Diaspora mit großer christlicher Tradition
Als Minderheit in einem muslimischen Land haben Christen in der Türkei mit vielen Vorurteilen und Problemen zu kämpfen. Wie sieht ihr Leben aus – und wie ihre Zukunft? Antwort auf diese Fragen gibt unser, für dieses Thema kompetente, Gastautor Bischof Luigi Padovese: Der italienische Kapuzinerpater ist seit November 2004 Apostolischer Vikar für Anatolien und lehrte viele Jahre Kirchengeschichte und Archäologie in Rom.
Türkei – das weckt Assoziationen an sonnige Strände in Antalya, erinnert an das faszinierende Istanbul und lässt uns an die Kontroverse um den geplanten EU-Beitritt dieses Landes denken. Nur selten ist die Rede von den nahezu eineinhalbtausend Jahren christlicher Geschichte Kleinasiens. Sie hat ihren Schwerpunkt in frühchristlicher Zeit und endet mit dem Fall des byzantinischen Reiches durch die osmanische Eroberung Konstantinopels am 29. Mai 1453.
Touristen stoßen in der Türkei vor allem auf die griechisch-klassische Zeit, etwa im westlich gelegenen Ephesus. Doch gerade hier hat die Urkirche Gestalt angenommen, hier tat sie die ersten entscheidenden Schritte ihrer zukünftigen Entwicklung. Hier begegnete die Kirche ‚der Welt’, übernahm oder verwarf sie. Die Türkei war der privilegierte „Ort der Inkarnation“ der christlichen Gemeinde. Die Namen dieser Orte sind uns teilweise aus der Bibel geläufig: Antiochia, Tarsus, Ephesus, Smyrna, Kolossä, Laodicea, Ikonion, Lystra, Troas, Milet, Galatia, Nizäa, Konstantinopel, Chalkedon.
Land der Urchristen. Im Jahr 37 werden die Hellenisten aus Jerusalem vertrieben und missionieren Antiochia (Apg 11,19-21), nach Rom und Alexandria die drittgrößte Stadt des römischen Reiches. Von hier werden Paulus und Barnabas als die ersten Heidenmissionare ausgesandt (Apg 13). Damaskus hatte bereits eine christliche Gemeinde, als sich Paulus im Jahr 38 bekehrte. Das an der Seidenstraße gelegene Edessa (heute das türkische Sanliurfa) wurde früh vom Christentum erreicht, wie die Aberkios-Grabinschrift (vor 200) belegt.
In diesem wirtschaftlich blühenden und bevölkerungsreichsten Gebiet des römischen Reiches ging der Handel mit materiellen Gütern Hand in Hand mit dem Austausch von Gedanken und religiösen Überzeugungen. Es bildete sich ein politischer Kosmopolitismus heraus und ein religiöser Synkretismus. In den Handelszentren gab es immer auch eine jüdische Präsenz, ein Vorteil für die Ausbreitung des Urchristentums.
Die Paulusbriefe erwähnen christliche Gemeinden in Ephesus, Kolossä, Herapolis, Laodizea und Galatia. Der Schreiber der Offenbarung richtet sich an die sieben Kirchen von Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodicea, alle in Kleinasien gelegen. Jahre später schreibt Ignatius von Antiochia an die christlichen Gemeinden in Ephesus, Magnesia, Tralli, Philadelphia und Smyrna. Ephesus wird im ersten Jahrhundert die „kulturelle Hauptstadt“ der neuen Religion, in Konfrontation und Austausch mit dem griechisch-römischen Denken. In diesem Dialog der Religionen und Kulturen schälte sich die eigene Katholizität heraus. Ein Blick auf die Statistik: Ende des ersten Jahrhunderts sind fünfzig Orte mit christlichen Gemeinden bekannt; davon gehören 24 zu dieser Region; im Jahr 180 sind es 57 von 101 Orten.
In den Städten wurde die Handelssprache Griechisch gesprochen, auf dem Land herrschten Volkssprachen und Dialekte vor; sie waren ein Hindernis bei der Annahme der neuen Religion. So konnte der Völkerapostel Paulus die Leute in Lystra nicht verstehen, weil sie Lykaonisch sprachen (Apg 14,11).
Synoden und Konzilien. Nach dem Modell der staatlichen Versammlungen bildete sich der Brauch heraus, Synoden abzuhalten. Sie sollten die Einheit garantieren in der bunten Welt der Kirche des ersten Jahrhunderts. Und nach der Konstantinischen Wende (313) fanden immerhin die ersten acht Ökumenischen Konzilien auf heute türkischem Boden statt: Nizäa I (325), Konstantinopel I (381), Ephesus (431), Chalkedon (451), Konstantinopel II (553), Konstantinopel III (680-681), Nizäa II (787) und Konstantinopel IV (869-870).
Neben Märtyrern (Polykarp von Smyrna, Blasius) schenkten uns die christlichen Gemeinden in Kleinasien große Bischöfe und Theologen: Meliton von Sardes, Irenäus von Lyon (gebürtig aus Smyrna), Nikolaus von Myra, Basilius von Caesarea, Gregor von Nyssa, Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomus, Ephräm der Syrer.
Heute christliche Diaspora. Es stimmt uns traurig, angesichts solch dichter christlicher Vergangenheit, dass sich im letzten Jahrzehnt der christliche Bevölkerungsanteil in der Türkei auf nur noch 0,15 Prozent reduzierte, konzentriert auf Istanbul, Smyrna (Izmir) und Mersin. Noch bedrückender wird es für einen Europäer, der durch Städte und Dörfer reist: Die meisten Kirchen wurden umgewandelt in Museen, Moscheen, Schulen, Bibliotheken oder gar Scheunen.
Noch Ende des 19. Jahrhunderts betreuten wir Kapuziner am Schwarzen Meer acht Kirchen: in Samsun, Trabzon, Inebolu, Sinope, Varna, Burgas, Costanza, Kerasonda und Erzurum. Daneben gab es orthodoxe und armenische Kirchen und Klöster. Geblieben sind uns noch zwei Kirchen, in Samsun und Trabzon, mit knapp zehn Katechumenen und fünf bis sechs getauften Katholiken vor Ort. Die anderen wenigen Christen leben verstreut, ohne geistlichen Beistand. Ich traf auf armenische Christen, die sonntags 50 Kilometer weit fahren nach Samsun, um an einer Messe teilzunehmen. Einige Christen wurden Moslems, um den ständigen Diskriminierungen zu entgehen, halten jedoch in ihrem Herzen den Glauben wach, in den sie durch ihre Familie hineingeboren wurden.
Die Kirchen verschwinden, die Gläubigen werden weniger, kirchliche Einrichtungen müssen schließen: Krankenhäuser, Hospize und Schulen. Dies liegt auch an der fehlenden staatlichen Unterstützung, die nicht jenen Richtlinien entspricht, die 1923 in Lausanne festgelegt wurden.
In dieser Minderheitensituation hat die katholische Kirche in der Türkei folgende Kontur behalten: Erzdiözese Izmir, Apostolische Vikariate Istanbul und Anatolien mit Sitz in Iskenderun (alle drei lateinischer Ritus); Armenisch-Katholische Kirche (eine Erzdiözese); Chaldäische Kirche (Erzdiözese Amida); Syrisch-Katholische Kirche (Patriarchal-Vikariat). Außer den Bischöfen von Izmir und Anatolien residieren alle in Istanbul.
Die Gläubigen im 480.000 Quadratkilometer großen Apostolischen Vikariat Anatolien leben zum großen Teil im Süden, in den Pfarreien Mersin, Adana, Iskenderun und Antiochia. In einer Mietwohnung in Tarsus leben drei Schwestern, zur Betreuung von Pilgern für die einzige Kirche, die mittlerweile ein Museum ist, für das man Eintritt bezahlen muss. Auch die Grotte des heiligen Petrus wurde in ein Museum umgewandelt, obgleich sie dem Heiligen Stuhl gehört; wer sie besuchen will, muss Eintritt zahlen.
Eine Mietwohnung gibt es auch in Sanliurfa, dem antiken Edessa, nahe bei Haran. Bei dem See Lan lebt eine italienische Familie, die für das Vikariat arbeitet und den Dialog durch ihr Leben mit den Moslems bezeugt, vor allem mit den Kurden, aber auch mit den verfolgten Iranern und der christlichen Minderheit.
Die Situation der Christengemeinden in Anatolien hat zu tun mit dem Vertrag von Lausanne, von den europäischen Mächten am 24. Juli 1923 unterzeichnet. Unter „Schutz der Minderheiten“ (Artikel 37-45) verpflichtete sich die türkische Republik, „allen Bewohnern der Türkei ohne Ansehen von Herkunft, Nationalität. Sprache, Rasse oder Religion umfassenden Schutz des Lebens und der Freiheit zu garantieren“ (Art 38, Abs.1). Sie garantiert „allen Bewohnern der Türkei…ohne Unterschied aufgrund von Religion“ Gleichheit vor dem Gesetz (Art.39 Abs. 2). Sie sichert zu, dass „türkische Staatsangehörige, die nicht-muslimischen Minderheiten angehören…vor dem Recht und in der Praxis die gleiche Behandlung und Sicherheit erfahren wie die anderen türkischen Staatsbürger“ (Art.40 Satz 1). Außerdem verpflichtet sie sich, „den Kirchen, Synagogen, Friedhöfen und anderen religiösen Institutionen der nicht-muslimischen Minderheiten vollen Schutz zu garantieren“ (Art.42 Abs.3, Satz 1).
Nach enger türkischer Auslegung meint der Vertrag von Lausanne hier mit ‚Minderheiten’ lediglich die armenischen, bulgarischen, griechischen und hebräischen Gemeinden. Die Arabisch sprechenden Christen, die unierten, die syrisch-orthodoxen und jene des lateinischen Ritus – sie alle waren 1923 in der Türkei vertreten – werden im Sinne des Vertrags von Lausanne (nach dem Verständnis der türkischen Behörden) nicht als Minderheiten anerkannt und sind somit ohne Rechtsstatus.
Rechtlicher Status fehlt. Kein Anspruch auf jurisdiktionelle Körperschaft - die Folgen für uns Christen sind gravierend: Orden und Kongregationen haben kein Recht darauf, Güter zu besitzen, zu kaufen oder zu unterhalten. Den Kirchen ist untersagt, Orte für den Gottesdienst zu errichten, konfessionelle Schulen oder gar Priesterseminare zu gründen. 1971 wurden alle privaten Universitäten und Schulen verstaatlicht. Die theologische orthodoxe Fakultät von Halki wurde geschlossen, später das kleine Seminar der Kapuziner in Mersin.
Aufgrund des türkischen Arbeitsrechts müssen wir Bischöfe und Ordensleute unser Visum jährlich erneuern, während das Visum eines ‚normalen’ europäischen Bürgers nur alle drei oder fünf Jahre abläuft.
Diskriminierung. Die Presse weckt Misstrauen gegen die Christen und eifert gegen einen christlichen Proselytismus (Abwerben von Gläubigen aus anderen Kirchen, Anm. d. Red.), der letztlich nur einige Gruppierungen betrifft. Ich denke, dies entspringt nicht der Angst vor einer Christianisierung der Türkei, sondern dient der eigenen Identitätsfindung, indem man sich mehr oder minder klare Feindbilder schafft.
Die Laizität des türkischen Staates, von Kemal Atatürk behauptet, und seine Neutralität gegenüber den Religionen sind noch nicht voll umgesetzt. Die Kirche muss als rechtliche Körperschaft anerkannt werden: Rückgabe der konfiszierten Güter, Tilgung der religiösen Zugehörigkeit im Ausweis und eine effektive Anerkennung der Minderheitenrechte, nicht nur der Christen, sind notwendig. Man denke nur an die Aleviten, die 15 bis 20 Prozent der türkischen Bevölkerung ausmachen und dennoch diskriminiert werden. Jeder kann ein guter türkischer Bürger sein, unabhängig von seiner religiösen Ausrichtung, egal ob Christ, Moslem, Sunnit oder Alevit.
Es reicht nicht, die Gesetzgebung zu ändern, sondern Vorurteile gegenüber Europa müssen ausgeräumt werden – so wie in Europa die Vorurteile gegenüber der Türkei. Nach meiner Meinung kennen beide Seiten zu wenig voneinander. Zudem wurde und wird Religion vom Staat instrumentalisiert, um politische und ethnische Ziele durchzusetzen.
Ein Bischof in der Türkei, was kann er zuwege bringen? Vordringlich hat er die Rechte der katholischen Gemeinde zu schützen. Ein fruchtbares Feld liegt im Dialog mit der türkischen Kulturwelt. Schon seit Jahren veranstalte ich – früher als Dekan der Päpstlichen Universität Antonianum zu Rom – mit türkischen Professoren Symposien über den heiligen Johannes und den heiligen Paulus in Ephesus und in Tarsus. Seit zwei Jahren werden diese Symposien in Zusammenarbeit mit der Universität Mustafa Kemal in Antiochia gestaltet.
Die Kontakte mit der orthodoxen Welt gehen im Süden, wo ich auch lebe, über eine formale Höflichkeit hinaus. Die Katholiken von Antiochia feiern das Osterfest gemeinsam mit den Orthodoxen. Wo orthodoxe, katholische, armenische, melchitische, maronitische, chaldäische und syrisch-orthodoxe Christen untereinander heiraten, kann die Trennung nicht mehr einseitig abgesteckt werden.
Einige islamische Familien wechselten im vorigen Jahrhundert ihren christlichen Glauben, nicht aus Überzeugung, sondern um der Diskriminierung zu entgehen. Die Erinnerung an die Ursprünge hat einige dazu bewegt, sich aufgrund der Erzählungen der Großväter für die Taufe anzumelden. Im Osten und Norden der Türkei leben Tausende von Kryptochristen. Man kann darauf hoffen, dass eine soziale und politische Veränderung zugleich zu einem Wiederaufleben des Christentums führt.
Hoffnungsvoll. Pessimistisch bin ich nicht gegenüber der türkischen Situation. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Man wird dieses Land lieben, sobald man dorthin reist und erlebt, wie sich die Türen für einen öffnen. Misstrauen erwächst aus mangelndem Kontakt und aus Angst vor dem Anderen. Bei allen nationalistischen Neigungen, die es wohl gibt, muss ich frei heraus anerkennen: Die Türken sind ein sehr gastfreundliches Volk. Sie haben ein Gespür für wahre Freundschaft. Mit Wohlwollen haben sie mich aufgenommen. Zum Tod von Papst Johannes Paul II. haben mir viele ihre Mittrauer bekundet, nicht nur aus Höflichkeit, sondern als Ausdruck wahrer Geschwisterlichkeit.