Licht schenken in dunkelsten Zeiten

01. Januar 1900 | von

Als die Sonne unterging, brachten die Leute ihre Kranken, die alle möglichen Leiden hatten, zu Jesus. Er legte jedem Kranken die Hände auf und heilte alle (Lk 4, 40).

Vorurteile, Neugier, Angst. Die Sonne ist gerade aufgegangen, als ich meinen ersten Arbeitstag in der Landesklinik beginne. Ambivalente Gefühle begleiten mich auf dem Weg dorthin: Neugier, Spannung, Angst. Psychiatrie – ein Wort, das in den vergangenen Wochen viel ausgelöst hat bei den Menschen, denen ich erzählt habe, dass ich dort als Seelsorgerin arbeiten will. Da wirst du nur selbst verrückt, Das hält man doch nicht aus,... Alles Vorurteile, habe ich abgewiegelt, und nun erlebe ich, wie mich meine eigenen Phantasien einholen. Krankheiten, die die Persönlichkeit eines Menschen verändern, sie machen Angst, sie lassen erst einmal tief durchatmen. Der Anfahrtsweg zur Klinik erstaunt mich, denn die Klinik liegt eigentlich mitten im Ort. Aber sie ist so geschickt gebaut, dass man nur über einen einsamen Weg dorthin kommt, und niemand, der nicht die Klinik sucht, würde sich dorthin verirren. Ausgrenzung, das ist das erste Wort, das mir dazu einfällt. Meine Freunde und ich scheinen mit unseren Ängsten nicht alleine zu sein.

Ruhig gestellt. In der geschlossenen Abteilung treffe ich Frau M.. Sie sitzt völlig ruhig auf einem Stuhl im Aufenthaltsraum, merkwürdig ruhig, scheint mir. Und dann beginnt sie zu erzählen, von ihrem Versuch, sich das Leben zu nehmen. Von ihrem Sprung von einer Kölner Brücke in den Rhein und ihrer Rettung durch andere. Sie erzählt es so, als berichte sie von einem abendlichen Spaziergang, ohne jede äußere Regung, kein Aufgewühltsein ist erkennbar aber auch keine Erleichterung über ihre Rettung. Nur ihrer Mutter will sie nichts davon sagen, weil man das doch nicht tue – sie vermittelt den Eindruck, als habe man sie bei einem Kavaliersdelikt erwischt.
Die Medikamente stellen sie ruhig, erklärt mir mein Kollege, und wer weiß, vielleicht schützt sie die Verdrängung vor dem Zusammenbruch.

Zerstörtes Leben. Einen Raum weiter steht eine junge Frau am Fenster. Hübsch, mit langen schwarzen Haaren. Sie schaut uns Seelsorger an, die wir auf Rundgang sind – unterwegs, um einfach da zu sein und, wenn gewünscht, als Gesprächspartner zu dienen. Aber die junge Frau spricht nicht, sie schaut uns stumm an, und ein Blick in ihre Augen lässt meine Angst vom Anfang wieder hochkommen. Ihr Blick ist erloschen, jede Lebendigkeit aus den dunklen Augen verschwunden. Mein Kollege spricht dennoch mit ihr, ruhig und freundlich als seien sie alte Bekannte. Hinterher erfahre ich, dass die junge Frau schon seit einem Jahr in der Klinik ist. Als Kind wurde sie schwer von ihrem Vater missbraucht, die Psychose brach aus, als sie zwanzig Jahre alt war und hält sie seither gefangen. Aber gestern ist sie zum ersten Mal im Park der Klinik spazieren gegangen. Kleine Schritte, winzig kleine zurück ins Leben. Ich spüre Wut in mir hochsteigen angesichts dieses zerstörten Lebens einer jungen Frau und ich denke an den Täter, den ich gar nicht kenne.
Was ist normal? Ist er nur Täter oder selbst Opfer anderer Menschen? Aber was spielt das jetzt und hier für eine Rolle? Erbsünde – der Begriff ist auf einmal in meinen Gedanken – Schuldverstrickung der Menschen von Anbeginn, die Unerlöstheit der Welt und doch einer, der kam alle zu heilen...
Und was heißt hier schon verrückt? Ist diese Frau nicht sehr normal, wenn ihre Seele auf so viel Gewalt mit Kranksein reagiert? Verwirrt stelle ich fest, dass meine Grenzziehung zwischen normal und unnormal nicht mehr taugt. Sind wir Gesunden nicht die eigentlich Kranken, wenn wir trotz der himmelschreienden Gewalt in der Welt scheinbar tadellos weiterfunktionieren?

Licht in der Dunkelheit. Psychisch kranke Menschen zu besuchen, das heißt in erster Linie Menschen zu begegnen. Meine anfänglichen Phantasien und Ängste weichen sehr schnell: keine Horrorszenarien einer Medienwelt, keine Hollywood-gefälligen Monster, vor denen es sich in Sicherheit zu bringen gälte. Nur kranke und leidende Menschen, in ihrer Reaktion fremd und nicht immer verständlich, depressiv, manisch, schizophren oder einfach in einer anderen Welt lebend.
Die Heilungsquoten psychisch Kranker können in etwa gedrittelt werden: Ein Drittel wird geheilt, ein Drittel kann zeitweise geheilt werden und muss nur mit immer wieder auftretenden Schüben rechnen, ein Drittel bleibt chronisch krank. Heilung im strengen Sinne ist also nur bedingt möglich.
Wie kann dann Seelsorge dort heilend wirken, was ist ihre Aufgabe? Keine andere als an allen anderen Orten auch: Dasein, durch menschliche Zuwendung etwas von der Liebe Gottes vermitteln, auch in dunkelsten Zeiten menschlichen Lebens Licht geben. Den Menschen helfen, ihr Leben und ihre Krankheit anzunehmen, weil sie sich selbst, so wie sie sind, angenommen fühlen dürfen. Brücken bauen zwischen draußen und drinnen, den Blick der Gemeinden schärfen für psychisch Kranke in ihrer Mitte. Ängste bewusst machen und damit abbauen helfen, auch die Ängste der Gesunden um sich selbst. Schließlich kennen psychische Krankheiten keine sozialen Schranken, sie können jeden treffen und spiegeln uns in extremer Weise die Bedürftigkeit unseres eigenen Lebens.
Lebensfundament. So steht am Ende der Begegnung mit psychisch kranken Menschen auch die Frage nach dem eigenen Lebensfundament: Worauf stützt sich letztlich mein eigenes Leben?
Alles richtig machen, nur möglichst viel leisten, nur besonders gut sein - was auch immer oberster Lebensgrundsatz eines jeden von uns sein mag: Ich glaube, dass Leben mehr ist als das, was man messen und zählen kann...

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016