Steinerne Schandmäuler
Rom, anno Domini 1501. Kardinal Oliviero Carafa hat der römischen Adelsfamilie der Orsini einen Palazzo abgekauft. Bei Restaurierungsarbeiten kommt auf dem Vorplatz ein marmorner Torso zum Vorschein. Der Kardinal platziert ihn an der Ecke seines Palastes.
Am 25. April zog, wie jedes Jahr seit Ende des 15. Jahrhunderts, eine Prozession am Kardinalspalast vorbei. Aus diesem Anlass pflegten nun Studenten lateinische Verse an der Mauer und am Sockel der arg lädierten Statue anzubringen. Ein paar Jahre später mochte irgendein frustrierter Zeitgenosse die Festivitäten nicht mehr abwarten und heftete ein boshaftes Epigramm an die Statue, in welchem er stadtbekannte Missstände wie Privilegienwirtschaft und Pfründenjägerei beim Namen nannte. Natürlich fand er sofort Nachahmer.
Allwissendes Lästermaul. Einem zeitgenössischen Chronisten zufolge soll in dieser Gegend damals ein Schneider namens Pasquino gewohnt haben, der für sein loses Mundwerk bekannt war. Angeblich hat dieser Mann der Statue zu ihrem Namen verholfen. Klebte wieder einmal ein besonders bissiger Spruch an der Figur, hieß es fortan: Die Statue lästert wie Pasquino! Was schließlich dazu führte, dass der Torso selber zum Pasquino wurde. Pasquino hörte alles, sah alles, wusste alles - und kommentierte alles. Immer mehr wurde er dabei zum Sprachrohr des popolino, der kleinen Leute, welche der Ausbeutung und Abzockerei durch die Mächtigen hilflos ausgeliefert waren.
Bei der offensichtlichen Lust der Römer an der Satire versteht es sich von selbst, dass sich Pasquino bald ein paar Mitstreiter und schließlich gar eine Mitkämpferin zugesellten. Pasquinos Primat allerdings stand nie zur Diskussion.
Der zweite Platz unter den “sprechenden Statuen“ gebührt dem Abate Luigi an der linken Außenmauer der Kirche Sant’Andrea della Valle. Vermutlich stellte die Figur einen römischen Senator dar. Gefunden wurde sie in der Nähe ihres jetzigen Standortes. In dieser Gegend wohnte damals ein Priester namens Luigi, dessen Gestalt etwas unproportioniert wirkte, was die Spaßmacher dazu verleitete, das Standbild nach ihm zu benennen. In den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts verlor der Abate zum ersten Mal den Kopf. 1966 widerfuhr ihm nochmals das gleiche Schicksal. Vandalen (oder Souvenirjäger?) enthaupteten das Standbild abermals und entkamen mit ihrer Beute. Der jetzige Schopf stammt aus den kommunalen Altertumsbeständen.
Scharfzüngige Mitstreiter. Häufig pflegten die sprechenden Statuen miteinander in Kontakt zu treten. Pasquinos bevorzugter Gesprächspartner befindet sich auf dem Kapitol, im Hof des Palazzo Nuovo. Dabei handelt es sich um die Kolossalstatue einer ruhenden Flussgottheit, deren Identität ebenso dunkel ist wie der Name, den die Römer ihr verpassten: Marforio. Auf die ihm angehefteten Zettel gab spätestens beim übernächsten Morgengrauen Pasquino eine Antwort. So wollte Marforio einmal wissen, warum sein Kollege schmutziger sei als ein Köhlerhemd. Pasquino darauf: “Meine Waschfrau ist leider Prinzessin geworden.“ Das bezog sich auf die Schwester Papst Sixtus’ V., eine einfache Frau aus dem Volk, welche sich allzu sehr im Glanz ihres päpstlichen Bruders sonnte.
Der etwas missgestaltete Abate Luigi wiederum zog es vor, mit einer Dame anzubandeln, die unter dem Namen Madama Lucrezia den Eingang der Kirche San Marco bewacht.
Säufer in Stein. Unweit dieser Kirche, in der Via Lata, sprudelt ein kleiner Brunnen, den eine weitere statua parlante schmückt, nämlich der von den meisten Romtouristen und -pilgerinnen schnöde ignorierte Facchino. In Wirklichkeit jedoch handelt es sich gar nicht um einen Dienstmann, sondern um einen Wasserverkäufer. Manche wollen in ihm ein Bildnis Martin Luthers erkennen. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem berühmten Luther-Porträt von Lucas Cranach lässt sich allenfalls nach dem Genuss von zwei, drei Schoppen Frascati feststellen. Andere wiederum behaupten, dass es sich bei der Figur um einen Lastenträger handle, der im damaligen Rom nicht nur als Dienstmann, sondern auch als Trinker einen zweifelhaften Ruf genoss. Indessen ist nicht einzusehen, was einen Papst veranlasst haben könnte, ausgerechnet einen stadtbekannten Säufer mit einer Porträtbüste zu ehren.
Babuino contra Berlusconi. Der letzten der sprechenden Statuen begegnen wir in der Via del Babuino, welche die Piazza di Spagna mit der Piazza del Popolo verbindet. Auf halber Höhe erblicken wir über einem Brunnenbecken den berühmten Babuino. Eigentlich handelt es sich um einen Silen. Die Römer indessen, nur vage vertraut mit den Fabelwesen der griechischen Mythologie, glaubten in der Gestalt einen Pavian zu erkennen; so wurde der Silen zum Babuino. Der spanische Kardinal Deza, der gegen Ende des 16. Jahrhunderts in dieser Gegend wohnte, lüftete stets seinen Hut, wenn er an der Statue vorbeiging. Von Natur aus kurzsichtig meinte er, es handle sich um ein Standbild des von ihm verehrten Kirchenlehrers und Bibelübersetzers Hieronymus.
Mit dem Untergang des Kirchenstaates im Jahre 1870 sind Pasquino und seine Mitstreiter schweigsamer geworden. Einer nach dem andern haben sie ihre Rollen an die Karikaturisten der Tageszeitungen abgetreten. Aber noch scheinen sie auf ihre früheren Aktivitäten nicht gänzlich verzichten zu wollen. Pasquino und der Babuino sind nach wie vor aktiv und scheuen sich nicht, Berlusconi als Mogler und Marktschreier zu titulieren. Aber was vermögen die beiden schon gegen einen Medienzaren!