Warum lässt Gott uns leiden?
Weshalb bleiben selbst Unschuldige nicht verschont vom Leiden, wenn Gott doch gütig, gerecht und allmächtig ist? Darüber zerbrechen sich die Theologen seit Jahrtausenden den Kopf – und finden keine rationale Antwort.
In einer 1566 erschienenen Predigt überliefert der erste Biograf Martin Luthers, Johann Matthesius, wie der Reformator sich der Glaubensunterweisung widmete: „Doctor Luther ließ sich auch selber neben vielen andern großen Leuten vom Adel und Gelehrten zu solchem heilsamen und bischöflichen Werk der Glaubensprüfung gebrauchen und verhörte die armen Bäuerlein im Beten und befragte sie im Catechismus fein säuberlich und mit Geduld, und unterrichtete sie, deß ich von ihm eine liebliche Historie gehört; denn da ein armes sächsisches Bäuerlein auf seine Sprache den Kinderglauben soll aufsagen, und spricht: ‚Jck glöve in Gat allmächtigen’ fragt Doctor Luther, was allmächtigen heiße; der gute Mann antwortet: ‚Jck wes nicht.’ ‚Ja, mein Mann’, spricht unser Doctor, ‚ich und alle Gelehrten wissen’s auch nicht, was Gottes Kraft und Allmächtigkeit ist. Glaube aber du in Einfalt, dass Gott dein lieber und treuer Vater ist, der will, kann und weiß als der klügste Herr dir, deinem Weib und Kindern in allen Nöthen zu helfen.’"
Hilft Gott wirklich „in allen Nöten"? Warum verhindert er nicht, dass auch Unschuldige leiden? Steht angesichts dieser Tatsache nicht seine Gerechtigkeit auf dem Spiel? Oder seine Güte, gar seine Allmacht? Wenn wir die Bibel auf die darin enthaltenen Allmachtsvorstellungen hin durchforsten, fällt uns auf, dass ausgerechnet im Buch Ijob am häufigsten von Gott als dem Allmächtigen die Rede ist, nämlich über dreißig Mal. Dort geht es bekanntlich um die Frage, warum auch Unschuldige leiden müssen. In den frühesten Schichten wird noch die Ansicht vertreten, dass das Leiden immer eine Strafe darstellt. So bezichtigen Ijobs Freunde den Aufbegehrenden, seine Schuld nicht zu gestehen. Dabei erkennen sie allerdings nicht, dass sie letztlich gar nicht Gottes Gerechtigkeit verteidigen, sondern bloß ihr Bild, das sie sich von ihrem Gott gemacht haben.
Vergeltungstheorie
Auch unter Jesu Zeitgenossen war jene Straf- und Vergeltungstheorie noch weit verbreitet, derzufolge das Leiden fast immer eine Strafe darstellt. Davon aber distanziert sich Jesus aufs Entschiedenste. Ein diesbezüglich besonders aufschlussreiches Zeugnis findet sich im Lukasevangelium (vgl. Lk 13,1-5): „Zu dieser Zeit kamen einige Leute zu Jesus und berichteten ihm von den Galiläern, die Pilatus beim Opfern umbringen ließ, sodass sich ihr Blut mit dem ihrer Opfertiere vermischte. Da sagte er zu ihnen: Meint ihr, dass nur diese Galiläer Sünder waren, weil das mit ihnen geschehen ist, alle anderen Galiläer aber nicht?" Mit anderen Worten: Wenn der Tod dieser frommen Pilger als Strafe anzusehen wäre, dann müssten alle anderen Sünder und Sünderinnen doch ein ähnliches Schicksal erleiden – was aber offensichtlich nicht zutrifft! Deshalb kann man Schicksalsschläge nicht einfach als Strafe Gottes verstehen. Vielmehr soll das Unheil, mit dem die Menschen konfrontiert werden, für sie ein Anlass zur Umkehr sein.
Diese Ansicht liegt auch der Geschichte vom Blindgeborenen im Johannesevangelium zugrunde: „Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, sodass er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden"
(Joh 9,1-3). Dass der Blindgeborene in einem früheren Leben gesündigt hat, kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil der Glaube an eine Wiedergeburt außerhalb des jüdischen Denkhorizontes lag. Selber kann er, da er ja von Geburt an blind ist, nicht gesündigt haben. Die Jüngerfrage zeigt, in welche Ausweg-
losigkeit man hineingerät, wenn zwischen Schuld und Unglück ein kausaler Zusammenhang hergestellt wird. Jesus entgeht nicht, dass Unschuldige leiden. Warum das so ist, bleibt dunkel. Wenn er darauf hinweist, dass am Blindgeborenen „Gottes Wirken offenbar werden soll", ist damit die Frage nach dem Grund seines Leidens nicht beantwortet; gesagt wird lediglich, dass auch dieses Leiden eine Bedeutung hat in Gottes Heilsplan. Über die Art dieser Bedeutung aber verlautet nichts.
Gelegentlich verstand man im Judentum das Leiden als Läuterung oder Prüfung, eine Auffassung, die später auch von der christlichen Theologie (und vom Koran!) übernommen wurde. Dabei handelt es sich um eine Deutung auf der Grundlage des Glaubens, die aber nur von den Betroffenen selber vorgenommen werden kann.
Wenn Außenstehende gelegentlich genau zu wissen vorgeben, wen Gott warum prüft (oder straft), zeugt das von einer geradezu unerträglichen Arroganz. Praktisch behaupten die ja, Gott so gut zu kennen, als hätten sie schon als Kind mit ihm im Sandkasten gespielt. Manche weisen darauf hin, dass auch Jesus freiwillig und unschuldigerweise gelitten habe. Als ob damit alle Probleme gelöst wären! Kleinkinder, welche miss-handelt, gequält oder umgebracht werden, haben das Vernunftalter ja noch gar nicht erreicht; wie sollten sie fähig sein zu einer bewussten oder freien Annahme solcher ‚Prüfungen’? Sie sind den Tätern ganz einfach ausgeliefert. Und keine noch so harte (oder jenseitige) Bestrafung der Täter vermöchte die unsäglichen Leiden dieser Opfer rückgängig zu machen.
WARUM? WESHALB? WOZU? Es bleibt also, auch und gerade für die Gläubigen, das quälende Warum, ein bohrendes Weshalb und das Wozu. Aus dieser Sackgasse heraus führt vielleicht ein Ansatz, der in der christlichen Theologie immer mehr Zustimmung findet. Die Grundthese dieser Überlegungen: Das Leiden ist der Preis der Liebe. Das mag zunächst unerhört klingen. Aber? Aber wenn Gott den Menschen liebt und auf dessen Gegenliebe wartet, muss er ihn in die Freiheit entlassen; Liebe lässt sich bekanntlich nicht erzwingen. Zu ihrem Wesen gehört, dass sie einem aus freien Stücken entgegengebracht wird. Freiheit wiederum schließt notwendigerweise die Möglichkeit des Missbrauchs mit ein. Der Mensch kann sich Gottes Liebe entziehen und sich ihr verweigern, indem er sein Glück außerhalb der gottgewollten Ordnung sucht, die doch seinem Wohl dienen
soll.
Es sind stets die Menschen, welche Kriege führen, einander foltern, quälen, ausbeuten, erniedrigen und sich gegenseitig vernichten. Und dafür soll nun plötzlich Gott verantwortlich sein?! Dennoch bleiben Fragen: Warum lässt Gott zu, dass Unschuldige den Naturkatastrophen, für die niemand verantwortlich ist, zum Opfer fallen, oder dass sie an den Unmenschlichkeiten anderer zugrunde gehen?
Hier stoßen alle verstandesgemäßen Argumente an ihre Grenzen. Weiterhelfen kann hier einzig die ‚Logik des Glaubens’. Und die setzt da an, wo der Mensch Gott in seinem Gottsein belässt. Dieser Gott ist, wie die jüdische, die christliche und die islamische Überlieferung seit jeher betonen (auch wenn diese Glaubensgewissheit immer wieder verdrängt wurde und wird!), der Deus semper major, der je größere Gott, der seinem Wesen nach „von der Welt verschieden und unaussprechlich erhaben ist über alles, was außer ihm ist und gedacht werden kann" – so das Erste Vatikanische Konzil. Dies wiederum bedeutet, dass Gottes Unbegreiflichkeit ‚wächst’ und nicht etwa abnimmt, je richtiger Gott verstanden wird. Damit ist nicht mehr und nicht weniger gesagt, als dass Gott ein Geheimnis ist und bleibt. Wohl bezeugt die Heilige Schrift als Ganze, dass Gott sich und damit sein ‚Wesen’ dem Menschen kundgetan hat. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass wir etwas verstehen können von Gottes ‚Wesen’; anders wäre jedes Nachdenken über ihn und alles Sprechen von und mit ihm sinnlos. Aber das bedeutet nun gerade nicht, dass der sich offenbarende Gott aus seiner Geheimnishaftigkeit herausgetreten ist. Anders gesagt, das Mysterium Gottes wird durch seine Selbstoffenbarung nicht durch-leuchtet; es wird vielmehr be-leuchtet und so als solches sichtbar. Indem Gott sich dem Menschen erschließt, lüftet er nicht sein Geheimnis, sondern zeigt sich ihm wie er ist, nämlich als das Geheimnis schlechthin. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen dem Glaubenssatz von Gottes Allmacht und der Realität des Leidens, auch und gerade der Unschuldigen.
Gottes Geheimnishaftigkeit wird stets Anlass zu Fragen geben. Und sie wird auch und gerade bei den Gottgläubigen aller Zeiten immer wieder einmal Zweifel provozieren. Ein eindrückliches Zeugnis dafür verdanken wir Walter Dirks, der sich an seinen letzten Besuch bei dem berühmten, bereits todkranken Theologen Romano Guardini erinnert: „Der es erlebte, wird es nicht vergessen, was ihm der alte Mann auf dem Krankenlager anvertraute. Er werde sich im Letzten Gericht nicht nur fragen lassen, sondern auch selbst fragen; er hoffe in Zuversicht, dass ihm dann der Engel die wahre Antwort nicht versagen werde auf die Frage, die ihm kein Buch, auch die Schrift selber nicht, die ihm kein Dogma und kein Lehramt, die ihm keine Theologie, auch die eigene nicht, habe beantworten können: Warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen, die Schuld?"
THEOLOGIE ALS „HINKETANZ"
Dabei versteht es sich von selbst, dass nicht nur alle christliche Rede vom Leiden, sondern auch die Haltung gegenüber den Leidenden sich an Jesus orientieren muss, der das Leiden in keiner Weise erklärt, wohl aber immer und überall bekämpft hat. So wäre es völlig unangemessen, mit dem Rücken zu den Leidenden zu beten; Gläubige beten mit ihnen zu Gott. Und sie belassen es nicht beim Händeringen im Dom, sondern haben eine offene Hand, wenn immer sie den Geprüften begegnen.
Und sie verdrängen nicht einfach alle bedrängenden Fragen, sondern versuchen, sie auszuhalten. Was das praktisch bedeutet, hat Heinz Zahrnt in seinem Buch Gotteswende gezeigt: „Jakobs Kampf mit Jabbok, die Klage des Propheten Jeremia über seine Gottverlassenheit, das Ringen der Syrophönizierin mit Jesus und schließlich Jesu eigener Gebetskampf in Getsemani – darin finden wir uns mit unserer Gotteserfahrung wieder. Denn das gibt es für uns nicht: einen offenen Himmel und einen Prozessionsweg, der geradewegs empor zu Gott führte – Theologie also weder als Himmelsleiter noch als Reigentanz. Wohl aber dies: Ringen mit dem unsichtbaren Gott und seiner gewiss sein, ohne ihn je zu Gesicht bekommen zu haben; staunen darüber, noch einmal davongekommen und am Leben geblieben zu sein; die Welt durchschauen und dennoch weiterleben; nichts wissen und doch gewiss sein; Glaube als Licht im Dunkel und Theologie als Hinketanz, als Lebensgeschichte vor dem verhüllten Antlitz Gottes."
DEM UNBEGREIFLICHEN VERTRAUEN
Damit ist einmal mehr die Unmöglichkeit jeder ‚Erklärung’ des Leidens ausgesagt. Jeder diesbezügliche Versuch muss kapitulieren angesichts der Tatsache, dass immer wieder Menschen die furchtbaren Folgen fremder Schuld zu tragen haben. Es gibt keine rein rationale Antwort auf die theologischen Fragen, welche das Leiden der Unschuldigen provoziert. Keine
Theologie vermag die Rede von Gottes Allmacht mit dem Glauben an seine Güte und Gerechtigkeit nahtlos zu versöhnen. Die Spannung bleibt. Auszuhalten ist sie nur im Gedanken an die absolute Geheimnishaftigkeit Gottes. Und möglicherweise auch in der Erinnerung daran, dass der Glaube an diesen unbegreiflichen Gott, an dem wir vielleicht manchmal schwer tragen, sich in vergangenen Zeiten und in schwierigen Situationen schon einmal als tragend erwiesen hat. Damit bleibt die Hoffnung, dass dieser Glaube auch weiterhin zu tragen vermöge. So gesehen äußert sich das Bekenntnis zu Gottes Allmacht letztlich eben doch in jenem Grund- und Gottvertrauen, zu dem Luther seinerzeit das „sächsische Bäuerlein" ermunterte. Der Sache nach gleich, nur mit anderen Worten, hat sich der Reformator bezüglich der göttlichen Allmacht auch in seiner Deutschen Messe (1526) geäußert: „Was heyst an Gott den vater almechtigen glauben? Es heyst, wenn das hertze yhm ganz vertrawet und sich aller gnaden, gunst, hulffe vnd trost zu yhm gewislich versihet zeytlich und ewiglich." Besser könnte das ein katholischer Theologe auch nicht sagen.