Ohne Abschied kein Aufbruch

20. Februar 2009 | von

 Leben ist Veränderung – und damit immer wieder mit Abschieden verbunden. Der Abschluss wichtiger Abschnitte löst häufig frohe Erwartung aus auf das, was kommen mag. Oft aber geht er auch mit Trauer und Schmerz einher – am eindringlichsten beim Abschied von einem Sterbenden. Die meisten „Adieus" unseres Lebens geschehen eher unspektakulär, alltäglich. Wie erneuernd das Loslassen von bisher Gewohntem sein kann, erfahren Menschen bewusst in der Fastenzeit.



Haben Sie sich auch einiges für die Fastenzeit vorgenommen? Weniger Alkohol und dafür mehr Bewegung? Weniger essen, entschlacken, die Seele frei machen und ganz nebenbei noch die paar Kilogramm, die man zu viel auf die Waage bringt, loswerden? Die Fastenzeit ist für viele Menschen eine gute Gelegenheit, sich von „schlechten“ Gewohnheiten zu verabschieden, um einen neuen Anfang zu machen – für sich selbst, in der Beziehung zu anderen, in der Beziehung zu Gott. Solche Fastenvorsätze durchzuhalten, obwohl sie durchaus ernst gemeint sind, fällt uns oft nicht leicht. Aber im

Innersten wissen wir doch alle: Etwas Neues kann nur wachsen, wenn wir uns von alten Hindernissen verabschieden, wenn wir unseren seelischen „Sperrmüll“ entsorgen.

Abschiede gehören nicht nur zur Fastenzeit. Sie spielen für unser ganzes Leben eine große Rolle. Doch gerade in den bewussten und gewollten Abschieden der Fastenzeit zeigt sich etwas von ihrer positiven Seite. Endlich Schluss mit der Schule, endlich die Ausbildung geschafft, das Studium beendet – solche Abschiede, lang herbeigesehnt, werden fröhlich gefeiert. Gerade junge Menschen erleben den Abschluss eines Abschnitts oft mit Begeisterung, scheint doch das Leben danach verheißungsvoll und mit neuem Schwung erfüllt. So ist auch der Auszug aus dem Elternhaus für sie selten problematisch: Ihr Blick ist nach vorne gewandt, und sie erkennen sehr richtig, dass Neues nur wachsen kann, wenn man anderes, Vergangenes auch hinter sich lassen kann.

Doch natürlich erleben auch schon junge Menschen die Schwierigkeiten, die solche Einschnitte ebenso zwangsläufig mit sich bringen können. Wer erinnerte sich nicht, mit welcher Wehmut er das erste ersparte eigene Moped oder Auto dann irgendwann doch dem Schrotthändler überlassen musste? Wer wüsste nicht um den Schmerz nach dem Ende der ersten Liebe, die sich doch nicht als so dauerhaft erwies, wie erträumt? Jeder kann sich wohl vorstellen, wie schmerzhaft es auch für Kinder sein muss, ihren Heimatort und ihre Schulfreunde zu verlassen, weil die Eltern sich beruflich neu orientieren müssen.


Ambivalent und alltäglich

Abschiednehmen ist ein komplexes Geschehen und kann viele unterschiedliche Gefühle hervorrufen. Wut und Ärger, gerade wenn man unfreiwillig und ungefragt Abschied nehmen muss. Angst und Sorge, wenn das Neue noch unbekannt und völlig unsicher vor dem Menschen liegt. Trauer und Tränen, wenn der Abschied innerlich noch nicht mitgegangen werden kann. Erleichterung und Freude, wenn er, wie in den ersten Beispielen, lang herbeigesehnt wurde. Oftmals werden die Menschen von allen möglichen Gefühlen geradezu gleichzeitig durchgeschüttelt. War man eben noch voller Sorge, so überwiegt jetzt die Hoffnung, fließen gerade noch zahlreiche Tränen, könnte man im nächsten Augenblick wütend um sich schlagen.

Abschiede sind wohl so ambivalent und so reich an Erfahrungen wie das ganze menschliche Leben. Wenn wir von Abschied sprechen, sind wir es zumeist gewohnt, auf die großen „Adieus“ zu blicken: auf Eheschließung oder Scheidung, auf den Umzug in eine andere Stadt, auf den Verlust des Arbeitsplatzes, auf den Eintritt ins Rentenalter oder das Sterben von Freunden und Angehörigen. Doch Abschiede kommen viel häufiger vor, täglich, ja sind geradezu alltäglich. Wir verabschieden uns, wenn wir morgens zur Arbeit gehen, wir sagen hunderte Male „Auf Wiederhören“, wenn wir telefonieren, wir fahren in Urlaub, die Poststelle um die Ecke wird geschlossen und so weiter. Jeder und jede von uns ist jeden Tag konfrontiert mit dem Abschiednehmen, nur meist in einer so banalen Form, dass wir es kaum wahrnehmen. Wie oft schließen wir ab ­– sei es nun freiwillig oder erzwungen – mit Vorstellungen, Hoffnungen und Sehnsüchten. Aus den Urlaubs-

plänen wird nichts, meinen Traumberuf habe ich irgendwie nie angefangen, meine politischen Ansichten verändern sich, und was früher so wichtig war, scheint heute eher belanglos. Solche Abschiede fallen uns manchmal gar nicht mehr auf, sie machen einfach das Leben aus. Veränderung – und nichts anderes ist Abschied – ist Leben, und umgekehrt gilt: Leben ist immer Veränderung.

In einer seiner berühmten Geschichten von Herrn K. drückt Bertold Brecht diese Tatsache so aus: „Ein Mann, der Herr K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ‚Sie haben sich gar nicht verändert.’ ‚Oh’, sagte Herr K. und erbleichte.“

Was oftmals als Kompliment gesagt wird, kann man durchaus auch anders auffassen. Sich seit Jahr und Tag nicht verändert zu haben, ohne Falten und graue Haare zu sein, das muss den Hörer solcher Worte vielleicht nicht unbedingt erbleichen, aber kann ihn doch zumindest nachdenklich werden lassen. Es könnten auch Anzeichen dafür sein, dass sein Leben eher Stillstand war, vielleicht hat er nichts an sich herankommen lassen, keine Freude und kein Leid, vielleicht sich kaum noch weiterentwickelt. In einer Welt jedoch, in der immerwährende Jugendlichkeit und Faltenlosigkeit gepriesen werden, mag die kurze Geschichte von Bertold Brecht eher trösten. Aber Gott sei Dank finden sich heute auch immer mehr Menschen, die ihre Falten nicht verstecken wollen, weil sie, wie sie sagen „für sie viel zu viel geweint und gelacht haben“. Die Zeichen der Vergänglichkeit – viel zu kostbar, um sie zu verleugnen.


Unbeständigkeit als Norm?

So sehr unsere Zeit am liebsten ewige Jugend propagieren würde, so wenig hält sie sonst von Beständigkeit. Die Flexibilität und die Mobilität, die die heutige Gesellschaft ihren Mitgliedern abverlangen, sind extrem hoch. Hier studieren, dort ein Auslandssemester, den Doktorhut an einer amerikanischen Universität erlangen, um dann irgendwo im alten Europa eine Stelle finden, aber Achtung: nur nicht zu lange dort verweilen, weil sich das im Lebenslauf auch nicht gerade gut macht. Und wenn dann die Familie gegründet ist, beruhigt sich der dauernde Umzug und Aufbruch für viele Jungakademiker – und mittlerweile nicht nur für sie – noch lange nicht. Eine Gesellschaft, in der man inzwischen von einer „individualisierten Völkerwanderung“ spricht, scheint sich damit selbst in Atem zu halten und die Unbeständigkeit zur Norm zu machen. Doch wenn Abschiede – so oder so – zum menschlichen Leben gehören, was wäre daran zu kritisieren?

Aber das moderne Nomadentum dieser „Dauer-Umzieher“ hat einen entscheidenden Haken: Um gut Abschied nehmen zu können, muss man zuvor angekommen sein. Es bedarf einer Beziehung, sei es ein Heimatgefühl oder auch nur negativ das sich Nicht-Wohl-Fühlen an einem Ort, in einer Gegend, um Adieu sagen zu können. So erzeugen diese erzwungenen permanenten Abschiede häufig nur Beziehungslosigkeit. Weder Freund noch Feind säumen den Weg der Menschen, allenfalls eine Aneinanderreihung von Bekannten, deren Namen schon kurze Zeit später vergessen sind.

Wirkliche Abschiede, die sehen anders aus. Oftmals gestalten Menschen sie in ganz besonderer Weise, mit Ritualen, mit Erinnerungsstücken, mit Momenten, die ganz gefüllt und erfüllt sind von dem, von dem es sich zu verabschieden gilt. Auch hier begleiten den Menschen oft unbewusst die kleinen Alltagsrituale, die jedem vertraut sind: das Winken an der Tür, das kurze Segenszeichen, wenn die Kinder in die Schule gehen, der Kuss zum Abschied. Ein letzter Gang durch die Wohnung – vielleicht bewusst alleine getan mit den Erinnerungen an Vergangenes; ein Liebesbrief, der verbrannt wird, damit die verratene Liebe endgültig beerdigt werden kann, oder genau entgegengesetzt, das Album, das geschmückt wird mit den Erinnerungsstücken, Bildern und Zeichen einer vergangenen glücklichen Zeit. Der Phantasie für solche „Rituale“ sind keine Grenzen gesetzt, und auch wenn sie im strengen Sinne keine Rituale sind, da sie keine Allgemeingültigkeit besitzen, so erfüllen sie doch deren Zweck. Sie geben den Menschen Sicherheit, sie machen fassbar, ja anfassbar, was sonst unfassbar umgibt oder beeinträchtigt.


Angesichts des Todes

Auch die Rituale, die die Menschen im Laufe der Zeit entwickelt haben, um sich von Sterbenden oder Toten zu verabschieden, sind ein wichtiges Geschehen, um mit der Trauer des Abschieds umzugehen. So unterschiedlich sich die Riten in den verschiedenen Kulturen auch äußern, allen gemeinsam ist doch die Tatsache, dass Menschen im Angesicht des Todes äußere ritualisierte Formen brauchen. Der Tod als der letzte große Abschied, in dessen Gegenwart alle anderen menschlichen Abschiede sich sozusagen noch einmal zusammenfassen, sich sammeln zu der entscheidenden Frage nach dem „Woher und Wohin“ des Menschen. Wachsen und Werden, Stillstand und Veränderung, Abschied und Wiedersehen, im Tod stellt sich wohl die Frage nach der Sinnhaftigkeit all dieser Erfahrungen, die wir auch Leben nennen.

Schon im Mittelalter hatte sich auch im Deutschen das französische Wort „Adieu“ als Abschiedsgruß eingebürgt. In seinen mundartlichen Abwandlungen fand es während der napoleonischen Ära als „Ade“ im Süddeutschen Raum oder als „Tschö“ oder „Tschüß“ (entstanden aus dem gesprochenen „Adschö“) nördlich der Mainlinie endgültig seinen Platz im Wortschatz der Deutschen. Dieser Abschiedsgruß „à Dieu“, übersetzt „bei Gott“ beziehungsweise „Gott befohlen“ bedeutend, drückt sehr schön die Vorstellung aus, dass jedes Leben in Gottes Händen liegt. Freilich ist dem heutigen „Tschüß“-Rufer der zugrunde liegende Wunsch kaum bewusst: Gott möge den Menschen auf seinen weiteren Wegen bewahren. Ende des 19. Jahrhunderts gab es dann im Zuge antifranzösischer Haltungen die Bestrebung, das französische „Adieu“ durch das deutsche „Auf Wiedersehen“ zu ersetzen, das als Formel den Abschied eher als etwas Vorübergehendes ausdrückt.

Wenn Menschen sich von einem Sterbenden verabschieden, werden die meisten wohl andere, persönlichere Worte des Abschieds finden, und doch drückt sich auch in ihnen, ähnlich wie in den Abschiedsformeln, wohl etwas von ihrer Lebenshaltung aus. Ist der Tod die vorübergehende Trennung von einem geliebten Menschen, den ich wieder zu sehen erhoffe? Oder spreche ich mein „Lebewohl“ im Grunde merkwürdig verdreht ins Nichts des Todes?


Gott fängt auf

Die Offenheit menschlicher Existenz, die sich gerade in den Abschieden zeigt, ist christlich gesehen eine Offenheit mit „gutem Ausgang“. Jesus selbst durchlebt und durchleidet Abschiede in seinem Leben wie alle Menschen. So muss er sich ebenso wie alle anderen von seinem Elternhaus trennen, er durchwandert Galiläa und wird ungezählte Male Abschied genommen haben. Im Laufe seines Lebens muss er sich auch von verschiedenen Vorstellungen verabschieden, so zum Beispiel, nur zum Volk Israel gesandt zu sein, oder von seiner Hoffnung, sein Volk würde in der Mehrzahl seine Botschaft annehmen. In den so genannten Abschiedsreden Jesu, die der Verfasser des Johannesevangeliums wie einen theologischen Vortrag gestaltet hat, finden sich viele wichtige Aspekte des Abschieds Jesu: Jesu Weggang und Vorausgang zum Vater, die Notwendigkeit der Trennung, die Trauer der Jünger darüber, das Wiedersehen. Wie ein Verständnisschlüssel für das Leben und Sterben Jesu ist dieser Text zugleich Hoffnungstext für die christlichen Gemeinden: Jesu Abschied kündigt zugleich seine Wiederkehr an, alle Trauer wird aufgehoben sein in der Freude des Wiedersehens. Vielleicht fällt von daher auch Licht auf eine Stelle im Lukasevangelium, in der es um die Nachfolgefrage geht: „Wieder ein anderer sagte: Ich will dir nachfolgen, Herr. Zuvor aber lass mich von meiner Familie Abschied nehmen. Jesus erwiderte ihm: Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes“ (Lk 9,61-62).

In unseren Ohren mag die Anweisung Jesu, nicht zurückzublicken, befremdlich klingen. Doch „wer die Hand an den Pflug gelegt hat“, wer also schon mitten in der Erwartung Gottes steht, der hat seinen Abschied schon hinter sich und kann voller Freude Gottes Zukunft erwarten. Er kann loslassen, das sorgenvolle Grübeln abstellen, denn er weiß: Der Herr ist da, um ihn aufzufangen und ihn in die Arme zu nehmen, immer wieder, wenn er auf dem Weg seines Lebens strauchelt – und wenn er dessen Ende erreicht hat.


 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016