem Erziehungsministerium ein blumengeschmücktes von Kerzen und Lichtern umgebenes Marienbild mit zahlreichen Votivtafeln auf. Bei diesem Anblick kam mir plötzlich zum Bewusstsein, dass ich in Rom schon Dutzende von ähnlichen Muttergottesdarstellungen gesehen hatte, ohne sie bewusst wahrgenommen zu haben.
Erhebende Zeugnisse. Seither achtete ich, wenn immer ich in der Stadt unterwegs war, gezielt auf diese rührenden und zugleich erhebenden Zeugnisse römischer Volksfrömmigkeit. So entdeckte ich auch auf das eingangs erwähnte Madonnenbild, das sich ausgerechnet am Ende jener Straße befindet, an der die Kommunistische Partei ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat. In der Folge stellte ich nicht ohne Erstaunen fest, dass es im Centro storico, in der Innenstadt, geradezu wimmelt von ähnlichen kleinen Madonnen-Denkmalen.
Ablass bei Andacht. Gelegentlich verspricht eine Tafel den andächtigen Betrachtern gar einen Ablass, wenn sie vor einem solchen Bildnis ein Gebet sprechen. In dem an den Vatikan angrenzenden Borgo Pio (Haus Nr. 27) weist eine Inschrift unter einer Madonna mit Kind ausdrücklich darauf hin, dass dies auch für die Betrachterinnen gilt: Mit Reskript vom 5. Juli 1797 gewährt Pius VI. allen Gläubigen dell’uno e dell’altro sesso (also beiderlei Geschlechts) einen Ablass 200 Tagen, wenn sie vor diesem Bildnis andächtig die Litaneien beten.
Falls wir der Überlieferung glauben wollen, ist das Marienbild an der Via delle Botteghe Oscure nicht das einzige, welches die Römerinnen und Römer mit ihrem Augenaufschlag in Erstaunen versetzte – und manche von ihnen wohl auch zur Besinnung brachte. Sicher ist, dass die Muttergottes ihnen noch heute von den Mauern und Ecken zahlreicher Palazzi herab zulächelt. Aber das bemerken in der Regel nicht einmal die Pilger und Wallfahrerinnen. Denn in unserer schnelllebigen Zeit fehlt sogar ihnen oft die Muße zum besinnlichen Verweilen.