Wahrheiten im Widerspruch?

28. August 2006 | von

Immer  wieder kann man hören, naturwissenschaftliche Erkenntnisse seien unvereinbar mit bestimmten biblischen Aussagen. Gibt es die oft behauptete unüberbrückbare Kluft zwischen Glauben und Wissen? Unter Beachtung verschiedener Ebenen der Wahrheit stehen die Aussagen beider Bereiche nicht in Konkurrenz.


Jahrhundertelang zeigten sich die Theologen vor allem daran interessiert, was über oder hinter den Sternen lag. Das änderte sich erst, als der polnische Astronom Nikolaus Kopernikus (1473-1543) die Ergebnisse seiner Forschungen veröffentlichte. Mittels seiner Beobachtungen und Berechnungen nämlich gelangte dieser zu der Überzeugung, dass sich die Sonne nahe dem Mittelpunkt des Weltalls in Ruhe befindet, während sich die Erde einmal am Tag um ihre eigene Achse dreht und jährlich um die Sonne kreist. Bislang hatte man bekanntlich angenommen, dass die Sonne die Erde umkreise. Kopernikus’ Theorie führte dazu, dass der Gang der Gestirne plötzlich auch ein theologisches Problem darstellte.
Als Erster bekam der Mathematiker, Naturphilosoph, Naturwissenschaftler und Astronom Galileo Galilei (1564-1642) die unliebsamen Folgen einer intensiven theologischen Beschäftigung mit den Himmelskörpern zu spüren. Nachdem es ihm gelungen war, das kopernikanische System durch eine Reihe weiterer Erkenntnisse zu stützen, wurde er – und damit das neue Weltsystem – im Jahre 1616 von der römischen Inquisition verurteilt.

Folgen einer Verwechslung. Den Theologen war das neue heliozentrische System nicht deshalb suspekt, weil sich nun alles statt um die Menschen um die Sonne drehte, sondern weil es angeblich im Widerspruch stand zu einigen Aussagen der Heiligen Schrift.
So schildert das alttestamentliche Buch Josua, wie das Volk Israel in der Nähe der Stadt Gibeon fünf Amoriterkönige besiegt. Dabei weist der Verfasser ausdrücklich darauf hin, dass die Sonne so lange stehen blieb, bis die Israeliten an ihren Feinden Rache genommen hatten (vgl. Josua, Kapitel 10, Verse 12-13).
Nach damaliger theologischer Lehrmeinung war Galilei offensichtlich einem Irrtum aufgesessen. Wie konnte er behaupten, dass die Erde sich um die Sonne drehe, wenn in der Bibel doch das Gegenteil zu lesen ist. Und die Heilige Schrift – darüber war man sich damals wie heute im Klaren – enthält die Wahrheit, weil die biblischen Verfasser ja von Gott geleitet und inspiriert waren. Da Gott sich aber nicht irren kann, muss alles, was im Widerspruch zur Schrift steht, als Irrlehre gelten. Und die Kirche als authentische Interpretin des Gotteswortes hat nun einmal die Aufgabe, Irrtümer zu bekämpfen!
Es brauchte eine ganze Reihe von Krisenerfahrungen, bis die Gottesgelehrten endlich begriffen, dass man nicht nur die Bewegungen der Gestirne, sondern auch die biblischen Texte falsch auffassen kann

Wahrheit der Bibel. Für die Gläubigen ist die Botschaft der Bibel wahr, weil sie nicht von fehlbaren Menschen, sondern vom unfehlbaren Gott selber stammt. Tatsächlich war die Kirche von jeher davon überzeugt, dass die Bibel letztlich Gott zum Verfasser hat, der sich der menschlichen Autoren nur bediente, um sich mitzuteilen.
Wie immer man die Geistgewirktheit der Bibel im Einzelnen verstehen mag – eine ärgerliche oder gar Ärgernis erregende Sache lässt sich mit keiner noch so ausgeklügelten Theorie aus der Welt schaffen: dass nämlich die Bibel tatsächlich Irrtümer enthält.
Um ein paar Beispiele zu nennen: In seinem Evangelium zitiert Matthäus den Propheten Sacharja (Mt 27,9); doch schreibt er die betreffende Stelle Jeremia zu. Markus erinnert daran, dass David unter dem Hohenpriester Abjatar das Haus Gottes betreten und die Schaubrote gegessen habe (Mk 2,26). Nach dem ersten Samuelbuch jedoch, auf das der Evangelist sich bezieht, geschah diese Episode unter dem Hohenpriester Ahimelech (1 Sam 21,2-7). Gleich zu Beginn des Buches Judit wird Nebukadnezzar als König der Assyrer mit Sitz in Ninive vorgestellt. In Wirklichkeit regierte er über das babylonische Reich. Im Danielbuch liest man, dass derselbe König Jerusalem „im dritten Jahr der Herrschaft des Königs Jojakim von Juda“ (1,1), also vom Frühling 606 bis zum Frühling 605, belagert habe. Aus der aufgefundenen authentischen Chronik des Königs Nebukadnezzar jedoch geht eindeutig hervor, dass diese Belagerung erst drei Jahre später stattgefunden haben kann. Und dann erst die 600’000 israelitischen Kriegsleute, die angeblich aus Ägypten aufgebrochen sind (Ex 12,37)! Die stärksten Armeen jener Zeit umfassten hundertmal weniger Streitkräfte. Dass der Hase im Buch Levitikus (11,6) unter die Wiederkäuer eingereiht wird, mag die Zoologen auf die Palme und die Theologen in Verlegenheit bringen.

Wahrheitsebenen. Angesichts solcher Ungereimtheiten nahmen die Theologen früher zu den waghalsigsten Konstruktionen ihre Zuflucht, um die Irrtumslosigkeit der Schrift dennoch zu beweisen. So mutmaßten sie etwa, ein biblischer Verfasser habe profane Quellen konsultiert und die Irrtumslosigkeit beziehe sich in diesem Fall bloß auf das richtige Zitieren!
Einen Ausweg aus dieser Sackgasse eröffnete schließlich eine Äußerung des heiligen Thomas von Aquin, die sich auch das Zweite Vatikanische Konzil zu Eigen machte. In seiner Abhandlung „Über die Wahrheit“ nämlich schreibt der mittelalterliche Theologe, dass Gott den Menschen „nur solche Wahrheiten mitteilen wollte, die ihnen zum Heil gereichen“. Dabei bezieht er sich auf Fragen der Glaubenslehre und des sittlichen Verhaltens.
Zwar ist die ganze Bibel inspiriert und insofern Gottes Wort. Die Irrtumslosigkeit hingegen bezieht sich nur auf jene Wahrheiten, die Gott zum Heil des Menschen aufgezeichnet haben wollte. Diese Heilswahrheiten („Gott ist der Schöpfer der Welt“; „Jesus ist der Sohn Gottes“) sind in der Heiligen Schrift ohne Beimischung von Irrtümern enthalten.
Außer diesen heilsbedeutsamen Wahrheiten jedoch finden sich in der Bibel auch zahlreiche naturwissenschaftliche, historische und geographische Hinweise.
Wenn das Zweite Vatikanische Konzil daran festhält, dass die Bibel „ohne Irrtum“ die Wahrheit lehrt, bezieht sich das nicht auf derartige, profane Aussagen, sondern einzig auf die Heilswahrheiten, die den Inhalt des christlichen Glaubens ausmachen. Alles Übrige hingegen ist Gegenstand der profanwissenschaftlichen Forschung und Erkenntnis und bildet gewissermaßen das Vehikel, auf dem die Glaubenswahrheiten transportiert werden.
Das sei hier anhand eines Beispiels verdeutlicht.

Beispiel Pilatus. Wenn der Evangelist Lukas berichtet, dass Jesus unter einem Landpfleger namens Pontius Pilatus den Kreuzestod erlitt, so handelt es sich dabei nicht um eine Glaubenswahrheit, sondern um eine historische Aussage. Dass zur Zeit Jesu ein Pontius Pilatus in Palästina als Prokurator amtete, galt bis vor fast dreißig Jahren nicht als einwandfrei erwiesen, da die diesbezügliche historische Quellenlage allzu dürftig erschien. Grundsätzlich jedoch musste die Frage offen bleiben, da nie auszuschließen war, dass irgendwann Zeugnisse entdeckt würden, welche die neutestamentlichen Aussagen erhärteten. Dies geschah in der Tat, als am 16. Juni 1961 Archäologen im antiken Theater der palästinischen Hafenstadt Caesarea, in welcher die römischen Prokuratoren ihren Wohnsitz hatten, eine Steintafel ausgruben. Die erste Zeile der Inschrift spricht von einem „Tiberieum“, womit ein Park oder ein Tempel oder sonst eine Anlage gemeint sein kann, die zu Ehren des Kaisers Tiberius (42 vor bis 37 nach Christus; seit 14 nach Christus römischer Kaiser) errichtet wurde. Es folgt in gut lesbarer Schrift der Name des Pilatus, und anschließend, nur bruchstückhaft erhalten, aber leicht rekonstruierbar, sein Titel: „(praef)ectus Juda(ea)e“ Zumindest drei Dinge stehen damit historisch fest: Dass Pontius Pilatus wirklich existiert hat, dass er das Amt eines Landpflegers in Judäa innehatte und dass er dem Kaiser Tiberius gegenüber eine loyale Haltung einnahm.
Was die Existenz dieses Pontius Pilatus betrifft, so handelt es sich dabei um eine historische Wahrheit. Der Glaube an Jesus Christus würde in keiner Weise betroffen, wenn die Evangelisten ihn in ihrer Darstellung der Passionsgeschichte mit einem später amtierenden Prokurator verwechselt hätten. Ein solcher historischer Irrtum bliebe ohne Folgen für jene Heils- oder Glaubenswahrheit, welche besagt, dass Jesus die Menschheit durch sein Leben, sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung erlöst hat. Gerade der Tod Jesu ist ein treffendes Beispiel für die beiden Wahrheitsebenen, die es in der Schrift zu unterscheiden gilt. Dass Jesus gekreuzigt wurde, ist eine historische Aussage, die auch Nichtgläubige bejahen. Dass Jesus für uns gestorben ist, um uns zu erlösen, ist eine Heilswahrheit, die man nur im Glauben bejahen kann.

Kompetenzbereiche. Neben historischen Äußerungen finden sich in der Bibel etliche Aussagen, die sich mit unseren heutigen profanwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht vereinbaren lassen. Das hängt damit zusammen, dass die biblischen Verfasser den zu ihrer Zeit gängigen Vorstellungen verpflichte waren. Unter anderem trifft das auch auf ihre Äußerungen über Gottes Handeln in der Welt und am Menschen zu.
Inzwischen haben wir gelernt, zwischen theologischen Aussagegehalten und deren zeitbedingten Einkleidungen zu unterscheiden. In Bezug auf die Schöpfungserzählung etwa bedeutet das, dass keinerlei Notwendigkeit besteht, diese symbolisch im Sinne von sechs Zeitaltern zu deuten, um doch noch einen Zipfel naturwissenschaftlicher Wahrheit zu retten. Denn nicht um eine naturwissenschaftliche, sondern um eine theologische Aussage geht es den biblischen Autoren. Und diese lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: Gott ist der Schöpfer des ganzen Universums; er hat die Welt gut geschaffen und will, dass der Mensch in ihr glücklich ist. Das ist deshalb eine Glaubens- oder Heilswahrheit, weil sie dem Menschen seine radikale Abhängigkeit von Gott und seine dauernde Bezogenheit auf ihn in Erinnerung ruft. Aussagen über das Wie der Entstehung des Universums und des Menschen hingegen gehören in den Kompetenzbereich der naturwissenschaftlichen Forschung.
Konflikte zwischen biblischen Aussagen und wissenschaftlichen Erkenntnissen oder, was dasselbe ist, zwischen Glaube und Wissen, sind stets und immer nur da entstanden, wo entweder die Schriftgelehrten oder aber die Vertreter der Profanwissenschaften ihren Kompetenzbereich überschritten haben. Was die Theologen betrifft, ist der ‚Fall Galilei’ wohl das bekannteste Beispiel – und in etwa verständlich und entschuldbar, weil diese Problematik um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert gerade erst mit voller Kraft zum Vorschein kam und deshalb erst der Aufarbeitung und Bewältigung bedurfte.

Galileis Kurzformel. Eine offizielle Klärung in dieser Sache brachte Papst Leo XIII. im Jahre 1893 mit seiner Enzyklika „Providentissimus Deus“, in der es unter anderem heißt: „Zwischen dem Theologen und dem Physiker kann es keinen wahren Gegensatz geben, wenn sich nur beide in ihren Grenzen halten.“ Anschließend betont der Papst, was bereits ein Thomas von Aquin gelehrt hatte: „Zu bedenken ist, dass die heiligen Schriftsteller oder richtiger der Geist Gottes, der durch sie sprach, die Menschen nicht solche Dinge lehren wollte, die niemandem zum Heil dienen, etwa den inneren Aufbau der sichtbaren Dinge. Deshalb haben sie sich auch nicht um eine Erforschung der Natur bemüht, sondern gelegentlich die Dinge selbst beschrieben und behandelt, bald in einem übertragenen Sinn, bald nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, der zu ihrer Zeit gebräuchlich war.“
Ähnlich und sogar noch leichter verständlich hatte sich seinerzeit schon Galileo Galilei geäußert. Ihm ist es gelungen, das Problem mit einer prägnanten Kurzformel auf den Begriff zu bringen: La Bibbia insegna come si va al cielo, non come va il cielo“ – Die Bibel lehrt, wie man zum Himmel geht, nicht wie der Himmel geht.

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016