Die Muttersprache Europas

31. Mai 2006


Was wird aus den christlichen Werten bei einem Europa im Wandel? Dieser Frage geht der Generalvikar des Bistums Würzburg in einer längeren Studie nach. In seiner Einführung bietet er eine für uns Christen atemberaubende geschichtliche Übersicht zur „Idee Europa“. Fortsetzungen folgen.

Jeder von uns kennt Sätze, die sich unauslöschlich einprägen. Für mich gehört zu ihnen der Wunsch, den Papst Johannes Paul II. äußerte: Dass Europa wieder „mit beiden Lungen atmen“ und „seine Muttersprache, das Christentum“, neu lernen möge („Europas Muttersprache ist das Christentum“, Ansprache zum Abschluss des vorsynodalen Symposiums europäischer Wissenschaftler im Vatikan am 31. Oktober 1991). Mit den beiden Lungen waren das westliche und das östliche Europa gemeint. Nach der politischen Wende sah der Papst die epochale Chance eines neuen Zusammenwachsens von einer posttotalitären in eine freiheitliche Zukunft gegeben, die ihr Ziel nicht bloß in einer wirtschaftlich-technischen, sondern in einer vertieften religiös-kulturellen Entwicklung sucht. Die Wirtschaftsgemeinschaft sollte zur Wertegemeinschaft zusammenwachsen.

Woher kommen wir? Blickt man auf die seither vergangenen Jahre, macht sich zunächst Ernüchterung breit. Hier gehe ich von einer Forderung aus, die nach den gescheiterten Referenden zum europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden in der letzten Zeit von vielen Politikern geäußert wurde: Europa braucht eine Denkpause, in der die Debatte über die Zukunft des europäischen Projekts von verschiedenen Seiten her neu angestoßen wird. Hierzu müssen gerade wir Christen unseren Beitrag leisten.
Eine solche Diskussion über die Zukunft Europas ist jedoch nur sinnvoll, wenn sie mit einer Standortbestimmung der Gegenwart verbunden ist und darüber hinaus nach der Herkunft fragt. Ich möchte deshalb mein Nachdenken über Europa und meine Vorstellungen über die damit verbundene christliche Werteperspektive ganz einfach an drei Fragen ausrichten: Woher kommen wir – wofür stehen wir – wohin gehen wir?

Drei Hügel. Als Theodor Heuss, der erste deutsche Bundespräsident (1949-1959), in den fünfziger Jahren gefragt wurde, was Europa ausmache, gab er zur Antwort: Europa baut auf drei Hügeln: Dem Areopag (für das griechische Denken von der Demokratie), dem Capitol (für das römische Denken von der „res publica“) und Golgota (für die christliche Auffassung von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde). Diese Formulierung ist sicher differenzierungsbedürftig, macht aber eines deutlich: Europa ist nicht in erster Linie geographisch, sondern geschichtlich zu definieren, von seiner Entwicklung als Ideenraum und kulturelle Größe.
Rein geographisch ist Europa eher ein Anhängsel des großen Nachbarkontinents Asien. Schon der Versuch einer Umschreibung von Charles de Gaulle, Europa reiche vom Atlantik bis zum Ural, wirkt merkwürdig unbestimmt und inhaltsleer. Um eine verlässliche Sicht der Genese Europas zu gewinnen, muss man auf die äußere Entwicklung, auf das kontinuierliche innere Wachsen und auf die Brüche in diesem geschichtlichen Prozess gleichermaßen schauen.

Äußere Entwicklung. Für die Begegnung und Entfaltung von Menschen und Völkern waren die Bedingungen in Europa von Anfang an günstig. Es gab keine extremen Klimaunterschiede und auch keine ausgedehnten Wüsten und Steppen. Kaum ein anderer Teil der Erde besaß eine so lange Küstenstrecke und stand mit dem Meer in so enger Verbindung. Die Bevölkerungsdichte war immer hoch, was unter den Menschen Austausch, Handel und arbeitsteilige Kooperation erleichterte. Eine Fülle von Völkern lebte auf relativ engem Raum beieinander. Diese Nähe provozierte zwar häufig kriegerische Auseinandersetzungen, trug aber auch zum Wachsen von Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur bei.
Dabei haben sich die politischen Gewichte immer wieder verschoben: Zunächst hatte sich mit dem Entstehen der hellenistischen Staaten und dem Imperium Romanum ein Siedlungsraum gebildet, der zur Grundlage des späteren Europa wurde, aber ganz andere Grenzen aufwies als später – er wurde geprägt von den Ländern um das Mittelmeer. Durch den Siegeszug des Islam im 7. und 8. Jahrhundert verschob sich der Schwerpunkt nach Norden: Der Limes verschwindet als Grenze. Es bildet sich ein neuer Geschichtsraum, der Gallien, Germanien, Britannien umgreift und sich bis nach Skandinavien ausstreckt. Eine zweite Verschiebung ergibt sich im Osten durch die Verlagerung des Regierungszentrums von Rom nach Byzanz unter Kaiser Konstantin ab dem 4. Jahrhundert. Byzanz verstand sich als das neue Rom und dehnte sich weit in die slawische Welt hinein aus.

Ideelle Kontinuität. Beide geographischen Verschiebungen waren jedoch von einer ideellen Kontinuität getragen: Man sah jeweils dieses sich verlagernde Völker- und Staatengebilde als das fortbestehende Römische Reich an, das sich zwar in seinen Grenzen verschoben hatte, aber in seiner geschichtstheologischen Idee bewahrt worden war. Hier zeigt sich bereits überdeutlich, dass die Idee Europa aus einer geschichtlich-kulturellen Identifizierung und nicht in erster Linie durch geographische Gegebenheiten definiert wird. Es gab zwar Unterschiede in Sprache, Schrift und Kirchenverfassung, aber doch das gemeinsame Grundverständnis von Glaube und Rechtsvorstellungen.
Wie wichtig diese Kontinuität in der Idee war, zeigt sich nach dem Zerbrechen der alten Ordnungen: Nach dem Fall von Konstantinopel 1453 erklärt sich Moskau zum Hüter des byzantinischen Erbes und proklamiert sich als „drittes Rom“. Nach der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts zerfällt zwar der westliche Teil Europas in eine lateinisch-katholische und eine germanisch-protestantische Hälfte; wie wichtig aber der Gedanke einer Kontinuität des Römischen Reiches war, zeigt der Umstand, dass es formal noch bis 1806 bestand und dass schon vorher der Schwedenkönig Gustav Adolf im Dreißigjährigen Krieg allen Ernstes daran dachte, sich in Rom zum Kaiser krönen zu lassen und damit seine neue Vormachtstellung von der alten europäischen Reichsidee her zu legitimieren.

Rivalisierende Nationalstaaten. Erst im 19. Jahrhundert wird die alte Reichsidee – nicht zuletzt im Gefolge des Umbruchs, den die Französische Revolution markiert – durch Nationalstaaten abgelöst, die ihrerseits ein Sendungsbewusstsein entwickeln und oft darin rivalisieren, was wiederum den Keim zu den großen kriegerischen Konflikten legte, deren zerstörerisches Ausmaß wir im letzten Jahrhundert leidvoll erfahren haben. Nach dem Zusammenbruch erfolgte dann eine Neubesinnung auf die europäische Idee und die sie tragenden Werte. Die Rivalität von Nationalstaaten sollte in ein friedvolles Miteinander eingebunden werden.
Allein in diesem geschichtlichen „Schnelldurchlauf“ von der Außenwahrnehmung her zeigt sich, dass Europa ein Kontinent mit gegenseitigen Abhängigkeiten, also eine Schicksalsgemeinschaft ist. Wie sieht die innere Entwicklung aus? Darüber wird im nächsten Beitrag zu sprechen sein.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016