Krankheit wird zur Chance

31. Mai 2006


Vertraut sind uns die Wechselwirkungen zwischen Leib und Seele. Der Leib sendet Signale aus. Wir können lernen, diese „Körpersprache“ zu entschlüsseln. Auch die Seele wirkt in den Leib hinein, über ihre Stimmungen, Erlebnisse und Verwundungen. Schwere Krankheit und körperliches Leiden fordern uns existentiell heraus. Sie verändern unser Leben, auch unsere Einstellung zum Leben. Hier berühren wir die Gottesfrage.

Viele körperliche Krankheiten werden durch seelische Ursachen hervorgerufen. Wer nicht gelernt hat, mit Enttäuschungen und Ärger umzugehen, und diese über längere Zeit mit sich herumträgt, wird krank. Es besteht eine körperlich-seelische Wechselwirkung. Die Seele wirkt über den Leib, der Leib über die Seele. Seelische Belastungen wirken sich im körperlichen Bereich aus und körperliche Belastungen können zu psychischen Leiden führen.

Körpersprache. Unser Leib sendet verschlüsselte Signale aus und zeigt damit an, dass etwas nicht in Ordnung ist. Manchmal  ist schwer zu verstehen und zu analysieren, was sich hinter diesen Nachrichten versteckt, die etwas über unseren Seelenzustand aussagen. Manche Redewendungen können uns als Schlüssel dienen für diese „Organsprache“.
Ein Zustand, den wir umgangssprachlich so ausdrücken: „Ich habe Wut im Bauch“, „ich bin sauer“, „mir läuft die Galle über“, „ich platze“, meint dann, dass ich Ärger habe und ihn nicht loswerde. Als Folge davon produziert mein Magen zuviel Magensäure, ich vertrage keine Nahrung, bekomme Sodbrennen, und auf Dauer Magengeschwüre. Ein ähnliches Muster gilt für „mir läuft die Galle über“.
Asthma wird zwar häufig durch Allergien ausgelöst, aber es kann auch seelische Ursachen haben. Die schwere Atemnot deutet auf Enge und Angst hin. Kann es sein, dass ein starker Mensch in meiner Umgebung mir sozusagen die Luft zum Atmen nimmt? Einem anderen „sitzt jemand im Nacken“. Wieder ein anderer hat ein chronisches Hüsteln; ein unbewusster andauernder Protest: „Am liebsten würde ich diesem unangenehmen Menschen etwas husten.“
Auch Brechreiz kann eine typische Protestform sein. Ich habe es bei einer Frau erlebt, die im Erwachsenenalter noch Schulbildung nachholte. Sie hat jeden Morgen vor Schulbeginn erbrochen: „Mir ist alles zum Kotzen“, „es hängt mir zum Hals heraus“. Hautprobleme wie Schuppenflechte, Ekzeme sind oft eine psychische Überreaktion und Übersensibilität. Man möchte die gewohnten Grenzen sprengen und aus der Haut fahren.
Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Jeder Mensch hat ein Recht auf Selbstentfaltung und Selbstbewusstsein. Wird es nicht in Anspruch genommen oder zum Ausdruck gebracht, verkümmert das „Ich“, der Mensch wird krank. Es treten psychische Störungen oder gar körperliche Erkrankungen auf, manchmal auch erst, wenn die Krise bereits überwunden ist.

Krankheit als Chance. Nur wenige Dinge sind es, die Seele, Psyche, Geist und Körper brauchen, um in Harmonie zu sein. Es gilt, sie individuell zu entdecken.
Krankheit erleben wir als unliebsame Störung unserer Gesundheit, die wir möglichst schnell beheben wollen. Doch wenn wir die Krankheit nicht wahrhaben wollen, nicht annehmen, wird sie zu unserem unerbittlichen Feind. Sie zeigt uns unsere Anfälligkeit, unsere Begrenztheit, ja unsere Sterblichkeit in aller Deutlichkeit auf.
Krankheit ist ein Abweichen von der Harmonie. Der Mensch gerät ins Ungleichgewicht.
Für den Christen ist Krankheit eine Folge der Erbsünde; Krankheit erinnert ihn daran, dass er als Mensch sündig, schuldig, nicht-heil ist.
Wenn der Körper krank wird, macht er das deutlich durch schmerzende Symptome. Sie zeigen an, dass physiologische Abläufe gestört sind. Anfangs sind wir für diese Symptome blind; wir verharmlosen oder ignorieren sie, suchen irgendwelche banalen Erklärungen. Durch ihre Hartnäckigkeit zwingen uns Krankheitssymptome förmlich zur Ehrlichkeit. Sie weisen auf den ernsthaften Hintergrund hin. Die Regelmäßigkeit unseres bisherigen Lebens wird abrupt unterbrochen, unser Leben wird in Frage gestellt.

Krankheit als Wahrheit. Dem Menschen werden eine ganze Reihe von Illusionen und Täuschungen genommen, bis er bereit ist für die Wahrheit. Er wird Schritt für Schritt dahin geführt, dass er die „Wahrheit Krankheit“ ertragen kann. Die Krankheit kann Wendepunkt zum Heil sein. In dieser Situation lernt der Mensch neue Hoffnungen und Hilfen für seinen Heilsweg. Der Weg des Menschen führt vom Unheil ins Heil, aus der Krankheit zur Heilung, ja zur Heiligung. Krankheit wird zum Weg, auf dem der Mensch seinem Heil entgegengeht, freilich nur, wenn er die Krankheit annimmt.
Der Kranke muss in sich hineinhorchen und lauschen, was seine Krankheit ihm zu sagen hat. Er muss sich mit sich selbst auseinandersetzen, muss hinterfragen, was zu dieser Krankheit führte, muss mit sich und Gott den Frieden finden. Dieser Weg ist ein schmerzhafter Prozess. Er lässt den Menschen reifen und zu seiner Bestimmung finden. Die Vollendung gipfelt dann in der Möglichkeit, dem eigenen Erleiden eine spirituelle Bedeutung zu geben, in der Verbindung mit dem Leiden Christi. Wer das „Glück“ habt, solche Kranke zu erleben, wird mit dieser Begegnung reich beschenkt und bekommt eine Ahnung vom „Jenseits“.
In diesem Zusammenhang denke ich an Karin, 52 Jahre. Frühjahr 2004 Diagnose Pankreaskrebs, Tumor 9 Zentimeter groß, Metastasen in der Blase. Bestrahlungen, sechs Wochen täglich Chemotherapie, abgemagert auf 42 Kilogramm - ein Leidensweg. Die Ärzte geben ihr eine Lebenserwartung bis Januar 2005. Vor wenigen Tagen sagte sie mir: „Schau, jetzt war wieder Januar, und ich lebe immer noch!“ Karin hat sich mit der Krankheit ausgesöhnt, obwohl sie weiß, dass ihre Lebenserwartung sehr begrenzt ist. Sie sieht jeden Tag als ein besonderes Geschenk und dankt Gott. Mit ihrem Mann verbindet sie eine starke Liebe, und diese Liebe ist in Gott verankert. Das trägt. Ärzte sprechen von Wunder.

Leid-Erfahrung. Ein Christ, der wirklich aus dem Glauben lebt, so meinen viele, müsse ein froher Christ sein. Wenn das stimmt, dann ist nur die Erfahrung der Osterfreude eine echte reife Glaubenserfahrung. Aber wie ist es dann mit der Leid–Erfahrung? Hans Urs von Balthasar schreibt, dass die Vorstellung, „eine wahre vollkommene Seele müsste in einer Ekstase der Liebe sterben“, falsch ist. „Nie hat ein Christ das Kreuz hinter sich; nie kann er wissen, ob Gott ihn nicht in die dunkle Nacht zurücktauchen will. Das sprechendste Bild der kleinen Therese ist der Spielball, den der Mensch für das Jesuskind sein möchte, den es werfen, ans Herz drücken, aber auch durchlöchern oder ganz einfach liegen lassen kann.“
Natürlich gefallen uns die „frohen“ Heiligen wie Philip Neri oder Don Bosco besonders gut. Es wäre jedoch einseitig und unrealistisch, diese Art von Heiligen zum Inbegriff christlicher Heiligkeit und Glaubwürdigkeit zu machen. Man hat zum Beispiel den heiligen Franziskus geradezu zurechtgebogen und verfälscht, als man ihn zum Bruder Immerfroh hochstilisierte. Natürlich kennt Franziskus die Freude und predigt die Freude; trotzdem durchlebte er tiefe Anfechtungen und Zeiten großer Dunkelheit, gerade in den letzten Jahren seines Lebens.
Eine Freude bei einem Menschen, die allen sichtbar ist und alle ansteckt, ist eine Gnadengabe Gottes. Tatsächlich gibt es diese Menschen, aber Jesus hat auch solche unter seinen Jüngern, die trauern und weinen. Leid kann Ausdruck einer Berufung sein zum Mit-Leiden an der Not der Unvollkommenheit der Welt. Gott kann einen Menschen, der sich restlos ausliefert, in einen Abgrund von Leid und Not stürzen. In solchen Situationen werden alle Worte von der Glaubensfreude als „Sprüche“ empfunden. Sie werden die Not eines Menschen eher noch steigern, weil ihm ein schlechtes Gewissen erweckt wird und Zweifel gesät werden, ob sein Glaube echt ist.

Christliches Mitleiden. In der geistlichen Entwicklung eines Christen kann in der Frühzeit die Freude vorherrschen. Je tiefer er sich aber auf die Nachfolge Jesu Christi einlässt, desto mehr kann das Kreuz auf ihm lasten. Einerseits kann die Erfahrung des Dunklen und Schweren im Leben eines Christen das Mittel und die Phase der Läuterung und Reinigung sein und zur persönlichen Erfahrung von Licht und Freude führen. Andererseits kann das Leid die Teilhabe am Leiden Christi, das Hineingenommensein in das Leiden des Herrn bedeuten. Dieses Leiden Jesu setzt sich in seinen Gliedern bis zum Ende der Geschichte fort. Christliches Wachstum und Vollendung im irdischen Leben bestehen nicht darin, ein für allemal durch das Leiden „durch“ zu sein und darüber zu stehen. Gerade der „Vollkommene“ wird immer wieder mit Christus mit ins Leid hineingeschickt.

Glaubenswachstum. Wer im Glauben wächst, erhält eine stärkere Sensibilität. Die Heiligen bezeugen, dass ihnen unendliche Räume der Freude erschlossen wurden; aber sie leiden auch am intensivsten an sich und an der Unerlöstheit der Welt. Es gibt keinen Grund, dass sich die Waagschale besonders stark auf die Seite der Freude neigen muss. Auch die Einsicht in den Abgrund der Bosheit und der Gottwidrigkeit wächst. Darunter leidet der Christ.
Christliche Freude wird oft missverstanden. Gerade was von Freikirchen und Sekten aufgezeigt wird, ist oft oberflächlich und irreführend. Was heute als frisch-fromm–fröhlich-freies Christentum angeboten wird, wo man mit Musik emotional anheizt, die Liebe Jesu preist und „Halleluja“ singt, ist nicht jeder Situation angemessen. Ist die Frau, die ihr Krebsleiden im Glauben tapfer und unauffällig trägt, keine gute Christin? Ist ihr Glaube nicht weit solider als derjenige ihrer „glaubensfrohen“ Mitmenschen, denen die Fähigkeit zu tieferen Empfindungen abgeht? 

Es gibt verschiedene Versuche, auf diese schwierige Frage zu antworten. Eine traditionelle Antwort lautet: Gott lässt uns Menschen leiden, um uns zu prüfen und um uns reifen zu lassen. Man sagt: Leid ist die notwendige Situation, in der der Mensch zu Geduld, Hoffnung, zur Christus–Förmigkeit, zur Weisheit heranreifen kann. Diese Antwort trägt sicher eine große Wahrheit in sich. Deshalb gilt: Lebe so, dass das dir und deiner Umgebung auferlegte Leid dir deine tiefste Berührung zu Gott nicht zerstört und zur Verzweiflung führt, sondern dich vollende – auch wenn dieser Reifungsprozess durch alle Abgründe des Lebens und Todes mit Jesus führen sollte.
Doch damit ist unsere Frage nicht beantwortet. Was sollen wir sagen von den vielen Kindern, die in den kriegerischen Auseinandersetzungen dieser Welt umkommen? Sie machen dadurch keinen menschlichen Reifungsprozess durch. Es gibt unzählige Fälle von Leid, das bei allem guten Willen, es menschlich und christlich zu bestehen, zerstörerisch wirkt und den Menschen einfach überfordert. Die schrecklichsten Leiden haben keine pädagogische Wirkung; sie sind Grausamkeiten der Natur, die unsere moralischen Möglichkeiten weit übersteigen.

Unbegreiflicher Gott. Der christliche Glaube bekennt, dass Gott ein unbegreifliches Geheimnis ist. Der Schriftsteller Walter Dirks erzählt von seinem Besuch bei dem schon todkranken berühmten Theologen Romano Guardini. Dieser vertraute ihm an, er wolle beim Letzten Gericht Gott eine Frage stellen, die ihm kein Buch, auch die Heilige Schrift nicht, die ihm kein Dogma und kein Lehramt und die ihm auch die eigene Theologie nicht habe beantworten können: Warum geht Gott zum Heil die fürchterlichen Umwege; warum gibt es das Leid der Unschuldigen und die Schuld?
Unser Fragen kann offensichtlich erst in der Ewigkeit beantwortet werden. Die wahre Antwort ist allein der unbegreifliche Gott in seiner Freiheit. Wer der Liebe Gottes nicht gläubig vertraut, dem bleibt nur die nackte Verzweiflung über die Absurdität des Leidens.
Der Christ versucht, sich in liebendem Schweigen der Unbegreiflichkeit Gottes zu übergeben. Woher nimmt er dazu die Kraft, in der Dunkelheit seines Leidens? Es ist eine Gnade, ein Geschenk, wenn wir mit Jesus beten können: „Vater, in Deine Hände empfehle ich meinen Geist.“
          

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016