Das Netz der Liebe
Versöhnung schafft Frieden, Versöhnung rettet Beziehungen, Versöhnung schenkt neues Leben. Wie wichtig dieses menschliche Grundhaltung ist, macht folgende Erzählung von Willi Hoffsümmer (4. Band der Kurzgeschichten-Sammlung) anschaulich:
In einem Fischerdorf ist es ungeschriebenes Gesetz, dass eine Frau, die beim Ehebruch ertappt wird, von einem hohen Felsen gestürzt werden muss. Wieder einmal verurteilen die Ältesten des Dorfes eine Frau, die mit einem Matrosen die Ehe gebrochen hat. Doch in der Nacht steigt der betrogene Ehemann in die Felswand und spannt ein Netz aus starken Seilen über den Abgrund, das er mit Gras, Stroh und Kissen ausstopft. Am anderen Morgen wird das Urteil vollstreck, aber die Frau stürzt in das Netz der Liebe ihres Mannes. In ihrer Unentschlossenheit rufen die Dorfbewohner die Marktgräfin an, die der Frau ihr eigenes Haarnetz schenkt, zum Zeichen dafür, dass die Liebe des Fischers ihre Schuld aufgefangen hat.
Das Zeichen, dem wir in dieser Erzählung gleich zweimal begegnen, ist das Netz. Darin wird man aufgefangen, gehalten, wenn man in die Tiefe zu stürzen droht, wenn man fällt. Es ist nicht das Fangnetz des Todes, wie bei den Spinnen, es ist das Fangnetz der verzeihenden Liebe.
Gestörte Beziehungen. Vergeben, verzeihen, sich versöhnen lassen hat aber immer etwas mit dem Mitmensch, mit unserer Beziehung zu tun. Und diese Beziehungen fallen uns Menschen oft so schwer.
Wenn sich zwei Menschen, zwei Gruppen auseinander gestritten haben, wenn es einen Krach gegeben hat, wenn ich verletzt worden bin, wenn ich eine Beleidigung erlebt habe, wenn ich eine Schuld auf Kosten anderer auf mich geladen habe, dann leide ich, dann ist mir nicht mehr wohl in der eigenen Haut, dann fühle ich mich schuldig. Gestörte Beziehungen zu einem anderen Mensch, den ich vielleicht gut leiden kann und eigentlich gern habe, stören unser Leben stark, sie machen es unmenschlich, sie belasten.
Da braucht es eine Art Netz, das mich auffängt, das mich nicht hängen lässt, damit ich nicht noch tiefer stürze. Dieses Netz heißt Vergebung. Und Vergeben kommt von geben. Es hat auch etwas zu tun mit zugeben. Das ist wohl immer der erste Schritt zum Neubeginn, die ganz persönliche Einsicht, dass es mir mies geht, dass ich leide, dass etwas nicht in Ordnung ist. Erst dieses Eingeständnis ermöglicht es, dass mir etwas gegeben werden kann. Und was mir gegeben wird, ist meistens der innere Frieden, Ausgeglichenheit, Harmonie, Lebensfreude.
Vergebung befreit. Wenn ich Vergebung erfahre, wenn mir jemand meine Schuld wegnimmt, mir zugesteht, dass er mich mag, dass er mir nichts nachträgt, dass er die Verletzung, die ich ihm zugefügt habe, nicht für immer im Herzen behält und er sich nicht an mir rächen will, dann kann ich wieder aufatmen, erleichtert sein, richtig leben, da wird mir das Leben ein Stück weit neu gegeben. Damit unser Leben sich entfalten kann und menschlich wird, brauchen wir Vergebung. Vergebung befreit innerlich und eröffnet neue Lebenschancen, Vergebung ermöglicht immer einen Neuanfang. Vergebung ist ein anderer Name für Liebe.
In unserer Erzählung hat der Fischer aus Liebe zu seiner Frau die große Mühe auf sich genommen, für sie ein Auffangnetz zu basteln. Die Liebe, die verzeihende Liebe ihres Mannes hat der Frau das Leben gerettet, neu geschenkt.
Tief verletzt. Das klingt alles seht schön und gut. Aber wie ist es uns zu Mute, wenn uns jemand ganz tief beleidigt, verletzt hat, wenn er uns verleumdet, schlecht gemacht oder sogar betrogen hat? Es ist schwer, dem andern spontan zu vergeben, wenn er einen innerlich ganz tief getroffen hat. Solche Verletzungen kann der Mensch nicht einfach vergessen, sie prägen sich seinem Herzen ein, sie werden zum Teil seines Lebens. Damit muss er lernen umzugehen, er muss lernen zu vergeben, sich mit dem Leben und den Menschen zu versöhnen. Versöhnung aber ist ein Prozess, kann lange dauern, sie ist eine Art Kur, eine heilende Kur, die befreiend und erlösend wirkt, aber ihre Zeit braucht. Diesen Heilungsprozess wirken lassen, die Versöhnung geschehen lassen, offen sein für einen Neuanfang, das ist gefragt, damit der ganze Mensch gesunden kann.
Und mein Anteil? Wunden heilen nach und nach, es braucht meistens viel Zeit. Es braucht oft Monate, Jahre, Jahrzehnte, bis zum Beispiel alte Erbgeschichten überwunden werden können. Gerade in Geldfragen sind wir Menschen ja besonders verletzbar, als ob Geld uns Glück und Harmonie bringen könnte. Zur Entschuldigung sprechen wir dann von Gerechtigkeit, tatsächlich ist es versteckte Habgier, die uns so böse werden lässt, die uns streiten lässt und unnachgiebig, unversöhnlich macht.
Dann müssen wir Einkehr halten, ruhig werden und überlegen, was dahinter stecken könnte. Nie dürfen wir die Augen vor der eigenen Verantwortung in den Beziehungsfragen schließen. Welches ist mein Anteil an dieser Situation, das ist die Frage, die es ehrlich zu beantworten gilt.
Wie du mir, so ich dir. Hat uns nicht Jesus mit der Gleichnisrede vom Balken im eigenen und dem Splitter im Auge des Bruders auf diese Haltung hingewiesen, zuerst in sich zu schauen, auch an die eigenen Fehler, die eigenen Grenzen zu denken, bevor man anfängt, über andere zu richten, sie zu verurteilen und sich innerlich zu verhärten? Wenn ich mich verhärte, nicht auch mich selber in Frage stelle ,und die Schuld nur bei den andern suche, dann ist Versöhnung kaum möglich.
Wie sagt doch der schöne Satz in der Bibel, der in fast allen Religionen der Welt irgendwie vorkommt. „Behandle den andern so, wie du willst, dass er Dich behandle(Mt 7,12).
Wie möchte ich denn, dass der andere mir begegnet, wenn ich ihn verletzt habe? Wenn ich dies bedenke, kommt mir die Einsicht: Wäre es nicht besser, wenn ich ihm eine neue Chance ermöglichen, ihm durch Vergebung zu neuem Leben verhelfen würde?
Der barmherzige Vater. Das aber ist nur dann möglich, wenn ich selber erfahren habe, was Vergebung heißt, dass Versöhnung möglich ist. Es ist also nur möglich, wenn ich darum weiß, dass mich in meinen Grenzen und Schwächen, mit meinen Fehlern und Eigenheiten jemand annimmt, bejaht und mir immer wieder verzeiht. Einerseits muss ich das erfahren als Mensch, in meiner Familie, in meiner Umgebung. Andererseits spielt da unsere Religion eine eminent wichtige Rolle.
Die Erfahrung der Versöhnung können wir meiner Überzeugung nach ganz sicher machen mit Gott, mit dem Gott, den uns Jesus gezeigt hat, diesem Gott, der verzeiht, der uns gut gesinnt ist, der uns nie allein lässt, der uns im Leben immer wieder eine neue Chance gibt. Es genügt, das Lukasevangelium zu lesen. Da finden wir zum Beispiel im 15. Kapitel die Erzählung vom barmherzigen Vater, der immer den ersten Schritt tut, der sowohl dem jüngeren Sohn entgegen geht, als auch das Haus verlässt, um dem älteren Sohn zu erklären, warum er so handeln musste. Und er stellt keine Fragen, dieser barmherzige Vater, er macht dem Sohn keine Vorwürfe und verlangt kein Geld zurück von seinem Erbe. Dieses Bild eines unendlich großzügigen, verzeihenden Gottes ist etwas vom Tiefsten und Schönsten, das wir in unserem Glauben haben, die absolute Sicherheit, dass Gott uns seine Versöhnung immer wieder anbietet.
Aufgabe Versöhnung. Es geht noch weiter. Der christliche Glaube sagt uns, dass Jesus durch sein Leben und Sterben die Versöhnung zwischen den Menschen und Gott ermöglicht hat. Seit Jesus ist also Versöhnung möglich, nein, sie ist eine Aufgabe all jener, die den Namen Christen tragen. Denn wenn Gott uns Versöhnung schenkt, warum können wir sie nicht weitergeben? Sind wir denn nicht alle gleich vor Gott? Sind wir nicht alle seine Geschöpfe? Ja sogar einander Schwester und Bruder? Macht er denn Ausnahmen und bietet Versöhnung nur Einzelnen an? Etwa nur den Guten? Nein, er lässt es regnen über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte geht seine Sonne auf, an alle Menschen ist seine Versöhnung gerichtet. Wir haben kein Recht, solche Einteilungen zu machen und die Menschen in Schurken und Gute zu trennen. Wo ich jemandem mit Vorurteilen begegne, ihn abstemple und ihn an den Rand stelle, da ist Versöhnung schon in Frage gestellt und schwer möglich. Nur wenn ich im Mitmenschen das Abbild Gottes sehe, kann ich ihm voll verzeihen und in unbelastete Beziehung zu ihm treten.
Wie das Wunder wirken? „Man sieht nur mit dem Herzen gut, sagt Antoine de Saint-Exupéry in seiner Erzählung „Der kleine Prinz. Schau ich den andern mit den Augen der Güte an, oder aber mit Abstand und Verachtung, aus Distanz? Das ist die Frage. Ohne eine gute Gesinnung, eine positive Einstellung zum Mitmensch wird es schwer sein, zu vergeben, einen Neuanfang zu ermöglichen, Versöhnung zu schenken.
Nur wer mit dem Herzen sieht, wer mit dem Auge, mit der Gesinnung Jesu an den Mitmenschen herangeht, wer ihm also mit Zuwendung, Zuneigung Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit begegnet, der kann das Netz der Liebe knüpfen, ihn auffangen und vor dem Fall in den Hass, in die Vereinsamung und die Resignation schützen. Wer von innen heraus eine gute Gesinnung hat, der bewirkt das Wunder der Versöhnung.
Chance für Neuanfang. „Behandelt den andern so, wie ihr wollt, dass er euch behandle. Wenn wir das versuchen, werden wir irgendwie spüren, dass die Menschen ins Netz der Liebe fallen. Dann können wir die Fäden unseres Handelns zu einem tragenden Netz knüpfen, das von Menschen Verletzte und Schuldiggewordene auffängt und ihnen einen Neuanfang ermöglicht. Diese Chance des Neuanfangs ist in jedem Zusammenleben wichtig, sei es in der Familie, in einer Gemeinschaft oder auch in einer Pfarrgemeinde. Gerade in der Zusammenarbeit innerhalb einer Pfarrei gibt es oft tiefe Verletzungen, meistens sogar ungewollt. Da ziehen sich Einzelne, oft sehr wertvolle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurück, brechen die Beziehung zu den andern ab und wenden sich verbittert ab. Oft fehlt die Kraft, den ersten Schritt zu tun. Dem „faulen Frieden zuliebe vermeidet man das klärende Gespräch, das zu einer Verständigung und zur Versöhnung führen könnte. Versöhnung aber hebt die Lebensqualität und schafft Vertrauen. Dadurch werden wir mit der Zeit fähig, den andern auch in seiner Andersartigkeit und Einmaligkeit anzunehmen und gelten zu lassen, wie uns Gott annimmt und uns diesen Neuanfang immer wieder schenkt.
Damit Leben gelingt. Als ein frisch gebackener Gemeindeleiter sich einmal große Sorgen machte, was er in seiner ersten Hochzeitspredigt dem jungen Paar Wichtiges auf den Weg mitgeben könnte, vertraute er sich seiner Großmutter an. Diese sagte spontan zu ihm: Ach, sag ihnen doch einfach, sie sollen einander immer wieder verzeihen und sich aussöhnen, dann wird ihr Leben gelingen.
Wenn wir uns alle diesen Ratschlag zu Herzen nehmen würden, ja, dann würde die Welt anders aussehen. Aber es geht nicht darum, dass wir die Welt verändern, es geht darum, dass wir diese Überzeugung leben. Alles andere liegt nicht in unserer Kompetenz. Wo wir diese Grundhaltung leben, werden unsere Beziehungen ehrlicher, offener, menschlicher, wir strahlen aus. Da wir selber diese Versöhnung immer wieder erfahren, im Sakrament der Buße, im Gottesdienst, im Gebet, können wir sie auch weitergeben. Dann werden wir das Vaterunser auch ehrlich beten können, und erwarten nicht, dass nur andere uns vergeben. Wir sind verantwortlich für unsere Haltung der Versöhnung und des Verzeihens. Wir können den ersten Schritt tun.
Gebot der Liebe. Wir sind darüber erstaunt, dass zwischen gewissen Völkergruppen wie auf dem Balkan, in Burundi und Ruanda oder in Palästina kein dauerhafter Friede möglich ist. Und wir sind erstaunt, dass wir uns unter Christen nicht verstehen, geschweige denn unter den verschiedenen Religionen. Wo wir das Prinzip der Rache, das Prinzip „Aug‘ um Aug‘, Zahn um Zahn nicht durchbrechen, wird es nie zur Aussöhnung kommen. Jeder Fundamentalismus, jede Extremhaltung stellt sich selbst und ihre äußeren Gesetze und Normen in die Mitte und nicht den Menschen. Wo wir aber die Haltung Jesu, seine Botschaft der Liebe und der Versöhnung leben, da ist Versöhnung möglich. Jesus hat die Regel „Aug‘ um Aug‘, Zahn um Zahn außer Kraft gesetzt und sie ersetzt durch das Gebot der vergebenden Liebe. „Ich aber sage euch: Wehrt euch nicht gegen den Bösen, wer dich auf die rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin (Mt 5, 38 ff). Er hat immer den Menschen, nicht das Gesetz, nicht die Religion und deren Vorschriften als Maßstab genommen. So schuf er die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen und zeigte uns einen Weg zur Versöhnung unter den Menschen. Wo wir am Netz der Liebe knüpfen, da ist Versöhnung möglich, da verhelfen wir dem Leben zum Blühen, da geben wir dem Leben ein bisschen mehr Qualität.
Versöhnung macht mutig
Sie stiftet Frieden
Sie macht einsichtig für den eigenen Anteil an Schuld
Sie öffnet den Blick für die Wirklichkeit
Sie bewahrt vor falscher Parteilichkeit
Sie bewahrt vor ungerechtem Urteil
Sie gibt nicht auf, auch wenn der andere die Hand zurückweist
Sie lässt uns wachsen an der Gesinnung Jesu,
der kam, nicht um Recht zu haben, sondern um Recht zu schaffen
und die Menschen für immer mit Gott zu versöhnen.
Verfasser unbekannt