Der Kopf der Kopflosen
Die meisten von ihnen erinnern sich ja eh nur an ihn, wenn sie etwas verloren haben. Dabei ist der 1195 in Lissabon geborene Heilige bloß wegen eines banalen Übersetzungsfehlers dazu verurteilt, Sachen zusammensuchen zu müssen, die andere Leute verbummelt haben. Tatsächlich existiert nicht das geringste Indiz dafür, dass Antonius sich zu Lebzeiten für derlei Aktivitäten interessiert hätte.
Spezialgebiet Verlorenes. Diese ungeliebte Aufgabe verdankt er indirekt seinem Zeitgenossen und Mitbruder Julian von Speyer, welcher zu seinen Ehren den berühmten Hymnus Si quaeris miracula („Wenn du Wunderzeichen suchst...“) verfasste, einen lateinischen Wechselgesang, in welchem er den Heiligen als begnadeten Wundertäter preist. Die zweite Liedstrophe behauptet, dass Antonius die res perditas wieder herbeischaffen könne, was man durchwegs mit „verlorene Sachen“ übersetzte. In Wirklichkeit jedoch besitzt res mehr Bedeutungen als ein gesunder Mensch Zähne hat. Gewiss bezeichnet der Begriff auch ein Ding oder eine Sache oder ein Objekt. Mit res kann aber genauso gut ein Landgut, ein Schatz, ein Gemeinwesen, ein Geschäft oder ein bestimmtes Ereignis gemeint sein. Oder ein Prozess. An einen solchen, und nicht an all die Dinge, die sich in den Fundbüros stapeln, scheint Julian von Speyer bei der Niederschrift seines Hymnus gedacht zu haben.
Den Unschuldigen entlastet. Schon bald nach dem Tod des Heiligen nämlich kursierten Legenden, in denen dieser als Anwalt von zu Unrecht Verdächtigten in Erscheinung tritt. Eine davon berichtet, dass ein Bürger in Lissabon einen Jungen umbrachte und die Leiche im Garten von Antonius’ Vater begrub. Nachdem man sie dort entdeckt hatte, wurde dieser zum Tod verurteilt. Antonius, durch göttliche Erleuchtung von diesem Vorfall in Kenntnis gesetzt, befand sich damals in Padua. Doch schon am Morgen nach dem Urteilsspruch tauchte er in Lissabon auf und bat den Richter, ihn zu der Leiche zu führen. Dann gebot er dem toten Knaben sich zu erheben und den Namen seines Mörders kundzutun. Damit war der Vater durch Antonius von dem schrecklichen Verdacht befreit.
Dieser Legende zufolge müsste sich der Heilige eigentlich vorzugsweise für jene einsetzen, die bei Gerichtsverhandlungen zwar ein gutes Gewissen aber schlechte Karten haben. Weil man jedoch dem Zusammenhang zwischen Legende und Hymnus keine Beachtung schenkte, wurde aus der dort genannten res (aus dem Gerichtsverfahren) ein Gegenstand und der heilige Antonius zum Kopf der Kopflosen.
Sehr beliebt – Beispiel Rom. Wie die Zuschriften an unsere Zeitschriftenredaktion und die unzähligen Dankesbezeugungen am Antoniusaltar in Padua beweisen, zählt Antonius zu jenen Heiligen, welche sich unter den Gläubigen (übrigens auch bei solchen muslimischen Bekenntnisses) eines ganz besonderen Ansehens erfreuen. Ein eindrückliches Zeugnis dafür findet sich auch in der Kirche Santa Maria in Trastevere in Rom. Dieser vermutlich erste christliche Sakralbau der Ewigen Stadt entwickelte sich schon früh zu einem Zentrum der Muttergottesverehrung. Erbaut wurde die Kirche im 3. Jahrhundert, als das Christentum noch eine Religion der Minderheit war. Der heutige Bau aus dem 12. Jahrhundert verdankt seinen Ruhm vor allem den Mosaiken des begnadeten Pietro Cavallini. Den meisten Bewohnern von Trastevere dürfte diese Tatsache unbekannt sein. Weitaus wichtiger ist für sie die Statue des heiligen Antonius von Padua, welche sich hinten links im Kirchenschiff befindet. Dort deponieren sie nicht nur zu seinen Füßen, sondern auch auf seinen Armen, also ganz in der Nähe des Jesuskindes, ihre zumeist mit ungelenker Hand hingekritzelten Bitten und Anliegen, in der Hoffnung, dass der zu Lebzeiten sprachgewaltige und im Lesen geübte Heilige sie sichten und an die richtige Stelle weiterleiten möge.
Kontaktaufnahme garantiert. Dem Vernehmen nach scheint sich Antonius in dieser Hinsicht nach wie vor bestens zu bewähren, und zwar nicht bloß auf seinem Spezialgebiet. Betrüblich ist nur, dass viele erst dann mit ihm Kontakt aufnehmen, wenn sie ihrer Vergesslichkeit gewahr werden. Was meine eigene Kopflosigkeit betrifft, hege ich gelegentlich den leisen Verdacht, dass Antonius gezielt darauf hinarbeitet, dass ich irgendwelche Dinge verschlampe. Weil er nämlich weiß, dass ich mich hinterher todsicher an ihn wende.