„Ich will leren wege und stege“

30. Juni 2006 | von

Reiseführer gab es schon im Mittelalter. Der erste in deutscher Sprache, beschreibt den Pilgerweg vom schweizerischen Einsiedeln nach Santiago de Compostela, und ist sogar in Versform verfasst. Seinen Lesern gibt der Autor nützliche Reisetipps mit auf den Weg.

„Ich, Hermann Künig von Vach, will mit Gottes Hilfe ein Büchlein machen, das Sankt Jakobs Straße heißen soll. Darin will ich Wege und Stege beschreiben, und wie sie sich jeder Jakobsbruder mit Essen und Trinken versorgen soll. Auch will ich darin mancherlei Gemeinheiten der Kapaune nicht unerwähnt lassen und ansprechende Belehrung geben, wovor alle sich in Acht nehmen sollen.“ Mit diesen Sätzen wird der älteste in mittelhochdeutscher Sprache erhaltene Pilgerführer eingeleitet, mittels dessen die Wallfahrenden wohlbehalten nach Santiago gelangen sollen. Dass bis zur Erreichung des Ziels mancherlei Gefahren zu bestehen waren, deutet der Verfasser gleich zu Beginn an, wenn er vor den „Kapaunen“ (im Sinn von ‚Entmannten’) warnt. Dieser nicht gerade schmeichelhafte Ausdruck erklärt sich daraus, dass manche Herbergs- und Spitalwirte gleichzeitig ein kirchliches Amt innehatten und dennoch nicht zögerten, ihre Gäste nach Strich und Faden zu betrügen. Obwohl der Verfasser vorwiegend auf das leibliche Wohl der Reisenden bedacht ist, behält er immer auch die spirituellen Früchte der Pilgerfahrt im Auge: „Zunächst, wenn du aufbrechen willst, sollst du Gott um seine Hilfe bitten, danach Maria, die Gnadenreiche, damit sie beide bereit sind, dich unbeschwert dorthin zu bringen, wo du Sankt Jakob mit Andacht finden mögest.“

Geistlicher Reiseberater. Dass Maria eigens erwähnt wird, verwundert nicht. Denn am Schluss seines Büchleins outet sich Hermann Künig  als „mergenknecht“ (Marienknecht). Das heißt, er gehörte dem Servitenorden an, der auch unter der Bezeichnung „Diener Marias“ bekannt ist.
Obwohl geistlichen Standes, verfügte der Verfasser auch in profanen Dingen über ein gerütteltes Maß an praktischem Verstand. So warnt er die Wallfahrenden vor schlechten Unterkünften und gibt Hinweise auf gastfreundliche Wirte: „Auf Nazera (Nájera) kannst du dich freuen, dort gibt man dir gern Almosen um Gottes willen. In den Spitälern ist man dir gern zu Diensten, ausgenommen im Spital des heiligen Jakobus. Da ist das Personal durchweg bösartig. Die Spitalfrau tut den Pilgern viele Gemeinheiten an, aber die Betten sind sehr gut.“ Neben derartigen Hinweisen auf gute und günstige Herbergen finden sich auch Warnungen vor geizigen Schankwirten, Ratschläge im Hinblick auf die geltenden Geldwährungen oder praktische Hinweise wie etwa die Adresse eines Flickschusters auf halber Wegstrecke. Gelegentlich weist der fromme Servitenpater die Pilgersleute auch auf historische Sehenswürdigkeiten hin. Wenn sie in Burgos ankommen, sollten sie sich unbedingt die Säule ansehen, „an der man den Spitalmeister des Ritterspitals erschossen hat, der 350 Brüder vergiftet hatte.“ Der war weder gehenkt noch geköpft, sondern mit Pfeilen getötet worden. Ähnliches erfahren wir ja heute auch aus Städtebeschreibungen – etwa wenn unser Romführer auf das Geburtshaus der Beatrice Cenci verweist, die zusammen mit ihren Brüdern ihren Vater umgebracht hat.

Flatterhafte Gedenkstätte. Erwähnung finden auch religiöse Gedenkstätten am Weg, wie etwa der Ort, an welchem sich angeblich das legendäre Hühnerwunder ereignete. Die Begebenheit handelt von einem Pilgersmann, welcher mit seinem Sohn nach Santiago de Compostela unterwegs ist. Eines abends rasten die beiden in einer Herberge. Die Tochter der Wirtsleute wirft ein Auge auf den jungen Mann. Genauer noch, sie wirft nicht nur ein Auge auf ihn. Als dieser sie abweist, rächt sie sich, indem sie einen Silberbecher in seinem Reisegepäck versteckt. Am folgenden Morgen lässt sie seine Habseligkeiten durchsuchen, der Becher wird gefunden, der junge Mann des Diebstahls bezichtigt und gefangen gesetzt. Der Vater setzt die Wallfahrt fort und bittet den heiligen Jakobus inständig um die Befreiung seines Sohnes. Der aber wird inzwischen dem Richter zugeführt, verurteilt und gehängt. Auf der Rückreise trifft der Vater den Sohn lebendig an; die heilige Jungfrau und der heilige Jakobus haben ihn vom Galgen heruntergeholt. Als der Vater den Richter von dem Wunder benachrichtigen will, sitzt der gerade beim Mittagsmahl. Nachdem er sich die ganze Geschichte angehört hat, ruft er aus: „Dein Sohn ist gerade so lebendig wie die Hühner dort am Spieß.“ Kaum sind diese Worte gesprochen, flattern die Hühner davon. Dieses Wunder soll sich im Jahre 1020 in Toulouse ereignet haben.

Ratsame Reime. Spätere Überlieferungen verlegen dieses wundersame Ereignis dann nach Santa Domingo de la Calzada. Dort, so der Verfasser der Jakobstraße, habe er selber „das Loch gesehen, aus dem ein Huhn nach dem anderen weggeflogen ist, und auch den Herd, auf dem sie gebraten wurden“. Wenn schon ein Loch und ein Herd gezeigt werden, spricht das offenbar dafür, dass sich an diesem Ort Seltsames ereignet hat.
Entstanden ist die erste deutsche Beschreibung des Jakobswegs 1495 in Vach an der Werra (nordöstlich von Fulda). Noch im selben Jahr erschien sie im Druck.
Und zwar hat sich der Verfasser auch noch die Mühe gemacht, seine praktischen Ratschläge und geistlichen Ermahnungen in Form von Reimen vorzulegen. Wobei seine Verse noch um einiges holpriger sind, als die Wege, die damals von Deutschland nach Santiago führten.
Inzwischen liegt eine Faksimileausgabe des ältesten deutschen Pilgerführers nach Santiago mit einer Übersetzung in modernes Deutsch vor (mit Photographien von Gerhard Weiß): Klaus Herbers und Robert Plötz, Die Straß zu Sankt Jakob, Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern 2004, 128 Seiten.


 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016